Bundesland und Reichsgau. Demokratie, „Ständestaat“ und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945, hg. v. Ableitinger, Alfred (= Geschichte der Steiermark 9/I, 9/II). 2 Teilbände. Böhlau, Wien 2015. 686 S., 570 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als im Jahr 2004 mit Band 10 „Vom Bundesland zur europäischen Region. Die Steiermark von 1945 bis heute“ noch unter der Gesamtleitung Othmar Pickls und der Herausgeberschaft Joseph F. Desputs der erste Band der im Auftrag der Historischen Landeskommission für Steiermark herausgegebenen, auf zehn Bände angelegten „Geschichte der Steiermark“ der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, wurde zugleich für das Jahr 2005 das Erscheinen des neunten Bandes, der unter dem Titel „Kronland, Bundesland, Reichsgau. Die Steiermark von 1918 bis 1945 zwischen Demokratie, Ständestaat und Fremddiktatur“ stehen sollte, verkündet. Mit dieser allzu optimistischen Einschätzung konnte die Realität nicht Schritt halten. Es sollte noch ein gutes Jahrzehnt vergehen, bis dieses Versprechen mit modifiziertem Titel, nunmehr verteilt auf zwei Teilbände und unter der Ägide Alfred Ableitingers tatsächlich eingelöst wurde.

 

Für die Steiermark waren die in Frage stehenden Jahre allein schon in territorialer Hinsicht ereignisreich. Mit dem Untergang der Habsburgermonarchie verband sich für das ehemalige Herzogtum mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain vom 10. September 1919 die Abtretung seiner beträchtlichen untersteirischen Gebiete an den neu erstandenen „Staat der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS; später Jugoslawien). Der am 13. März 1938 durch das „Wiedervereinigungsgesetz“ staatsrechtlich vollzogene Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich führte für die Steiermark zu weiteren territorialen Korrekturen: Mit dem 31. Mai 1938 verfügte Reichskommissar Josef Bürckel im Rahmen der Errichtung von sieben Parteigauen die Zuteilung des Gerichtsbezirks Aussee zum Gau Oberdonau (Oberösterreich), andererseits wurde die Steiermark um den südlichen Teil des aufgelösten Burgenlandes (Bezirke Oberwart, Güssing, Jennersdorf) vermehrt („Gebietsveränderungsgesetz“ vom 1. Oktober 1938, „Ostmarkgesetz“ vom 14. April 1939). Mit der Niederwerfung Jugoslawiens durch die deutsche Wehrmacht im April 1941 kehrte die ehemalige Untersteiermark zurück, ohne allerdings vollständig und völkerrechtlich abgesichert in die Verwaltung des nunmehrigen Reichsgaus Steiermark integriert zu werden. Gauleiter und Reichsstatthalter Sigfried Uiberreither nahm nun in Personalunion auch die Agenden eines „Chefs der Zivilverwaltung“ (CdZ) in der Untersteiermark wahr. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Status quo von Saint-Germain wieder hergestellt. Diese durchwegs erzwungenen territorialen Änderungen stellten nicht nur die Verwaltung vor Herausforderungen, sie rührten vor allem an Identitäten und Loyalitäten, indem sie etwa zunächst Deutschsteirer nötigten, zu Jugoslawen zu werden, und später Slowenen zu Deutschen. In dieser spezifischen Konstellation mag ein Substrat für die Schärfe liegen, die manche Entwicklung gerade auf steirischem Boden annehmen sollte und die beispielsweise mehreren Führern des „Steirischen Heimatschutzes“ unter dem Banner des Nationalsozialismus zu einer steilen Karriere verhalf.

 

Teilband I des vorliegenden Werks widmet sich im weiteren Sinne der politischen Geschichte der Steiermark in der Zwischenkriegszeit und während der nationalsozialistischen Herrschaft. Der mit stolzen 156 Seiten beeindruckende Leitaufsatz aus der Feder Alfred Ableitingers trägt den bezeichnenden Titel „Unentwegt Krise“ und gibt erstmalig eine konzise Zusammenschau der steirischen Landespolitik von 1918 bis 1933/1934 im größeren Kontext der bundesweiten Entwicklungen. Der Informationsgehalt und die Qualität dieses Beitrags, um den sich die Betrachtungen weiterer Autoren zum Thema „Bundesland“ gruppieren, lohnen allein bereits den Erwerb des Gesamtwerks. Dieter Binder handelt über die politische Kultur, Gernot Hasiba über Gesetzgebung und Verwaltung von 1918 bis 1933, Martin Polaschek führt unter „Statt ‚ständisch-autoritär‘ ständig autoritär“ das Thema bis 1938 weiter. Mit Martin Moll und Reinhard Reimann gehen zwei Verfasser auf das Schicksal der Untersteiermark ein, der Erstgenannte auf die Abtrennung des Gebiets und das Entstehen der neuen Grenze im Süden, der Letztgenannte auf die politischen Beziehungen der Steiermark zu Jugoslawien 1918 bis 1938. Inhaltlich hätte es Sinn gemacht, diese beiden Beiträge mit dem Irena Mavrič-Žižeks und Vincenc Rajšps, der die angegliederte Untersteiermark 1941 bis 1945 behandelt, unter Aufweichung des streng chronologischen Ordnungsrahmens räumlich zusammenzuführen und damit eine durchgehende Darstellung der Geschichte des untersteirischen Raumes von 1918 bis 1945 zu präsentieren. Zur steirischen Geschichte der Zwischenkriegszeit zählt auch der Einsatz der 160 männlichen und zwei weiblichen Steirer, die im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 die republikanischen Truppen unterstützten und deren Einsatz Heimo Halbrainer kurz würdigt.

 

Derselbe Verfasser kommt auch gleich zu Beginn der zweiten Hälfte des ersten Teilbandes zu Wort, welche die Geschichte der Steiermark während der nationalsozialistischen Periode zum Gegenstand hat. Sein Beitrag vermittelt einleitend einen allgemeinen Überblick über Struktur und Integration der nationalsozialistischen Herrschaft in der Steiermark sowie über die Maßnahmen der Ausgrenzung, Verfolgung und des Terrors. An späterer Stelle behandelt Heimo Halbrainer, der gemessen an der Anzahl der Beiträge als produktivster Autor des Bandes hervorsticht, in zwei weiteren Texten zunächst Widerstand und Opposition, sodann das Schicksal der Exilanten. In verwaltungsrechtlicher Hinsicht sind die von Helmut Gebhardt zur Verwaltung des Reichsgaus Steiermark und von Gerhard Marauschek zur kommunalpolitischen Entwicklung der Stadt Graz gestalteten Abschnitte von besonderem Interesse; letzteres Thema wird von Karl Albrecht Kubinzky um alltagsgeschichtliche und stadtplanerische Gesichtspunkte zu „Groß-Graz“ erweitert. Darüber hinaus werden in den weiteren Beiträgen die hinlänglich bekannten, die nationalsozialistische Herrschaft charakterisierenden Themen mit steirischem Fokus aufgearbeitet: Augenzeugenberichte (Bernhard Reismann), Alltags- und Frauenleben (Elke Hammer-Luza), Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft (Elisabeth Schöggl-Ernst), die Zerstörung der jüdischen Gemeinde in Graz und die „Arisierung“ (zwei Beiträge Gerald Lamprechts), Kunstraub (Karin Leitner), nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik (Birgit Poier), der Luftkrieg (Walter Brunner) und das Schicksal der Roma (Gerhard Baumgartner).

 

Diesen politisch angelegten Rundblick des ersten Teilbands ergänzt der zweite Teilband für den gesamten Zeitraum von 1938 bis 1945 um strukturgeschichtliche Dimensionen. Mehrere Längsschnitte erfassen das Wirtschaftsleben, indem sie Gewerbe und Industrie (Peter Teibenbacher), Landwirtschaft und Fremdenverkehr (zwei Beiträge Günter R. Burkerts) oder statistische Daten (Werner Tscherne) analysieren, ein von Peter Pantzer verfasster Text berichtet über enge steirisch-japanische Kontakte in der Stahlproduktion. Im Bereich der Kultur, der Kunst und des Bildungswesens erscheinen Beiträge allgemein zum Kunstschaffen in jener Zeit (Sandra Abrams), zur Literatur (Karin Gradwohl-Schlacher/Uwe Baur), zur Musik (Christian Glanz), zur Volkskunde (Helmut Eberhart), zum Schulwesen (Werner Tscherne) und zur universitären Wissenschaft (Alois Kernbauer). Mit einem Blick auf die Religionsgemeinschaften der Katholiken (Maximilian Liebmann), Protestanten (Ernst-Christian Gerhold), Altkatholiken (Christa Eisner) und der Juden (Gerald Lamprecht) endet dieser Streifzug durch die Geschichte der Steiermark in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Die Vielzahl der Verfasser und der Beiträge, welche die beiden Teilbände in sich vereinen, bringt es mit sich, dass qualitative Unterschiede und graduelle Abstufungen in der Relevanz der Themen nicht zu vermeiden sind. So könnte man lange darüber diskutieren, welcher Abschnitt vielleicht verzichtbar gewesen wäre und welche Gesichtspunkte man wiederum vermisst oder stärker betont wissen möchte. Da die geschichtliche Realität in ihrer Totalität ohnehin nicht adäquat abzubilden ist, wird man wohl von solchen Spitzfindigkeiten absehen müssen, und wer sich in dem Werk nicht angemessen berücksichtigt findet, muss es erst einmal besser machen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass ein derartiges Panorama stets auf Einzelstudien aufbaut, die im Bedarfsfall zu befragen sind. Man kann resümierend festhalten, dass hier, was lange währt, endlich doch recht gut geworden ist. Das gilt auch für das interessante Bildmaterial, das Laune macht, immer wieder zu den beiden gewichtigen Teilbänden im klassischen Lexikon-Oktavformat zu greifen, die in ihrer gefälligen Ausstattung aus der überschaubaren Zahl der zum Thema vorliegenden Schriften herausragen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic