Seliger, Hubert, Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse. Nomos, Baden-Baden 2016. 621 S. Zugleich Diss. phil. Univ. Augsburg 2014. Besprochen von Werner Schubert.

 

Eine Gesamtdarstellung der Strafverteidiger in den Nürnberger Prozessen (1945-1949) liegt bislang nicht vor, so dass es zu begrüßen ist, dass sich Seliger dieser Thematik unter „Herausstellung der politisch-historischen Rolle der Nürnberger Anwälte“ angenommen hat (S. 16). Bei der Auswahl der darzustellenden Verteidiger ging es nicht darum, „eine umfassende Darstellung der Nürnberger Anwälte zu schreiben, sondern die ‚politischen Verteidiger‘ unter den Anwälten zu identifizieren und ihr Agieren als politischer Akteur systematisch darzustellen“ (S. 16f.). Deshalb handelte es sich nicht primär darum, „eine Rechtsgeschichte der Nürnberger Verteidigung in Bezug auf die verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Nürnberger Anwälte zu erstellen“ (S. 13), sondern vielmehr primär um die „politisch-historische Rolle“ der Nürnberger Anwälte, und die Frage, wie bestimmte Verteidiger „zu politischen Akteuren bzw. ‚public historians‘ in dieser sich an dem politischen Symbol ‚Nürnberg‘ entzündenden Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheit wurden“ (S. 13). Bereits in der Einleitung setzt sich Seliger mit den maßgeblich von Otto Kirchheimer geprägten Begriffen des politischen Anwalts und der politischen Justiz auseinander. Im Anschluss an Kirchheimer stellt Seliger als Definition des „politischen Anwalts“ heraus: Jemand sei dann ein politischer Anwalt, „wenn er im Rahmen eines juristischen Verfahrens Aussagen über die vergangene oder gegenwärtige politische Ordnung trifft, die über das reine Mandanteninteresse an einer effektiven Strafverteidigung oder (Prozess-)Vertretung hinausgehen, also Aussagen im Spiel sind, die nicht mehr nur die Kontextualisierung der konkreten Taten des Angeklagten oder eine konkrete Rechtsposition betreffen, sondern einen Beitrag zum ‚Kampf um die Rechteordnung‘ liefern“ (S. 26; S. 28ff. zu vier Typen des politischen Anwalts). Für den ITM-Prozess und die zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse hat Seliger 264 Verteidiger ausgemacht, von denen bereits 77 im Hauptprozess tätig gewesen waren (S. 38), wobei zwischen Hauptverteidiger und Hilfsverteidiger zu unterscheiden ist. Letztere beschafften Zeugen und Dokumente sowie verfassten „zentrale Schriftsätze“ der Verteidigung (S. 98). Hochschullehrer wie Maurach und Schwinge, der auch „inoffizieller“ Hilfsverteidiger bei der Verteidigung des Oberkommandos der Wehrmacht und des Generalstabs war (S. 551f.), unterstützten die Verteidigung durch Gutachten.

 

Das erste von vier Kapiteln des Werkes Seligers befasst sich mit der „politischen Sozialisation“ der Nürnberger Verteidiger (S. 37-113) im Rahmen eines „gruppenbiografischen Ansatzes“. Das allgemeine Sozialprofil ergibt, dass fast alle Anwälte der bürgerlichen Mittelschicht entstammten, deren Berufsanfänge teilweise bis in die Kaiserzeit reichen. Die „radikalen Vertreter“ der Anwälte waren erst in der nationalsozialistischen Zeit sozialisiert worden. In einem weiteren Abschnitt arbeitet Seliger die politische Sozialisation der Anwälte zwischen Kaiserreich und nationalsozialistischer Zeit heraus (Erfahrungsräume zwischen Krieg und Revolution, Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Gliederungen). 61% der Nürnberger Anwälte gehören der NSDAP als Mitglied an (davon 8% bereits in der Zeit vor der „Machtergreifung“). An zahlreichen Beispielen verdeutlicht Seliger, dass eine „Selbstreflexion über die Rolle des Anwaltsberufs im ‚Dritten Reich‘“ nicht stattgefunden habe (S. 114). Viele von ihnen ahnten zumindest von den nationalsozialistischen Verbrechen etwas oder hatten Kenntnisse von ihnen, deren Umfang allerdings nicht überschätzt werden sollte (S. 95ff.). Eine „Behinderung der Auswahl der Verteidiger oder ‚Vorselektion‘“ hat nach Seliger nicht stattgefunden (S. 115), wobei jedoch ihre politische Vergangenheit nicht unbeachtet blieb.

 

Im 2. Kapitel seiner Untersuchungen behandelt Seliger die „Verteidigerteams“ der Nürnberger Prozesse (S. 116, kurzbiografische Angaben zu allen offiziellen Verteidigern im Text oder in den Fußnoten), geordnet nach Mandantengruppen (Hermann Göring, Rudolf Heß, Franz von Papen, Minister und Staatssekretäre, Führungskorps der NSDAP und Gliederungen der SA und SS, Großindustrielle, Militär und Generäle). Für die „Protagonisten“ der nationalsozialistischen Zeit (Nähe zu Hitler, zur Partei) fanden sich oft nur Pflichtverteidiger. Keine Schwierigkeiten, einen Verteidiger zu finden bzw. zu wählen, hatten die Angeklagten im Juristenprozess (S. 156ff.) und in den Großindustriellen-Prozessen. Die Angeklagten im OKW-Prozess fanden „mit den Teams um die sich mit der Wehrmacht bzw. Marine vollständig identifizierenden Verteidiger Laternser bzw. Kranzbühler hochmotivierte Anwälte auf ihrer Seite“ (S. 272).

 

Das 3. Kapitel (S. 273-370) befasst sich mit Verteidigerpersönlichkeiten, die „für unterschiedliche Varianten des Umgangs mit dem Symbol ‚Nürnberg‘ stehen“ (S. 35), auf der Grundlage von Plädoyers, Vorträgen und eigenen Veröffentlichungen. In den Teilen 3, 1 und 3, 2 untersucht Seliger Anwälte, welche die Nürnberger Prozesse grundsätzlich befürworteten (Pflichtverteidiger wie Carl Haensel, Gustav Steinbauer, Friedrich Bergold; Hermann Jahreiß, Eduard Wahl und Rudolf Dix). Als „Grenzgänger“ bezeichnet Seliger Hellmuth Becker und Richard von Weizsäcker (S. 301ff.), während Anwälte wie Otto Kranzbühler, Adolf Seidl,  Rudolf Aschenauer und Laternser (S. 313ff., 338ff.) die Nürnberger Prozesse als „Siegerjustiz mit aller Schärfe“ ablehnten (S. 36). Georg Fröschmann, Justus Koch und Hans von Zwehl fühlten sich „aus vaterländischer Pflicht“ dazu berufen, „ihr Land bzw. ihr Volk vor einer zweiten Kriegsschuldthese zu bewahren“ (S. 369). Eine kleine, einflussreiche Gruppe von Nürnberger Anwälten spielte im Rahmen „der ‚Vergangenheitspolitik‘ der fünfziger und sechziger Jahre bzw. im Umgang mit den NS-Verbrechen“ (S. 36) eine nicht unwichtige Rolle (hierzu 4. Kapitel S. 371-522), besonders in Prozessvertretungen in NSG (Gewaltverbrechen-)Verfahren und gegen die „Rechte“ (S. 374ff.). Hingewiesen sei auf die Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung der nationalsozialistischen Zeit durch die Nürnberger Anwälte H. Kraus und H.-G. Seraphim. Der Heidelberger Kreis (u. a. Wahl, Kaufmann und Grewe; S. 434ff.) trat für eine „offizielle Lösung der Kriegsschuldfrage“ ein und betrieb „handfeste Lobbyarbeit unter dem Blickwinkel nationalkonservativer Eliten, welche die Prozesse gegen Deutsche in erster Linie als Bürde für den neuen deutschen Staat und seine Souveränität, nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines zukünftigen Wehrbeitrags, sahen“ (S. 435), hatte aber insgesamt eine „Demokratie stabilisierende Funktion“ (S. 435). Im Unterkapitel 4.3 geht es um die Rechtsanwälte Achenbach und Aschenauer, die eine „umfassende Amnestie“ in der Kriegsverbrecherfrage durchzusetzen versuchten und sich in einem „lose organisierten Netzwerk“ von Anwälten und ehemaligen RSH-Juristen gegen die „Ludwigsburger ‚Verfolgungsstelle‘“ (S. 477) wandten (S. 436ff.). Im Kapitel 4.4 bringt Seliger einen Überblick über die Strafverteidigung Nürnberger Anwälte in NSG-Verfahren im Inland und Ausland (S. 477ff.; Kranzbühler, E. Schmidt-Leichner, E. Schwinge, Aschenauer, Laternser, Seidl).

 

Der Schlussteil steht unter der Überschrift: „Der historisch-politische Ort der Nürnberger Verteidiger: Eine Zusammenfassung“ (S. 523-533). Ein Großteil der Anwälte stand „zumindest als ‚Vernunftsrepublikaner‘ auf Seiten der Adenauer-Regierung und deren Lösung der Kriegsverbrecherfrage“ (S. 528). Die radikalen Anwälte bildeten ein „rechtes Gegenstück“ zu den „Links-Anwälten“ der Bundesrepublik (S. 530). Zuzustimmen ist dem abschließenden Resümee Seligers: „Im Zusammenspiel mit den anderen Prozessakteuren als ‚public historians‘ und als Mitwirkende in der gesellschaftlichen Debatte um die Vergangenheit erbrachten sie (d. h. die Nürnberger Anwälte) eine eigenständige Leistung für die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime.“ Hierin liege die „eigentliche Bedeutung der Nürnberger Anwälte als ‚politische Verteidiger‘“ (S. 533). Das Werk wird abgeschlossen mit den bereits genannten Kurzbiografien von Verteidigern und Gutachtern (S. 535ff.). Hilfreich wären m. E. gewesen eine tabellarische Zusammenstellung der Nürnberger Prozesse, der Angeklagten und der Verteidiger (vgl. hierzu das Werk von Kim C. Priemel und Alexa Stiller, NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung, Hamburg 2013, S. 761ff.). Wichtig erscheint es, darauf hinzuweisen, dass Seliger unzählige Entnazifizierungs-, Personal- und Rechtsanwaltsakten sowie Nachlässe herangezogen hat, um die Biografien der Nürnberger Verteidiger zu erschließen. Im Ganzen hätten die Plädoyers einzelner wichtiger und wegweisender Verteidiger noch detaillierter herausgestellt werden sollen. Insgesamt liegt mit dem reichhaltigen Werk Seligers eine auch für den Rechtshistoriker, der sich mit der nationalsozialistischen Zeit und der Geschichte der Nachkriegszeit befasst, eine grundlegende Untersuchung vor, auf der Darstellungen über die Verteidigungsstrategien einzelner Anwälte aufbauen können.

 

Kiel

Werner Schubert