Rupps, Martin, Der Lotse. Helmut Schmidt und die Deutschen. Orell Füssli, Zürich 2015. 368 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Am 29. März 1890 veröffentlichte das britische Magazin Punch eine in der Folge berühmt gewordene Karikatur mit dem Titel Dropping the pilot. Die Grafik zeigt den von Kaiser Wilhelm II. entlassenen Reichskanzler Otto von Bismarck in der Rolle des das (Staats-)Schiff endgültig verlassenden Lotsen. In der Tat geriet das Deutsche Reich nach Bismarcks Abgang unter seinen Nachfolgern, denen es am diplomatischen Weitblick des erfahrenen Lotsen mangelte, erheblich ins Schlingern und zerbrach schließlich in den Untiefen des Ersten Weltkriegs. Es ist somit nicht ohne Aussagekraft, dass Der Spiegel nahezu ein Jahrhundert später, am 20. September 1982, beim ebenso unfreiwilligen politischen Abgang des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik, Helmut Schmidt (1918 – 2015), gerade auf das historische Bild Bismarcks als Lotsen zurückgriff und Schmidt mit einer analogen Coverdarstellung „Der Lotse geht von Bord“ würdigte. Was für Bismarck im zeitgenössischen Kontext galt, traf wohl auch auf Helmut Schmidt zu: Jeder für sich eine eigenwillige, erfolgreiche und zugleich umstrittene Persönlichkeit, deren Wirken sich im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung unauslöschlich einprägte und auch jenen, die am politischen Stil, den Methoden und den Zielen berechtigte Kritik übten, Respekt abnötigte. Beide sollten nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik als graue Eminenzen und moralische Instanzen im Hintergrund das Zeitgeschehen weiterhin kritisch kommentieren, Helmut Schmidt infolge des ihm vergönnten, außergewöhnlich hohen Lebensalters deutlich länger als Otto von Bismarck. Während aber die Abkehr von Bismarcks außenpolitischen Leitlinien mit Recht als eine der Ursachen für den nicht einmal drei Jahrzehnte später erfolgten Untergang des wilhelminischen Kaiserreiches angesehen wird, haben Helmut Schmidts Nachfolger das Amt besser verwaltet und mit der deutschen Wiedervereinigung und Deutschlands faktisch wirtschaftlich dominierender Stellung im Rahmen der Europäischen Union dem Land bislang eine prosperierende Entwicklung beschert.
Wenngleich die erwähnte, an Bismarck angelehnte Karikatur des Spiegel als belebendes visuelles Element auch im vorliegenden Band auftaucht (S. 235) und festgehalten wird, dass für Schmidt ebenso wie für Bismarck gelte, dass, „je weiter sein Abschied aus dem Amt zurückliegt, desto deutlicher wird, was man an ihm hatte, […] desto tiefer wird die Kluft zwischen seinem Format und dem seiner Nachfolger“ (S. 291), geht es in der Arbeit nicht um einen systematischen Vergleich der beiden Kanzler und ihrer Leistungen. Im Blickpunkt steht vielmehr ein politisches Porträt Helmut Schmidts, das sein Agieren generationell zu verorten und in den spezifischen Kontext der Entwicklung der Bundesrepublik einzuordnen sucht. Der Verfasser, der Journalist, Politikwissenschaftler und Historiker Martin Rupps, schlägt dabei keine panegyrischen Töne an, sondern versucht Helmut Schmidts Lebensleistung aus einer kritischen, um Verstehen bemühten Distanz abzustecken. Er hält fest, dass „dem aktiven Politiker Helmut Schmidt noch kein Charisma zugeschrieben“ werde; „die politische Renaissance des Helmut Schmidt und die Bedeutung, die seine Persönlichkeit ohne ein Amt erfährt, gehört zu den Wundern der Berliner Republik. […] Aus dem ‚charismatischen Verlierer‘ Helmut Schmidt wird mit den Jahren der politische Märtyrer und schließlich ‚der beliebteste Politiker der bundesdeutschen Geschichte‘.“ Es stelle sich daher die berechtigte Frage: „Wo endet die angemessene Verehrung für Helmut Schmidt, wo beginnt seine nicht angemessene Verklärung?“ (S. 307ff.).
Als Krisenmanager und wegen seiner Klartextsprache („Schmidt Schnauze“) populär, sei es primär Schmidts Politikverständnis, an welchem sich die Geister scheiden. Dessen Wurzeln seien in den Erfahrungen der Kriegsgeneration begründet: „Die Angehörigen der Generation Helmut Schmidt wurden durch die Erfahrung von NS-Diktatur und Krieg traumatisiert. Ihre politische Elite, zu der ein Franz Josef Strauß und ein Helmut Schmidt zählen, offenbarte mit den Jahren paranoide Züge, die politisch hoch bedeutsam wurden. Traumata und Paranoia haben die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland stark beeinflusst und beeinflussen sie bis heute“ (S. 42). Die Unterdrückung der eigenen Emotionen, die hinter einer rationalen, realistischen Haltung zurückzutreten hatten, die strikte Abneigung gegen die Analyse von Persönlichem und das Fehlen von Empathie für die Anliegen jener, welche die tradierten Werthaltungen dieser Generation in Frage zu stellen wagten, seien nicht nur typische Wesenszüge Helmut Schmidts gewesen, sie deckten sich auch mit dem Erfahrungshorizont der überwiegenden Mehrheit der deutschen Gesellschaft. „Die sogenannten Sekundärtugenden – Tapferkeit, Disziplin, Selbstkontrolle – sind bestimmende Werte in der familiären und schulischen Erziehung dieser Generation“ (S. 62), im Krieg ergänzt durch Gehorsam, Pflichterfüllung und Kameradschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Geschichte ihrer politischen Köpfe „die Geschichte ihrer Umschulung und Selbstzähmung“ gewesen, zur Demokratie mit ihren Spielregeln habe es keine Alternative gegeben. Aber die Prägungen der Sozialisation bleiben erhalten, „noch in ihrem ethischen Anspruch denken und handeln die ‚gelernten Demokraten‘ als autoritäre Demokraten, überlebt der ‚innere Soldat‘“ (S. 74f.). Die unvermeidbaren Spannungen entladen sich rhetorisch, aber auch in Suchtproblemen (Alkohol, Nikotin, Arbeit).
Helmut Schmidts politische Karriere trage von Anfang an „einen unverkennbar plebiszitären Zug“ (Ulrich Blank); gerade die Eigenschaften, die ihn in der SPD zum Außenseiter machen, kommen beim Volk an: „Denn er ist biografisch einer der ihren: Er kommt aus einer Aufsteigerfamilie, er hat für das Vaterland gekämpft. Und er blickt – wie die meisten Deutschen – nach vorn“ (S. 85). So weiß er im nicht seltenen Fall innerparteilicher Kritik immer, „dass seine Plattform auf anderen, festeren Pfeilern steht und dass auch die Partei auf einen Gescheiten wie ihn nicht verzichten kann“, und reizt die Strategie der SPD-fremden Profilierung „bis zur Schmerzgrenze“ aus (S. 87f.). So macht Helmut Schmidt seinen Weg „unter erstaunlichen Bedingungen: Er wird nie auf einem SPD-Parteitag zum Kanzlerkandidaten gewählt. Er wird auch nie von den Deutschen als Bundeskanzler abgewählt [und] bleibt von allen bisherigen SPD-Kanzlern am längsten im Amt […, als] zweite(r) Volkskanzler nach Konrad Adenauer und vor der Volkskanzlerin Angela Merkel“ (S. 91).
Vor allem zählt er zum Kreis jener „Soldatenpolitiker“, die „zu einem autoritären Demokratieverständnis (neigen); ihr Umgang mit den demokratischen Organisationen ist autoritär; ihr persönlicher Führungsstil ist autoritär“, womit die Politiker der Generation Helmut Schmidt in ihrem selbstherrlichen Verhalten „die schlechtesten Demokraten der deutschen Nachkriegsgeschichte“ gewesen seien (S. 125f.). Was Helmut Schmidt während seiner politischen Laufbahn umgesetzt hat, hat er mit diesem defizitären Demokratieverständnis realisiert: 1962, als er während der Hamburger Sturmflut seinen Ruf als Macher begründete und durch sein entschlossenes, unkonventionelles Agieren Menschenleben rettete, brach er „unzählige Gesetze“ (S. 90). Als Bundeskanzler (1974 – 1982) trat der studierte Volkswirt vehement für die „Dominanz des Ökonomischen“ (S. 96) ein, forcierte - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Ölkrise – technikgläubig vorbehaltlos die Atomkraft, drängte in der Sicherheitspolitik gegen breiten Widerstand auf den NATO-Doppelbeschluss, zeigte kein Verständnis für die gesellschaftspolitischen Anliegen der 1968er-Bewegung und stellte auf dem Höhepunkt des Terrors der Rote Armee Fraktion (RAF), dem „Deutschen Herbst“ 1977, das gesamtstaatliche Interesse über das Leben einzelner Geiseln. Es sei dies aber „die letzte Schlacht dieser Generation“ gewesen: „Zum letzten Mal wird ein Konflikt militärisch gesehen und mit der Tugend der Tapferkeit beendet; zum letzten Mal kann die Generation Helmut Schmidt im hermetisch abgeriegelten Befehlsstand, zu dem sie das Kanzleramt gemacht hat, ganz allein entscheiden“ (S. 162).
Als nach SPD-internen Querelen das dritte Kabinett Schmidt am 17. September 1982 auseinanderbricht, „werden zwar die Bande zwischen Helmut Schmidt und Teilen der SPD-Fraktion sowie Teilen der FDP-Fraktion durchtrennt, doch gleichzeitig erneuern sich die Bande zwischen Helmut Schmidt und den Deutschen und werden enger denn je. […] Mit Helmut Schmidts Staatsschauspiel über den Verrat eines Häufleins Liberaler, die in ihrer politischen Existenzangst die Nerven verloren haben, können sie sein Selbstbild vom entschlossenen, durchsetzungsfähigen Politiker wieder zum eigenen Bild von Helmut Schmidt machen“ (S. 234). In Anbetracht der massiven Herausforderungen der Gegenwart (Flüchtlingskrise) und der dilettantisch anmutenden Versuche der Politik, diese in den Griff zu bekommen, mag gerade heutzutage die Popularität des verstorbenen Altkanzlers auch der unerfüllten Sehnsucht der Bevölkerung nach einer effizienten, handlungsfähigen und vertrauenswürdigen Führung geschuldet sein, wie sie Helmut Schmidt einst so mustergültig zu verkörpern verstand. Politisch tritt die jüngere, aber bereits verspätete Generation Helmut Kohl seine Nachfolge an. Der Verfasser verweist auf die interessante These des Politikwissenschaftlers Franz Walter, wonach ein Vergleich von Aufstieg und Fall der politischen Leitgenerationen mit Aufstieg und Fall der jeweiligen Leitgenerationen in der Gesellschaft zeige, dass die Bundesrepublik seit ihrer Gründung bis in die Gegenwart von „verspäteten“ Regierungen geführt werde. Eine Verjüngung des Führungspersonals entspräche jedenfalls demokratischer Normalität und könnte politischen Stillstand aufbrechen.
Als Martin Rupps‘ analytisches Buch auf den Markt kommt, ist Helmut Schmidts lange Lebensuhr beinahe abgelaufen. Als Leser und Rezensent muss man bedauern, dass ihm nunmehr endgültig die Gelegenheit genommen ist, sich zu dessen Inhalt zu äußern. Insbesondere wird die spannende Frage unbeantwortet bleiben, ob der altersweise Lotse sich dazu durchringen hätte können, in diesen späten Jahren das hier gezeichnete Psychogramm der nach ihm benannten Generation als zutreffend anzuerkennen, oder ob die in Fleisch und Blut verankerte Mentalität des disziplinierten, seine persönlichen Befindlichkeiten verbergenden Soldaten eine solche schmerzliche öffentliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich wie ehedem verhindert hätte.
Kapfenberg Werner Augustinovic