Brechtken, Magnus, Albert Speer. Eine deutsche Karriere. Siedler, München 2017. 910 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Dass Albert Speer (1905 – 1981), Hitlers charismatischer „Lieblingsarchitekt“, dann Generalbauinspektor und schließlich Rüstungsminister mit beträchtlichen Vollmachten, im Anschluss an den Nürnberger Prozess und die verbüßten 20 Jahre Haft in Spandau über die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ (1969) und seiner „Spandauer Tagebücher“ (1975) ein Bild von sich und seinen Aktivitäten in die Welt gesetzt hat, das – zurückhaltend formuliert – in vielem zu seinem Vorteil geschönt war und zugleich gesellschaftliche Erwartungshaltungen geschickt bediente, ist in Fachkreisen beileibe keine neue Erkenntnis. Schon 1982 hat der Dissertant Matthias Schmidt an Speers Mythen gekratzt, und eine Reihe weiterer Autoren von Dan van der Vat (1997) über Susanne Willems (2000) bis zuletzt Martin Kitchen (2015) ist ihm darin gefolgt. 2005 hat die öffentliche Ausstrahlung des auf Zeitzeugeninterviews und Archivbefunde rekurrierenden Vierteilers „Speer und Er“ von Heinrich Breloer auch die breitere Öffentlichkeit anschaulich über dieses sorgsam errichtete Kartenhaus ins Bild gesetzt. Wozu also, wenn dies alles keine Neuigkeiten sind, einen dickleibigen Band wie den vorliegenden verfassen? Was vermag er noch zu leisten?

 

Die Arbeit Magnus Brechtkens, stellvertretender Direktor des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte und Professor an der Universität München, ist in ihrer Struktur eine doppelte Erzählung. Die Teile eins bis drei (1905 bis 1945) referieren die Erfolgsgeschichte eines Mannes aus gutem Haus, der 1930 zum Nationalsozialismus stieß und sich in dieser Bewegung durch planvolles Agieren und glückliche Konstellationen bis zum potentiellen Hitler-Nachfolger hocharbeitete, dessen längst verlorenen Krieg er als Rüstungsminister unter Inkaufnahme ungeheurer Menschenverluste maßgeblich verlängert habe. In der zweiten Hälfte der Darstellung, den Abschnitten vier bis sechs (1945 bis heute), wird gezeigt, wie dieser Mann „als Solist unter den Angeklagten, als reflektierter Bekenner einer luftigen Gesamtverantwortlichkeit ohne konkretes Schuldeingeständnis“ (S. 298) zunächst vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg geschickt seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen verstand und in der Folge während seiner Haft in Spandau und nach seiner Entlassung eine mediale Neukonstruktion seines Lebens vornahm, die den „noble(n) Nazi“ (Titel des vierten Teils) von 1966 bis zu seinem Ableben 1981 im doppelten Sinn des Wortes „fabelhafte Erfolge“ (Titel des fünften Teils) feiern ließ. Dass dies gelang, sei, wie breit ausgeführt wird, neben dem latenten gesellschaftlichen Bedürfnis nach Reinwaschung und Verdrängung eigener Schuld vor allem zwei mächtigen Unterstützern zu verdanken: Wolf Jobst Siedler, seit 1963 Chef des Verlagshauses Ullstein-Propyläen, das Speers Erinnerungsschriften verlegt hat, sowie dessen gutem Freund, dem stilsicheren Publizisten und späteren Hitler-Biographen Joachim C. Fest. Die erste Initiative ging den Quellen zufolge zunächst wohl aus wirtschaftlichen Motiven von Siedler aus, in der Folge fanden er, der seinen Vertrauten Fest bald als Fachmann für die Geschichte des Nationalsozialismus einband, und Speer gewissermaßen auch persönlich und „erinnerungspolitisch“ zueinander. Der Kontakt zu Speer erscheine darüber hinaus „rückblickend zentral für Fests weiteres Verständnis des Nationalsozialismus und seiner Haltung zur Geschichtswissenschaft“ (S. 391). Wie schon Gitta Serenys Buch über Speer aus 1995 „weite Bereiche des Wissens (ignorierte)“ (S. 549) und den so dringend erforderlichen wie durchaus möglichen Faktencheck auf Speers Aussagen nach 1945 beschränkt habe, „verzögerte Fests Speer-Biographie [1999] den öffentlichen Lernprozess, denn das Renommee des Autors verstärkte den Effekt, Speers Fabeln zu wiederholen, statt über sie aufzuklären“, was vor allem im weniger informierten angelsächsischen Raum „einen selbstreferentiellen Diskurs (verstärkte), der sich weiter ganz in Speers Legendenwelt bewegte“ (S. 560). Das hartnäckige Festhalten an diesem Bild sei gesellschaftlich gewollt gewesen: „Diese Entlastungsnarrative, von Speer, Siedler und Fest in die Erinnerungen und die Spandauer Tagebücher komponiert, bedienten perfekt das Distanzierungsverlangen des Zeitgeistes in Deutschland und ein Harmonisierungsbedürfnis insbesondere in der angelsächsischen Welt“. Dazu hätten sich erstaunlich naive Historiker gefunden, die „Speers Erzählungen ohne weitere Prüfung oder gar Archivrecherchen als authentische historische ‚Quelle‘ nachplapperten“ und sich „offensichtlich nicht vorstellen (konnten), wie systematisch Speer log“ (S. 578f.).

 

Hierin liegt nun die wesentliche Leistung der aktuellen Publikation, nämlich in der akribischen Nachprüfung der Legenden Speers und seiner Apologeten anhand der zeitgenössischen Aktenüberlieferung und in der präzisen Dokumentation dieses Materials. Über 240 Druckseiten erstreckt sich der Endnotenapparat, dazu kommen weitere 70 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis, darunter eine eigene Übersicht zu Materialien betreffend Speer im Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin. Vor allem die im Bundesarchiv Koblenz verwahrten Bestände Nachlass Albert Speer (N 1340) und Nachlass Rudolf Wolters (N 1318) – ein Kommilitone, dann Mitarbeiter Speers, der sich „als fleißiger Mitorganisator des Speer-Bildes bis 1945, als Stütze für Speers Angehörige seit der Verhaftung, als Organisator der geheimen Gefängniskorrespondenz, als gleichermaßen uneigennütziger wie eifriger Geldsammler für alle Bedürfnisse des Häftlings und seiner Familie, nicht zuletzt als stets folgsamer Exekutor der Speerschen Wünsche und Anweisungen aus der Zelle“ hervorgetan hat, sich dann aber als weiterhin „nationalsozialistisch-völkisch geprägter Nationalist“ (S. 433) an Speers dem gemeinsam Erlebten so offensichtlich widersprechenden Volten stieß – finden erstmalig eine umfangreiche Berücksichtigung. Unmissverständlich fordert der Verfasser: „Blicken wir also auf das, was Speer vor 1945 getan und nicht, was er nach 1945 darüber erzählt hat. […] Schauen wir in die Dokumente und die in zeitgenössischen Publikationen und den Archiven reichlich verfügbaren Quellen“ (S. 579). Die wirkmächtigsten Nachkriegsmythen Speers, darunter seine Behauptungen, gleichsam naiv in den Nationalsozialismus hineingeraten zu sein, die deutsche Industrie gerettet zu haben, ein Attentat auf Hitler erwogen zu haben oder über den Holocaust nicht im Bilde gewesen zu sein, werden so neben zahlreichen, im Großen weniger bedeutsamen Unwahrheiten als nachträgliche Konstruktionen entlarvt, für die sich in den Quellen keine oder allenfalls widersprechende Belege finden. Diese genaue und aufwändige Dokumentationsarbeit hebt die Arbeit Magnus Brechtkens, der sich in seiner Diktion und seinem Urteil über das Verhalten Speers und seiner Unterstützer keinerlei Zurückhaltung auferlegt, im Erkenntnisgewinn weit über das erwähnte, nur mit einem mageren Quellenverzeichnis ausgestattete Buch Martin Kitchens hinaus. Dessen auf aus der Literatur bereits bekannte Argumente gestützte Feststellung, „dass Speer gelogen habe“, sei, so der Verfasser kritisch zu diesem Werk, „2015 weder neu noch originell“ gewesen (S. 588, Prolog Anm. 2).

 

Für die „aus heutiger Sicht irritierende juristische und öffentliche Nachsicht gegen Speer“ in Nürnberg benennt Magnus Brechtken „drei Gründe: […] zum einen die ungenügende Kenntnis und Verfügbarkeit von Dokumenten. […] Die ‚Chronik der Speer-Dienststellen‘ vergrub Wolters […] im heimischen Garten. Es lag auf der Hand, dass sie besser nicht vor Gericht bekannt werden sollte. […] Ein zweiter Grund war, dass seine engsten Partner aus zwölf Jahren, namentlich Hitler, Goebbels und Himmler, nicht mehr lebten. Weder sie noch Bormann, Ley und viele andere, die er nun als die eigentlichen Verbrecher darstellte, konnten sich jetzt oder in den folgenden Jahrzehnten wehren. […] der dritte und wirkungsmächtigste Grund […]: Er war der einzige Angeklagte, der das Gericht demonstrativ akzeptierte, den Prozess sogar öffentlich als notwendig bezeichnete und seine allgemeine Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus bekannte. Das hörten die Sieger gern“ (S. 299f.). Als Speer „vergleichsweise spät im Prozess“ zu seiner Aussage kam, konnte er zuvor „die Eigenheiten der Beteiligten lange studieren und sich bestens vorbereiten und redete „(i)n Absprache mit seinem Anwalt Hans Flächsner vor allem über solche Aspekte seiner Tätigkeit, die im Vergleich zur Gesamtanklage harmlos waren: seine künstlerischen, friedlichen und rein technischen Aufgaben, die Fürsorge für ‚seine‘ Arbeiter und seinen Einsatz für den Erhalt der deutschen Industrie. […] Dass Speer jahrelang eine treibende Kraft der Kriegsintensivierung gewesen war, verschwand im Klein-Klein“ (S. 301). Ein Sühneverfahren gegen Speer, 1951 – wie später festgestellt werden sollte – von Amts wegen „unwirksam“ eröffnet, schien 1961 endlich wieder Fahrt aufzunehmen, doch die bundesdeutsche Bürokratie „verwaltete es bald wieder mit immer neuen Verschiebungen und Wiedervorlagen mehr, als dass sie sich damit beschäftigte“. 1966 stand fest: „Als Nazi-Führer blieb Speer ohne Sühneverfahren, und seine beträchtlichen Vermögenswerte blieben unangetastet“ (S. 359ff.). Auch der stellvertretende Chefankläger im Hauptkriegsverbrecherprozess und Ankläger in mehreren Nachfolgeprozessen, Robert Kempner, sei zu Speers „Helferstimmen“ zu zählen, wobei eine „offene Frage“ bleibe, „was Kempner zu seinem Einsatz für Speer motivierte“. Auch dieser Experte „sah offenbar keinen Anlass dazu, (Speers Erzählungen anhand von Quellen zu überprüfen,) so selbstverständlich waren dessen Geschichten im öffentlichen Diskurs als ‚Wahrheit‘ etabliert“ (S. 450). Darüber hinaus habe Speer mehrfach als Zeuge vor Gerichten ausgesagt: „Stets waren es ehemalige Täter auf unteren hierarchischen Ebenen, die sich nun gegen Vorwürfe von Folter, Mord und Totschlag zur Wehr setzen mussten, während ihr ehemaliger oberster Vorgesetzter als zurückhaltender Edelzeuge auftrat, dem das alles nichts mehr anhaben konnte“. 1971 habe er sich nicht einmal gescheut, wahrheitswidrig vor dem Schwurgericht Hannover zu äußern, es sei ihm „geradezu peinlich zu sagen, dass ich als Reichsminister von der sogenannten Endlösung der Judenfrage keine Kenntnis hatte“ (S. 458f.).

 

Der dokumentarisch gefestigte Nachweis und das ungeschminkte Benennen von Albert Speers Nachkriegskonstruktionen und Verzerrungen der Wirklichkeit, seiner Verharmlosungen sowie die Identifizierung seiner Unterstützer sind somit die klar erkennbaren Prioritäten in dieser Biographie eines Mannes, der einst seine Karriere im Wege eines „voluntaristische(n) Absolutismus“ zielstrebig vorangetrieben hatte, indem er sich „immer wieder direkt auf ‚Führer-Entscheidungen‘ (berief) und damit den Anspruch (stellte), über den staatlichen bürokratischen Apparaten und deren Regeln zu stehen“ (S. 218). Dadurch steht naturgemäß für die Behandlung der im Hinblick auf eine ausgewogene Gesamtcharakteristik der Persönlichkeit ebenfalls interessierenden privaten Aspekte seines Lebens und Wirkens weniger Raum zur Verfügung. Das führt dazu, dass nach der Lektüre als dominierender Eindruck vielleicht etwas eindimensional das Bild des manipulativen begabten Blenders haften bleiben könnte.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic