Winkler, Markus, Mathematik und Logik in Julians Digesten (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge Band 73 Abt. A Abhandlungen zum römischen Recht und zur antiken Rechtsgeschichte). Duncker & Humblot, Berlin 2015. 324 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Der Autor, dessen Untersuchung von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich im Jahre 2014 als Dissertation angenommen wurde, hat auch Mathematik studiert, ist also prädestiniert für das von ihm gewählte Thema, die Frage nämlich, ob Kenntnisse der Logik in irgendeiner Form auf das juristische Denken in Julians Digesten Einfluss gewonnen haben. Dies, so der Autor, sei ein Aspekt der umfassenden Frage, welche juristische Methode der Arbeit Julians zugrunde liegt. Die Untersuchung umfasst sechs Kapitel.
Im ersten Kapitel, einer „Einführung“, werden die zur Zeit Julians bekannte Mathematik und Logik, ferner der Forschungsstand sowie der Gang der Untersuchung dargestellt (S. 15ff.). Das zweite Kapitel ist der „elementaren Mathematik“ in den Digesten Julians gewidmet (S. 35ff.). Als Ergebnis stellt der Autor fest, Julian habe die Mathematik nur vereinzelt herangezogen; er habe sich dabei im Rahmen dessen bewegt, was von einem Vertreter der gebildeten Schicht an rechnerischen Kenntnissen verlangt wurde. Das juristische Denken Julians sei von der Mathematik nicht beeinflusst worden (S. 78).
Das dritte Kapitel ist der aristotelischen und der stoischen Aussagenlogik gewidmet. In der Hauptsache ist darunter die Lehre von den logischen Verknüpfungen von Aussagen (durch „und“, „oder“, „wenn … dann“) zu verstehen, wobei die Aussagen entweder „wahr“ oder „falsch“ sind. Die Untersuchung der Quellentexte, so heißt es, lasse erkennen, dass Julian „genaue Kenntnisse der (Aussagen-)Logik“ besaß, die er für seine juristische Arbeit nutzbar machte, sowohl bei der genauen Erfassung von Sachverhalten als auch, wenn es darum ging, „neue quaestiones iuris zu konstruieren, um zu interessanten juristischen Fragestellungen zu gelangen“ (S. 135). Was die Überlegungen der Logik zum Gebrauch des Konditionals (also der Verknüpfung „wenn … dann“) betrifft, kommt der Autor zu dem Schluss, die Logik „könnte ihm (…) als Denkschule behilflich gewesen sein“. Zusammenfassend stellt er fest: „Die Logik ist eine hinreichende, nicht aber eine notwendige Voraussetzung für seine Leistungen“ (S. 160).
Das vierte Kapitel ist der Modallogik gewidmet (S. 162ff.), einer Logik, in der Aussagen nicht nur, wie in der Aussagenlogik, als eindeutig „wahr“ oder „falsch“ qualifiziert werden, sondern auch durch bestimmte Modalitäten, wie: „möglich – nicht möglich“, „notwendig – nicht notwendig“ (S. 167). Der Autor gelangt zu dem Resultat, dass Julian die „Logik als Hilfsmittel“ eingesetzt haben könnte, was ihm möglicherweise erlaubt habe, „schärfere Unterscheidungen zu treffen und dadurch immer wieder differenziertere Entscheidungen als seine Kollegen zu finden“ (S. 244).
„Axiomatisches Denken“ ist der Titel des fünften Kapitels (S. 245ff.), in dem der Autor untersucht, ob Julian die von Aristoteles und den stoischen Philosophen entwickelten Schlussformeln (Syllogismen) verwendet hat. Zusammenfassend wird konstatiert, „dass Beispiele, in denen Julian logische Schlussformeln aktiv im Rahmen seiner juristischen Argumentation nutzt, selten sind“ (S. 288).
Das sechste Kapitel enthält eine kurze „Schlussbetrachtung“ (S. 289 ff.). Letztlich, so heißt es, „erlauben Julians wie meistens knappe Begründungen zwar selten einen unangreifbaren Nachweis eines Einflusses der Logik, doch ließen sich seine Entscheidungen logisch schlüssig nachvollziehen, was für die Wahrscheinlichkeit der These spricht“ (S. 292), der These nämlich, dass Julian Kenntnisse der Logik eingesetzt hat.
Die Arbeit schließt mit einem hilfreichen, recht umfangreichen Anhang (S. 294ff.), in dem nicht nur, wie üblich, ein Literaturverzeichnis und ein Quellenregister enthalten sind, sondern auch ein Sachregister und Personenregister sowie Übersichten der in einer eigenen Exegese besprochenen Stellen.
Die Feststellung des Autors, ein Einfluss der Logik auf das juristische Denken Julians sei wahrscheinlich, weil „sich seine Entscheidungen logisch schlüssig nachvollziehen lassen“ (S. 292), muss in Frage gestellt werden. Die strukturelle Übereinstimmung zwischen der philosophischen Logik und Julians Darlegungen zeigt zwar, dass ein solcher Einfluss möglich ist. Unklar ist aber, ob ein Einfluss auch wahrscheinlich ist. Der Autor sagt selbst sehr deutlich: „Als gewichtiger Einwand bleibt die Frage, ob und wie bewusst Julian diese Konzepte tatsächlich einsetzte oder ob es sich bloß um einen nachträglichen Erklärungsversuch ohne historische Relevanz handelt.“ (S. 159f.) Weitere Untersuchungen sind wohl erforderlich. Aufschlussreich könnte zum Beispiel sein, die von Julian entwickelten Lösungen mit den Entscheidungen anderer Juristen zu vergleichen (wie der Autor dies an einem Beispiel unternimmt, indem er eine Entscheidung Julians mit einer Pomponius-Stelle vergleicht; S. 160), oder der Frage nachzugehen, ob Julian in Verbindung mit Philosophen oder philosophisch besonders gebildeten Menschen stand. Sein Schüler Afrikan hat gelegentlich griechische, philosophische Fachausdrücke zitiert (D. 35,2,88). Von Julian ist nichts dergleichen überliefert.
Abschließend ist hervorzuheben, dass der Autor den in der Mathematik und Logik nicht bewanderten Leser gut in diese Disziplinen einführt, wobei die von ihm manchmal benutzte moderne Symbolsprache dem philosophischen und mathematischen Laien allerdings nicht leicht verständlich ist. Der Verfasser hat eine sehr gründliche, anregende Studie vorgelegt und damit eine gute Grundlage für weitere Untersuchungen geschaffen. Dafür sei ihm gedankt.
Heidelberg Hans-Michael Empell