Rosenberg, Alfred, Die Tagebücher von 1934 bis 1944, hg. und kommentiert v. Matthäus, Jürgen/Bajohr, Frank. Fischer, Frankfurt am Main 2015. 650 S., 10 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Innerhalb der nationalsozialistischen Funktionärsriege kommt Alfred Rosenberg (1893 – 1946) die Rolle des führenden Ideologen zu, der mit „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) nach gängiger Ansicht die intellektuell anspruchsvollste Schrift zur Weltanschauung des Nationalsozialismus vorgelegt hat. Gelegenheiten, die Ideologie in die Praxis umzusetzen und konkret Macht auszuüben, boten sich dem publizistisch außerordentlich rührigen Rosenberg nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in unterschiedlichen Funktionen: als Reichsleiter und „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung in der NSDAP“, dem die nach dem Krieg am Chiemsee einzurichtende „Hohe Schule“ als Parteiuniversität der NSDAP anvertraut werden sollte, als Chef des Außenpolitischen Amts (APA) der NSDAP und des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg“ (ERR) und auf staatlicher Ebene insbesondere im Amt des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, das er von 1941 bis 1945 bekleidete. Seine alliierten Nürnberger Richter erkannten ihn in sämtlichen Anklagepunkten schuldig, entsprechend wurde die Todesstrafe ausgesprochen und durch Erhängen vollzogen.

 

Es ist daher ein Glücksfall für die Forschung, dass dieser einflussreiche Mann über ein volles Jahrzehnt hinweg das, was er für bemerkenswert erachtete, einem privaten Tagebuch anvertraut hat. Unter den nationalsozialistischen Granden hat sich nur Rosenbergs Konkurrent Joseph Goebbels in gleicher Weise ausführlich schriftlich geäußert, längst ist die Edition Elke Fröhlichs (1987ff.) gerne zitiertes Grundlagenmaterial zur Geschichte des Dritten Reichs. Dass die nunmehr in ihrer überwiegenden Masse (1936 – 1944) im Archiv des United States Holocaust Memorial Museums (USHMM) in Washington, DC und mit einem geringeren Teilbestand (1934/35) im US-Nationalarchiv, der National Archives and Records Administration (NARA), College Park, MD im Original verwahrten Aufzeichnungen Alfred Rosenbergs so lange auf ihre Publikation warten mussten, hängt mit ihrer eigenwilligen Überlieferungsgeschichte zusammen. Die Herausgeber, Jürgen Matthäus – er ist Direktor der Forschungsabteilung am Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies des USHMM und war zuletzt am Editionsprojekt der dreibändigen „Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion“ (2011ff.) führend beteiligt – und Frank Bajohr – er leitet das Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München –, gehen im Rahmen ihrer ausführlichen und erhellenden, inklusive der Anmerkungen mehr als 100 Seiten umfassenden Einleitung darauf näher ein; darüber hinaus enthält diese eine vierseitige Kurzbiographie Rosenbergs, grundsätzliche problematisierende Hinweise zum Tagebuch und in der Hauptsache eine kritische Auseinandersetzung mit Rosenbergs Positionierung im Hinblick auf die „Judenfrage“ und deren „Endlösung“.

 

Der Editionsteil umfasst das Tagebuch mit einem Druckraum von etwas über 400 Seiten, einsetzend mit der Eintragung vom (korrigiert) 14. Mai 1934 und endend mit dem 3. Dezember 1944, sowie 23 ergänzende, das Verständnis des Tagebuchs befördernde Dokumente auf weiteren 85 Seiten, fast ausschließlich Auszüge aus umfangreicheren Texten wie selbständigen Publikationen, Denkschriften, Reden, Erlässen, Vermerken, Protokollen oder Schreiben. Diese Quellen sind im Anhang auch überblicksmäßig in einer Liste zusammengefasst und reichen von Rosenbergs Schrift „Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten“ (1919/1920) – sie ist von ihm als seine erste deklariert worden – bis zu seinem Schreiben an Bormann inklusive eines Resolutionsentwurfs „in Vorbereitung eines antijüdischen Kongresses“ vom Juni 1944. Das Tagebuch wie die Zusatzdokumente werden durch jeweils separate Fußnotenapparate (924 bzw. 97 Fußnoten) kommentiert, wobei es sich in der Hauptsache um Erläuterungen biographischen Charakters und seltener um allgemeine Klarstellungen oder textkritische Hinweise handelt.

 

Der lange ungewisse Verbleib der Tagebücher Alfred Rosenbergs mag möglicherweise die Sphäre des Strafrechts nicht unberührt lassen. Im allgemeinen Chaos um die exorbitanten Mengen der für die Durchführung des Nürnberger Internationalen Militärtribunals (IMT) unerlässlichen Beweismaterialien sei ein gewisser Dokumentenschwund schwer zu unterbinden gewesen, obwohl man sich überlegte, selbst die Papierkörbe nachzusortieren, um so den zufälligen Untergang relevanter Aktenstücke zu verhindern. Eine komplette Vollständigkeit der Rosenberg-Tagebücher sei wohl schon vor Kriegsende nicht mehr gegeben gewesen, bedingt durch Bombenkrieg, Brandschäden und womöglich vorsätzliche Vernichtung. Von dem noch aufgefundenen Material „registrierten die amerikanischen Anklagevertreter Teile von Rosenbergs Tagebuchnotizen für die Zeitabschnitte vom 14. Mai 1934 bis zum 18. März 1935 sowie vom 6. Februar 1939 bis 12. Oktober 1940 unter den Nürnberger Dokumentennummern 1749-PS bzw. 198-PS. Aus unbekannten Gründen wurde der Rest des Tagebuchs nicht als potentiell prozessrelevantes Beweismaterial angesehen und fiel daher aus dem Schema der Nürnberger Aktenverwaltung heraus“ (S. 30f.). Der 73 Seiten umfassende, alleinig gebundene Tagebuchteil für 1934/1935 gelangte in der Folge über die Dienststelle des Militärstaatsanwalts der US-Armee (Judge Advocate General, JAG) in Wiesbaden in die NARA, während Robert M. W. Kempner das Gros der Aufzeichnungen offenbar an sich genommen hat und sie auch der vom Gericht dazu ermächtigten Verteidigung Rosenbergs mit der Begründung, sie seien nicht auffindbar, nicht aushändigte. „Gegen Ende der Nürnberger Verfahren stellte ihm [der Leiter der Abteilung für Dokumentenkontrolle] Fred Niebergall eine Art Blankovollmacht aus in Gestalt der Ermächtigung, ‚Material […] zu entnehmen und zu behalten, für Zwecke der Forschung und des Studiums, für Schreiben und für Vorträge‘. Von dieser Möglichkeit machte Kempner ausgiebig Gebrauch und überführte zahlreiche Nürnberger Originalakten in sein Haus in Lansdowne, Pennsylvania. Als Jurist wusste Kempner mit einiger Sicherheit, dass Niebergalls Ermächtigung keine hinreichende Grundlage für die widerrechtliche Aneignung von Staatseigentum darstellte; dennoch blieben die in Nürnberg gesammelten Dokumente bis zu Kempners Tod 1993 in seinem Privatbesitz“ (S. 32). Danach „verschwanden Teile der Sammlung […] in dunklen Kanälen“, sodass nach mühevollen Nachforschungen erst im Dezember 2013 „Mitarbeiter des U. S. Department of Homeland Security zusammen mit anderen Materialien 425 von Rosenberg handgeschriebene Tagebuchseiten beschlagnahmen und dem USHMM übergeben (konnten)“ (S. 36f.).

 

Aus dem Inhalt der Tagebücher in Zusammenschau mit den von ihnen edierten weiteren Unterlagen leiten die Herausgeber, die ältere Literatur korrigierend, ab, dass „Rosenbergs ideologische Grundsätze weniger aus einem prinzipiell unveränderbaren Katechismus (bestanden) als vielmehr aus basalen ‚Haltungen‘ in einem weltanschaulichen Feld, das nicht zuletzt durch Pragmatismus und Flexibilität gekennzeichnet war. Dies gilt selbst für die ‚Judenfrage‘. […] Gestand Rosenberg den Juden zunächst noch grundsätzliche Rechte zu, gehörte er in den Kriegsjahren zu den Verfechtern eines rigorosen Vernichtungsgedankens. […] Auch wenn Rosenberg eine Aura des Selbstmitleids und der Unzufriedenheit umgab, konnten sich seine ‚Erfolge‘ beim Umsetzen der NS-Agenda – bei der Vorbereitung der deutschen Invasion Norwegens oder der Machtübernahme Marschall Antonescus in Rumänien, beim Plündern von Kunstgut und Kulturgut im deutsch besetzten Europa, beim Verbreiten antisemitischer Parolen bis in den Nahen Osten und nicht zuletzt als Vordenker und Mitverantwortlicher der ‚Endlösung‘ – durchaus sehen lassen. Auf kaum einen anderen NS-Führer trifft der Begriff ‚Überzeugungstäter‘ so vorbehaltlos zu wie auf Rosenberg, der bis zuletzt glaubte, was er predigte, und unter Einsatz neuer, radikaler Methoden praktizierte, was er für selbstverständlich hielt“ (S. 20f.).

 

So unmissverständlich diese allgemeine Bewertung ausfällt, so wenig wird sie im Einzelnen an ganz konkreten, Rosenberg persönlich zuzuordnenden Aktionen festgemacht. Ohne Zweifel zeigen zahlreiche Äußerungen in Dokumenten aus seinem unmittelbaren Bereich, dass er über das, was den Juden in den besetzten Ostgebieten, für die er als Reichsminister verantwortlich war, widerfuhr, im Bilde war und es zu hundert Prozent billigte und förderte. Ein Aktenvermerk seines Ministeriums vom Januar 1942 betont, „Minister Rosenberg lege persönlich entschiedenen Wert auf die Hereinnahme der jüdischen Mischlinge ersten Grades in den Judenbegriff des Ostens“ (S. 587, Dok. 16), und im Frühjahr 1943 forderte er in einer Rede vor Mitarbeitern: „Wir dürfen uns nicht damit begnügen, daß die Juden von einem Staat zum anderen geschoben werden, und daß vielleicht hier und da noch ein großes jüdisches Ghetto steckt, sondern unser Ziel kann nur das alte sein: Die Judenfrage in Europa und in Deutschland ist nur dann gelöst, wenn es keinen Juden mehr auf dem europäischen Kontinent gibt“ (S. 606, Dok. 22). Aber er war wohl klug genug, unmissverständliche schriftliche Aussagen, die ihn abseits verbaler ideologischer Kraftmeierei in verantwortlichen Zusammenhang mit konkreten Vernichtungsmaßnahmen – die er bereitwillig Himmlers Apparat überließ – bringen konnten, in seinen Tagebüchern zu unterlassen. In der Hauptsache ging es ihm dort um die eifersüchtige Wahrung seiner Kompetenzen gegenüber Konkurrenten und die politische Federführung im Ostraum. So schreiben die Herausgeber: „Himmlers Vorgehen dürfte Rosenberg nicht unlieb gewesen sein, da es den Vollzug der ‚Endlösung‘ stillschweigend zur Sache der SS machte und gleichzeitig der Zivilverwaltung die Möglichkeit ließ, auf ihre politischen Hoheitsrechte zu pochen“ (S. 68), aber auch, dass „aufgrund der Quellenlage Aussagen zu den Weisungen Rosenbergs an seine Reichskommissare in der ‚Judenfrage‘ (spekulativ) bleiben müssen“ (S. 65).

 

Die mit vorbildlicher Sorgfalt edierten Tagebücher vermögen somit leider nur wenig zusätzliches Licht in diese geschichtlich bedeutsamen Abläufe zu bringen und illustrieren stattdessen vor allem das Kompetenzgerangel und die Eifersüchteleien innerhalb des nationalsozialistischen Führungszirkels, in die sich der durch seine „ideologisch determinierte Empathielosigkeit“ (S. 26) charakterisierte Alfred Rosenberg laufend verwickelt sah. Dabei sei „Rosenberg – ähnlich wie Goebbels – auf seinen ‚Führer‘ fixiert [gewesen] und notierte akribisch auch kleinste Gunstbeweise wie Händedruck, Schulterklopfen und aufmunternde Worte. Auch abschätzige Bemerkungen des ‚Führers‘ über gerade abwesende Rosenberg-Konkurrenten wurden eifrig registriert, wobei Rosenberg gar nicht in den Sinn kam, dass es sich hier um ein subtiles Herrschaftsmittel Hitlers handelte. Denn dieser äußerte sich – wie das Tagebuch Goebbels‘ verrät – auch über Rosenberg in dessen Abwesenheit abfällig und versicherte den jeweils Anwesenden seiner besonderen Wertschätzung“ (S. 24). Am 2. April 1941 konnte Alfred Rosenberg in seinem Tagebuch triumphierend den Höhepunkt seiner Laufbahn und seiner Gunst bei Hitler mit der Avisierung des Ostministeriums verzeichnen, wobei er Hitlers entscheidende Äußerung sogar doppelt zitiert: „Rosenberg, jetzt ist Ihre grosse Stunde gekommen!“ (S. 372f., im Original unterstrichen). In den letzten Kriegsjahren „schlüpfte Rosenberg in seinem Tagebuch immer häufiger in die Rolle eines Kritikers der real existierenden Verhältnisse im ‚Dritten Reich‘“ (S. 27), blieb aber stets seinen weltanschaulichen Kernüberzeugungen, seinem verschwörungstheoretischen Antisemitismus und seiner bedingungslosen Führerverehrung treu und suchte die Schuld an Missständen nie bei sich, sondern stets bei anderen. Die Tagebuchaufzeichnungen bestätigen damit in ihrer Gesamtheit im Wesentlichen das Bild, das Ernst Piper 2005 in seiner großen Biographie von dem Reichsminister gezeichnet hat. Ihre bescheidene Substanz im Hinblick auf das konkrete Geschehen im Osten mag vielleicht erklären, weshalb die Nürnberger Ankläger gut und gerne auf die Masse dieses Materials verzichten zu können glaubten.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic