Schröder, Jan, Rechtswissenschaft in Diktaturen. Die juristische Methodenlehre im NS-Staat und in der DDR. Beck, München 2016. XIII, 146 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Die juristische Methodenlehre ist zwar in der alltäglichen Praxis nicht übermäßig angesehen, jedenfalls aber in der Theorie das Kernstück der Rechtswissenschaft. Mit ihm hat sich der in Berlin 1943 geborene Verfasser, nachdem er zusammen mit seinem Lehrer Gerd Kleinheyer 1976 erstmals unter dem Titel Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten eine mehrfach aufgelegte biographische Einführung in die zunächst deutsche, später europäische Rechtswissenschaft veröffentlicht hatte, nach einer strafrechtlichen Dissertation des Jahres 1969 spätestens seit seiner Habilitationsschrift des Jahres 1979 über Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert monographisch beschäftigt. Seitdem ist er wohl der beste Kenner der Geschichte der Methodenlehre der deutschen Rechtswissenschaft geworden.

 

Als solcher hat er 2001 eine grundlegende Untersuchung über Recht als Wissenschaft vorgelegt, die davon ausgeht, dass der jeweilige Rechtsbegriff auch die Methodenlehre prägt. Diese Grundidee hat sich als so erfolgreich erwiesen, dass 2012 eine zweite Auflage erforderlich wurde. Obwohl dies der Titel nur bei genauerem Hinsehen erkennen lässt, ist die neue Fassung nicht einfach nur eine zweite, verbesserte Ausgabe, sondern eine wesentliche Erweiterung der bisherigen drei Teile um einen vierten Teil, mit dem der Verfasser über das 19. Jahrhundert hinaus bis zu dem Jahre 1933 und damit weit in Richtung Gegenwart ausgreift.

 

Von daher hätte eigentlich eine einfache zeitliche Weiterführung nahegelegen. Der Verfasser hat sich demgegenüber aber für eine abweichende Lösung entschieden. Sie folgt unter dem weitgespannten allgemeinen Titel Rechtswissenschaft in Diktaturen (schlechthin?) nicht der bloßen chronologischen Abfolge, sondern legt den eigentlichen Akzent auf die sachliche Gegebenheit der Diktatur, weshalb zwar die deutsche Rechtswissenschaft über 1933 hinaus bis 1945 erfasst wird, für die Jahre 1945 bis 1990 aber nur in dem Teilbereich der Deutschen Demokratischen Republik und nicht auch der Bundesrepublik Deutschland.

 

Gegliedert ist diese wichtige und interessante Studie in drei Abschnitte. Nacheinander betrachtet der Verfasser die zeitlich einander folgenden Epochen der nationalsozialistischen Herrschaft und der Deutschen Demokratischen Republik. Auf dieser Grundlage wendet er sich abschließend einer Zusammenfassung zu.

 

Innerhalb seiner beiden zeitlichen Abschnitte betrachtet er die Rechtsquellenlehre, die Theorie der Gesetzesinterpretation (beispielsweise Rechtsfindung aus dem Gesetz, Rechtsfindung neben den Gesetz, Rechtsfindung gegen das Gesetz, Gegenbewegungen) und die Theorie der wissenschaftlichen Rechtsbearbeitung. Jeweils am Ende gelingt ihm eine übersichtliche Zusammenfassung. Dementsprechend vergleicht er abschließend Rechtsquellen- und Methodenlehre im Nationalsozialismus und in der Deutschen Demokratischen Republik.

 

Danach waren der nationalsozialistische Staat und die Deutsche Demokratische Republik Diktaturen ohne wirklichen oder wahren Volkswillen und ohne tatsächliche kontrollierende Gewaltenteilung. In ihnen herrschte der Wille des Führers bzw. der Partei, der ideologisch von den vorangehenden Vorstellungen in Richtung Nationalsozialismus bzw. Sozialismus abwich. Dementsprechend bestanden autoritär-ideologische Spannungen, deren mögliche Widersprüche durch die Vorstellung aufgelöst wurden, dass der Diktator (Führer bzw. Partei) stets die ideologisch richtige Entscheidung trifft.

 

Alleinige oder jedenfalls vorrangige Rechtsquellen sind demnach die von der Führung geschaffenen Normen, denen gegenüber das Gewohnheitsrecht bedeutungslos ist. In der Gesetzesauslegung werden Interpretationserwägungen abgelehnt, so dass das Richterrecht keine oder nur geringe Bedeutung hat. Die Rechtswissenschaft soll nicht pluralistisch verfahren, sonders den richtigen ideologischen Wert verwirklichen.

 

Dementsprechend weicht die Rechtstheorie der beiden deutschen Diktaturen von der Rechtstheorie des zweiten Deutschen Reiches einschließlich der Weimarer Republik vor allem dadurch ab, dass es dort nach dem Verfasser kein autoritäres und kein (ausgeprägtes) ideologisches Prinzip gibt, weil Gesetze zumindest die Mitwirkung des frei gewählten Parlaments erfordern und weltanschauliche Neutralität besteht oder zumindest bestehen soll. Dementsprechend sind vor 1933 Gewohnheitsrecht und Richterrecht (etwas?) bedeutsam(er). Auch wenn es in der bürgerlichen Rechtstheorie nicht immer einfache Antworten gibt, ist mit dem Verfasser die Suche nach der Wahrheit aber wohl grundsätzlich besser als die ideologische Manipulation der Wahrheit.

 

Nicht übersehen werden darf dabei freilich, dass auch die (demokratische) Professionalisierung des Gesetzgebers seit dem 19. Jahrhundert für die Bedeutung des Gewohnheitsrechts und des Richterrechts durchaus Gewicht haben dürfte. Wo hunderte lebenslanger Berufsparlamentarier von dem Gesetzgebungsmonopol sehr einträglich und bequem leben, können ihnen Gewohnheitsrecht und Richterrecht nicht mehr wirklich wichtig und teuer sein. Vorrangig ist ihnen wohl in erster Linie die Durchsetzung ihres Willens und der Interessen ihrer Klientel ohne Rücksicht auf den Willen aller Untergebener.

 

Insgesamt führt der Verfasser seine wertvollen methodologischen Einsichten zeitlich erheblich weiter. Veranschaulicht wird dieser wissenschaftliche Fortschritt in dem 20. Jahrhundert interessanterweise unter Verwendung eines Gemäldes Giuseppe Arcimboldos von 1566. Möglicherweise können die neuen überzeugenden Einsichten in Zukunft noch in eine zusammenfassende dritte Auflage des Grundwerks eingefügt werden.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler