Starck, Christian, Woher kommt das Recht? Mohr Siebeck, Tübingen 2015. 400 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Beim vorliegenden Band handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen Christian Starcks zu Aspekten der Frage nach dem Woher des Rechts, die sich über den gesamten Zeitraum seines akademischen Schaffens erstrecken, mit einem deutlichen Schwergewicht auf den Jahren nach der Jahrtausendwende. Der 1937 in Breslau geborene Verfasser wurde 1969 in Würzburg für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie habilitiert und lehrte von 1971 bis 2005 als Professor Öffentliches Recht an der Universität Göttingen. 1991 bis 2006 war er Richter des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 2008 bis 2012 Präsident der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung sind seine hervorstechenden Instrumente in der Bearbeitung der Themenstellung.
An der Spitze seiner Aufsatzsammlung steht die mit dem Buchtitel identische, 2009 publizierte Antrittsrede des Verfassers als Präsident der Akademie der Wissenschaften, die die Vielfalt der mit der im Titel formulierten Frage verbundenen Aspekte aufzeigen will. Die daran anschließenden Ausführungen gliedern sich in insgesamt drei Teile mit jeweils acht Beiträgen und dienen der näheren Spezifizierung dieses Leittextes. Der Verfasser überprüft zunächst, ob im Sinne der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens tatsächlich Recht und Staat gleichsam identisch seien, da doch auch staatsübergreifende Normensysteme wie das Europarecht und das zum größten Teil vertragliche Völkerrecht wiederum auf den Staat zurückgeführt werden könnten. Ungeachtet dessen lasse sich die Geltung des Rechts „nicht allein normlogisch erklären. Der juristische Geltungsbegriff hat auch soziologische und moralische Aspekte. Dabei geht es vor allem um die Akzeptanz und Wirksamkeit des Rechts. Dafür mu[ss] man den Inhalt des Rechts in den Blick nehmen“ (S. 3).
Ein Streifzug durch die juristische und philosophische Literatur lasse, im Widerspruch zu Kelsens These, die jeweilige Eigenständigkeit der Größen Recht und Staat und ihre Bezogenheit aufeinander erkennen. Während das Recht den Staat legitimiere, verleihe der Staat dem Recht Macht. Dieses den Staat legitimierende Recht greife aber auf anerkannte, überstaatliche Rechtsgrundsätze zurück, wie sie in den Menschenrechten zum Ausdruck gekommen und im deutschen Grundgesetz als der höchsten Norm positiven Rechts übernommen worden seien. Daraus ergebe sich auch die Definition des Rechtsstaates: „Rechtsstaat ist folglich nicht der Staat, weil er Recht erzeugt, sondern der Staat, der bei der Erzeugung von Recht an Rechtsgrundsätze formeller und materieller Art gebunden ist. Diese sind weitgehend im Grundgesetz als Verfassungsrecht normiert, sind also positives Recht höherer Ordnung. […] Auch Staaten ohne geschriebene Verfassung wie Großbritannien oder ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Rechtsgrundsätze in ihrer Verfassung anerkennen die Rule of Law, die Menschenrechte oder einzelne Grundsätze von natural justice etwa im Recht des gerichtlichen Verfahrens: Niemand darf Richter in eigener Sache sein (nemo iudex in causa sua) und das rechtliche Gehör vor Gericht (audiatur et altera pars)“ (S. 4f.). Staaten des ehemals kommunistischen Ostblocks, wie beispielsweise Polen, hätten die entsprechenden Rechtsgrundsätze über das Vertragsrecht der Europäischen Union positivrechtlich in ihre Rechtsordnungen implementiert. Somit entstehe Recht auch aus Verträgen, und zwar vielfach auch ohne Beteiligung eines Vertragspartners Staat: „Das innerstaatlich erzeugte Recht entspringt z[um] T[eil] Verträgen, die Privatpersonen schließen und dabei von ihrer Vertragsfreiheit Gebrauch machen, oder dem privat generierten Gewohnheitsrecht. Das staatliche Gesetz steckt einen rechtlichen Rahmen ab, ist aber nicht die eigentliche Quelle des privatautonom gesetzten Rechts z. B. über Lohntarife, die Einzelheiten des Innenlebens einer Handelsgesellschaft oder eines Vereins und so fort“. Der Verfasser erkennt in der Vertragsfreiheit zudem einen „Globalisierungsmotor“ und erwähnt auch die umstrittenen Schiedsgerichte im Rahmen transnationaler wirtschaftlicher Rechtsbeziehungen (hier sei ergänzend auf die aktuellen Auseinandersetzungen um die Implikationen der geplanten Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika hingewiesen), womöglich Keimzellen „einer dritten Rechtsordnung neben staatlichem und Völkerrecht“ und „eine(r) weltumspannende(n) entstaatlichte(n) Zivilrechtsordnung“ (S. 7). Neben der Rechtserzeugung durch Private habe darüber hinaus die Rezeption aus anderen Rechtsordnungen Einfluss auf den Inhalt staatlichen Rechts. Über Otto Mayer seien etwa zentrale Begriffe und Inhalte des vorbildlichen französischen Verwaltungsrechts des 19. Jahrhunderts in das deutsche Verwaltungsrecht eingeflossen und durch Rechtsdogmatik und Rechtsprechung fortgebildet worden; die Verfassung des Kaiserreichs Groß-Japan von 1889 sei nach dem Muster des monarchischen Konstitutionalismus der oktroyierten preußischen Verfassung von 1850 gestaltet worden; diverse aktuelle Auslegungen der Hohen Richter in Taiwan – mehr als ein Drittel von ihnen wurde in Deutschland promoviert – zum Grundsatz der Menschenwürde offenbarten die Übernahme europäischen Verfassungsdenkens.
Im Akt der Gesetzgebung würden weitere Einflüsse schlagend: Es leuchte „unmittelbar ein, dass die zuverlässige Erfassung der sozialen Wirklichkeit, auf die das Gesetz ordnend und steuernd einwirken soll, und die Kenntnis der voraussichtlichen Wirkungen der beabsichtigten Regelungen den Inhalt des Gesetzes beeinflussen. Bekommt der Gesetzgeber darüber zuverlässige Informationen vermittelt – eventuell auch durch Betroffene und Lobbyisten – und verarbeitet er diese, wird er verunglückte Gesetze weitgehend vermeiden können“. Dazu trete die Rechtsdogmatik, die viele Grundbegriffe der Rechtsordnung präzisiere, ihnen damit potentiell ein größeres Beharrungsvermögen vor Neuschöpfungen verleihe, aber auch mit neuen dogmatischen Figuren die Entwicklung des Rechts befördere: „Rechtsdogmatik systematisiert und stabilisiert das positive Recht sowohl in seiner Entstehung als auch in seiner Anwendung und hält es durch immanente Kritik widerspruchsfrei“ als ein „wichtiger Faktor, der den Inhalt des Rechts mitbestimmt“ (S. 11f.). Letzteres gelte auch für die konkreten Auswirkungen des Vorrangs der Verfassung vor dem Gesetzesrecht. Die zugrunde liegende abendländische Rechtskultur und ihre Rechtsgrundsätze fußten ihrerseits im Wesentlichen auf dem römischen Recht und der lateinischen Kirche. Das römische Recht lehre „die genaue Feststellung der Sache, über die zu entscheiden ist, und die Argumentation, die jede voreilige Einseitigkeit vermeidet sowie plausible, rationale und somit verallgemeinerbare Entscheidungen anstrebt, die der Gerechtigkeit dienen“; wiederum „Grundlage für Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen ist die biblisch-christliche Auffassung, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild gestaltet hat“, worin „auch die rechtliche Gleichheit der Menschen (wurzelt)“ (S. 15f.).
Die Vertiefung all dieser Impulse erfolgt, wie eingangs festgestellt, in den einzelnen, zu drei Themenkomplexen gruppierten Beiträgen des Bandes. Der erste Teil behandelt das Themenfeld „Gesetz und Recht“. Es geht hier um Fragen der begrifflichen Orientierung, der Existenz übergesetzlichen Rechts, der Bedeutung der Rechtsdogmatik im Bereich des Verwaltungsrechts (Gesetzgebung, Gesetzesanwendung), fehlender oder verfehlter Wirksamkeit von Gesetzen, der Sicherung des Vorrangs der Verfassung, des zwischen Bundesgesetzgebung und Landesgesetzgebung ablaufenden Unitarisierungsprozesses sowie des von Formenvielfalt geprägten Verhältnisses von Gesetz und Vertrag bei der Entstehung von Recht. Daran schließt sich der zweite Teil, der sich mit den „Grundrechte(n)“ beschäftigt: mit den im Personenbegriff der christlichen Theologie und der Kanonistik wurzelnden philosophischen Grundlagen der Menschenrechte, dem Weg von der Abhängigkeit der Grundrechte von der Gesetzgebung hin zum Vorrang der Verfassung, der Wirkung der Menschenrechte auf das Privatrecht, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Gewährleistung der Menschenwürde in der Biowissenschaft, den Teilnahmerechten und den sozialen Rechten, dargelegt unter anderem am Beispiel der deutschen Sozialversicherungsgesetzgebung. Beiträge zur „Rechtskultur“ versammelt der abschließende dritte Teil. Thematisch erfasst dieser Abschnitt die Kategorien Freiheit und Legitimität, Maximen der Verfassungsauslegung, Gründe, Bedingungen und Formen der Rechtsrezeption, das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Unionsrecht auf der einen und dem nationalen Recht auf der anderen Seite sowie eine vergleichende Betrachtung der Rechtsvereinheitlichung im Deutschen Reich 1871 und in der Europäischen Union heute.
Das hellsichtige Abschlusskapitel trägt den Titel „Die Rechtswissenschaft in der Zukunft“. Die „Steuerungskraft des Rechts“ werde voraussichtlich vor allem durch die folgenden Entwicklungen gefordert sein: „globale Umweltgefährdungen durch menschliche Eingriffe in die Natur, Ernährungsprobleme in vielen Regionen der Welt auf Grund der Zunahme der Weltbevölkerung, Gefahren der biomedizinischen Forschung für die Humansubstanz, Mi[ss]brauch elektronischer Kommunikationssysteme, Gefährdungen unserer nationalen umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme auf Grund der generativen Entwicklung und der enorm erweiterten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten“ (S. 380). Es werde darum gehen, aus den mächtigen Tendenzen der Europäisierung und Globalisierung, der Individualisierung und der Utilitarisierung „auf Grund des Systemwissens der Rechtsdogmatik das Gute […] heraus[zu]filtern und dafür ein[zu]setzen, die Strömungen zu beherrschen“ (S. 381), müsse doch „die Rechtswissenschaft die innere Konsistenz der Rechtsordnung bewahren helfen […,] die gesellschaftlichen und rechtlichen Vernetzungen kennen und praktische Wirkungen des Rechts, auch die zunächst nicht beabsichtigten, ins Kalkül ziehen“ (S. 390). Die Frage nach dem „Woher“ des Rechts ist damit nicht zuletzt auch eine Frage nach dessen „Wohin“.
Anders, als es der Titel vielleicht nahelegt, geht es Christian Starck somit nicht um eine historische Bestandsaufnahme der Anfänge der Rechtsentwicklung. Im Fokus seines Interesses stehen vielmehr das aktuelle öffentliche und private Recht sowie jene Akteure, die formell und materiell den Normbildungsprozess im Gefüge des Stufenbaus der Rechtsordnung bestimmen. Höchste Ansprüche stellt er an die Rechtsdogmatik, der gleichsam als Kerndisziplin der Rechtswissenschaft die federführende Steuerungsfunktion im Prozess der Rechtsfortbildung zugesprochen wird.
Kapfenberg Werner Augustinovic