Spohr, Kristina, Helmut Schmidt. Der Weltkanzler. Aus dem Englischen von Roller, Werner. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 384 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Durch seine Kompetenz, die Bestimmtheit seines Auftretens und die Brillanz seiner Rhetorik, die Emotion und Überzeugungskraft mit Nüchternheit in der Sache zu verbinden wusste, ragt der von 1974 bis 1982 amtierende, fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt (1918 – 2015), aus der Reihe der Politiker seiner Epoche und unserer Tage hervor. Nach seiner aktiven Zeit erlangte er eine ganz besondere, mit den Weihen der moralischen Autorität versehene Popularität. Im merkwürdigen Kontrast zu dieser außergewöhnlichen persönlichen Aura steht allerdings die Wahrnehmung seiner politischen Bilanz durch die Fachwelt. So falle vielfach „die Bewertung seiner Kanzlerschaft […] mäßig aus“. Unter anderem wurde geurteilt, Schmidt „(kam nie) an die politische Lebensleistung Konrad Adenauers und Helmut Kohls“ heran (S. 12). Wird dieses Urteil den historischen Tatsachen gerecht?
Nein, meint Kristina Spohr, die an der London School of Economics Internationale Geschichte lehrt und sich in ihrer Publikationstätigkeit vorwiegend der internationalen Politik nach 1945 verschrieben hat. Um zu einer gerechten Einschätzung der politischen Rolle Helmut Schmidts zu kommen, sei es unerlässlich, aus der deutschen Binnenperspektive und der Fixierung des Blicks auf die Deutschlandfrage herauszutreten. In diesem Sinn ist auch das Epitheton des „Weltkanzler(s)“ im Titel auszulegen, und im englischen Original heißt es inhaltlich noch präziser: „The Global Chancellor. Helmut Schmidt and the Reshaping of the International Order“. Thema des vorliegenden Buches ist somit der Kanzler Helmut Schmidt in seiner Rolle einer „zentrale(n) Persönlichkeit, die die internationale Politik in einem entscheidenden, von Krisen geschüttelten und großen Umbrüchen und Veränderungen geprägten Jahrzehnt maßgeblich mitgestaltete. In den 70er-Jahren war die westliche Welt mit globalen Turbulenzen und Unruhen konfrontiert – wirtschaftlich, sozial und politisch. […] Wie ging Schmidt diese Probleme in Deutschland, in Europa und in ihren weltweiten Zusammenhängen an?“ (S. 12f.).
In fünf Kapiteln und chronologisch fortschreitend bemüht sich die Verfasserin, überzeugende Antworten zu liefern. Bevor Helmut Schmidt 1974 seine Kanzlerschaft antrat, hatte er bereits mehrjährige wertvolle Regierungserfahrung gesammelt, zunächst als Leiter des Verteidigungsressorts (1969 - 1972), sodann als Finanzminister (1972 - 1974). Einsetzend mit der zwischen 1973 und 1975 massiv auftretenden Krise des Kapitalismus, geht es zunächst um Schmidts geschicktes Agieren als „Weltökonom“. Im Angesicht des Zusammenbruchs des Währungssystems, des Ölpreisschocks, von Rezession und Stagflation fiel der Etablierung und Konsolidierung der „Großen Sieben“ oder „Gruppe der Sieben“ (G7 – USA, Japan, Großbritannien, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien, Kanada) als einer handlungsfähigen, über Gipfeltreffen operierenden inoffiziellen „Weltwirtschaftsregierung“ entscheidendes Gewicht zu, ein Prozess, der vom deutschen Kanzler unter Einbringung des deutschen Stabilitätsmodells und der intensiven Förderung persönlicher Kontakte wesentlich vorangetrieben worden sei. Mehr noch als in dieser Funktion konnte und musste sich Helmut Schmidt als Sicherheitspolitiker profilieren, eine Rolle, die von der Verfasserin über vier Kapitel unter den Stichworten des „Stratege(n) des Gleichgewichts“, der „Neutronenbombe“, des „NATO-Doppelbeschlusses“ und des „Doppeldolmetscher(s)“ analysiert wird. „Anders als Bahr, den er für einen in Utopien denkenden Idealisten hielt, befürwortete er keine gesamteuropäischen Lösungen für Ost-West-Probleme. Und im Unterschied zum Weißen Haus blieb er, als sich der Entspannungsprozess abkühlte, weiterhin entschlossen, den Ost-West-Dialog beizubehalten, denn er wollte die Rüstungskontrolle in Europa weiterbringen und so Fortschritte in der deutschen Frage erreichen. Diese strategischen Leitlinien lagen der deutschen Außenpolitik während Schmidts gesamter Kanzlerschaft zugrunde. […] Sein Mantra lautete: Zuerst die Abschreckung, dann die Entspannung“ (S. 25).
In der sogenannten Neutronenbomben-Affäre 1977/78 hat sich Schmidt trotz persönlicher Bedenken für diese Waffe wegen ihres Abschreckungswerts eingesetzt und bewusst Konflikte mit den Medien und dem linken Flügel der Sozialdemokraten in Kauf genommen, wurde aber letztendlich von US-Präsident Carter, der die Pläne plötzlich zurückzog, im Regen stehen gelassen. Die damit unter der Bezeichnung „Grauzonen-Frage“ fortbestehende eurostrategische Sicherheitslücke konnte schließlich durch den NATO-Doppelbeschluss von 1979 geschlossen werden, den Helmut Schmidt sowohl in der diplomatischen Praxis – auf Guadeloupe konnte er beispielsweise in privater Atmosphäre die Staats- und Regierungschefs der Bundesrepublik, Frankreichs, Großbritanniens und der USA zu vertraulichen Gesprächen an einen Tisch bringen und Deutschland im Kreis der Atommächte als gleichberechtigten Partner einführen – als auch inhaltlich über sein strategisches Konzept der Beseitigung des atomaren Ungleichgewichts in Europa (Verhandeln von Abrüstungsmaßnahmen und westliche Neustationierungen) stark beeinflusst hat. Den Tiefpunkt im Kalten Krieg, der durch die folgende Eiszeit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten eintrat, versuchte der deutsche Kanzler dadurch zu überwinden, dass er seine Kontakte zur russischen Staatsführung nicht abbrechen ließ, sondern weiter intensivierte und somit in seiner Rolle eines „Doppeldolmetschers“ den Ost-West-Dialog, den er mit Recht im Interesse der deutschen Sicherheit für unverzichtbar wähnte, am Leben hielt. „Adenauers Bekenntnis zur Westbindung“ wurde von ihm damit „in schwierigen Zeiten“ ebenso weitergeführt wie „Brandts Engagement für die Ostpolitik“ und „verschaffte der Bundesrepublik mehr Glaubwürdigkeit bei beiden Supermächten“ (S. 321).
Kristina Spohr äußert den prägnanten Satz, dass „die Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Schmidt auf der Weltbühne erwachsen wurde“ (S. 28). In ihrer Bilanz korrigiert sie die Befunde der Schmidt-Biographen Hans-Joachim Noack (2008), Hartmut Soell (2014), Gunter Hofmann (2015) und Martin Rupps (2015) und ergänzt sie um die Einsicht, dass die politische Leistung des Kanzlers mehr gelte als nur die einer „Übergangsfigur“ (Henry Kissinger). Seine Leistungen müssten an den Herausforderungen und den Möglichkeiten gemessen werden, die der jeweilige historische Kontext bereitstellte, der aber im Falle Helmut Schmidts für mit der Reichseinigung Otto von Bismarcks oder der Wiedervereinigung Helmut Kohls vergleichbare spektakuläre Jahrhundertereignisse keinen Raum geboten habe. Gerade eine funktionierende Sicherheitspolitik findet, wenn sie nicht eben durch unpopuläre Maßnahmen Widerstände zu überwinden hat, in der Öffentlichkeit wenig Resonanz; der so wertvolle und fragile Friede wird als Selbstverständlichkeit hingenommen und erst im Falle des Krieges schmerzlich vermisst. Die Verfasserin vermag daher in der Beschreibung der Erfolge Schmidts weniger konkrete Einzelereignisse hervorzuheben denn allgemein die Leitlinien und Konzepte seiner globalen Stabilitätspolitik zu benennen. Der Pragmatiker Helmut Schmidt lebte „in einer Zeit des tief greifenden Wandels, sowohl in wirtschaftlicher als auch in geopolitischer Hinsicht. Aber er war auch nicht nur der Spielball dieses Systemwandels und auch nicht nur ein kurzfristig agierender Krisenmanager. Mit Ideenreichtum und Durchsetzungskraft wirkte Schmidt bei der Gestaltung der Weltpolitik mit und verfolgte dabei das Ziel, der Sicherheit der Bundesrepublik und der weltweiten Stabilität bestmöglich zu dienen. Er suchte ein Gegeneinander abzubauen, ohne dabei neue asymmetrische Abhängigkeiten einzugehen“ (S. 320). Das große Gewicht, das er dabei dem Faktor der persönlichen Kommunikation beimaß, war die Voraussetzung manchen politischen Fortschritts und begründete enge Freundschaften, so vor allem mit Valéry Giscard d’Estaing und Gerald Ford. Wenn auch sein Verhältnis zu Jimmy Carter aus vielerlei Gründen ein „toxische(s)“ (S. 72) gewesen sei, habe ihn das nicht gehindert, „direkt miteinander [zu] sprechen“, denn „die wahre Kunst eines Staatsmannes bestand seiner Ansicht nach darin, dass man sich zugunsten eines übergeordneten Ziels über persönliche Animositäten hinwegsetzte“ (S. 316). Im Umgang mit den kommunistischen Machthabern habe er wechselseitige Berechenbarkeit angestrebt: „‘Es ist gefährlich, wenn man für die Russen ein Rätsel ist‘, betonte er, und wenn ‚die Russen uns ein Rätsel sind, wird es sehr, sehr gefährlich‘“ (S. 318). Letzterer Erkenntnis mag in der gegenwärtigen Weltlage wieder uneingeschränkte Aktualität zukommen.
Kapfenberg Werner Augustinovic