Röger, Maren, Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945. Fischer, Frankfurt am Main 2015. 304 S., 14 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als unerlässliche Voraussetzung des natürlichen Weiterbestehens der Arten zählt der Sexualtrieb zu den elementaren Bedürfnissen vieler Lebewesen. Dem Menschen ist es vorbehalten, diesen Trieb im Interesse der Ordnung des Gemeinwesens durch moralische Leitvorstellungen, vor allem aber auch durch Rechtsvorschriften zu domestizieren. In liberalen Gesellschaften betreffen diese Normen in erster Linie Grenzüberschreitungen (Strafrecht) sowie zivilrechtliche Folgen (Familienrecht, Erbrecht), während ansonsten der einvernehmliche sexuelle Verkehr mündiger Personen als deren Privatangelegenheit keinen gesetzlichen Einschränkungen unterliegt. Anders sah dies bekanntlich der auf eine rassistische Grundlage gebaute nationalsozialistische Staat, der eine rassische Verantwortung der Individuen gegenüber dem Volksganzen postulierte und durch entsprechende Vorschriften (das prominenteste Beispiel sind ohne Zweifel die Nürnberger Gesetze von 1935) massiv in die Auswahl der Sexualpartner einzugreifen suchte; „Rassenschande“ (geschlechtlicher Verkehr mit als jüdisch definierten Menschen) sowie die Missachtung des „Umgangsverbots“ (intime Beziehungen mit anderen sogenannten „Fremdrassigen“) wurden entsprechend verfolgt.
Angeregt durch ihre Beschäftigung mit der sexuellen Gewalt, die Rotarmisten im Rahmen der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa ausübten, begann sich die in Gießen promovierte und nun als Juniorprofessorin für „Transnationale Wechselbeziehungen: Deutschland und das östliche Europa“ an der Universität Augsburg Geschichte lehrende Verfasserin 2009 zunächst für die noch wenig erforschten Sexualverbrechen der deutschen Besatzer in Polen zu interessieren und erweiterte die Thematik bald auf das gesamte Spektrum sexueller Kontakte. Eine Mitarbeiterstelle am Deutschen Historischen Institut Warschau eröffnete ihr optimale Möglichkeiten zur Recherche vor Ort, wobei ihre Studie ein erweitertes Verständnis des Besatzungsalltags und der Rassen- und Volkstumspolitik im besetzten Polen anstrebt. Dass Forschungen zur Sexualität dort bislang noch nicht weit gediehen seien, liege an einer ungeschriebenen Tabuisierung, die sich aus unterschiedlichen Quellen speise; dazu zählten etwa geschichtspolitische (vor 1989 wäre mit einer Thematisierung deutscher sexueller Übergriffe unerwünschter Weise zugleich an die auch die „Brudervölker“ nicht aussparenden Vergewaltigungen durch sowjetrussische Soldaten erinnert worden), geschlechtsspezifische (die weitgehend männliche Forschung habe einer Gewaltform, die überwiegend Frauen treffe, kaum wahrgenommen), sozialhygienische (Scham sowie falsch verstandene Diskretion gegenüber den Phänomenen der professionellen Prostitution und der aus der Not geborenen Gelegenheitsprostitution) oder forschungsinteressenabhängige Gesichtspunkte (Konzentration auf Gewalttaten vornehmlich in Ghettos und Lagern).
Warum es Sinn mache, alle drei möglichen Formen sexuellen Kontakts – kommerzielle (Prostitution), konsensuale (deutsch-polnische Besatzungsbeziehungen) und erzwungene Kontakte (Gewalt) – in einem Buch geschlossen abzuhandeln, erklärt Maren Röger plausibel damit, „dass die unterschiedlichen Verantwortlichen an den Schaltstellen der Rassen- und Gesundheitspolitik ‚Intimität, Gewalt und Prostitution‘ zusammengedacht haben: Mit der Bereitstellung sexueller Dienstleistungen in organisierten Bordellen beabsichtigten Heeresführung und Institutionen der Zivilverwaltung, Vergewaltigungen vorzubeugen. Dies basierte auf der Annahme, dass direkte sexuelle Gewalt der Soldaten durch regelmäßigen Sex verhindert werden könne. […] In einem weiteren Schritt hoffte man, Fraternisierung zu unterbinden. […] Auch im Besatzungsalltag waren […] die Grenzen fließend. Beziehungen auf freiwilliger Basis waren auch von der Hoffnung auf Tauschwaren unterschiedlicher Art motiviert, und die Abgrenzung von sexueller Nötigung fällt nicht immer leicht“ (S. 21f.). Nicht zuletzt waren alle drei untersuchten Aspekte „juristische Delikte und wurden dementsprechend von den Instanzen der Exekutive und Judikative untersucht und verfolgt“ (S. 23f.). So hat sich eine zeitgenössische und aus der Nachkriegszeit stammende Behördenüberlieferung ergeben, die im Verein mit Ego-Dokumenten (Feldpostbriefe und Erinnerungsliteratur) und Interviews (unmittelbare und mittelbare Zeitzeugen) das Material für die vorliegende Studie bereitstellt. Diese breitet ihren Inhalt anhand zahlreicher Fallbeispiele mit unterschiedlicher quantitativer Gewichtung aus. Prostitution wird eingangs als erstes Thema auf 45 Seiten abgehandelt, wobei Einrichtung und Organisation der Besatzerbordelle, die organisierte Zwangsprostitution und inoffizielle Ausformungen der Prostitution beleuchtet werden. Das den deutsch-polnischen Besatzungsbeziehungen vorbehaltene zweite Kapitel ist mit 90 Druckseiten das umfangreichste. Es beschreibt verfügbare Kontakträume und die Vielfalt der Beziehungsformen und Beziehungsverläufe, die selbst die Möglichkeiten „intensiver Liebe“, wie sie sich in der Beziehung des Gestapo-Chefs in Zakopane, Franz Maiwald, zur Polin Maria T. offenbart (vgl. S. 102ff.), oder der (seltenen) Legalisierung einer sogenannten „Ostehe“ nicht ausschloss. Im dritten, abschließenden Abschnitt geht es um Muster sexueller Gewalt und deren Ahndung.
Aus rechtsgeschichtlicher Sicht interessieren vor allem die Ausführungen zu den Disziplinierungsmaßnahmen, die zur Eindämmung deutsch-polnischer Besatzungsbeziehungen vorgesehen waren und zur Anwendung gebracht wurden (für SS und Polizei zeigte vor allem Reichsführer-SS Heinrich Himmler Interesse an einer gerichtlichen Ahndung von Verstößen gegen das „Umgangsverbot“ und ließ sich Fälle persönlich vorlegen, während die nachgeordneten Dienststellen, abgestützt auf eine Verfügung des Hauptamts SS-Gericht [die Verfasserin spricht etwas irreführend von einer „Verfügung des Hauptamt-Gerichts“; S. 145], die Erledigung von Straftaten unter der Hand auf disziplinarischem Weg favorisierten), sowie die Behandlung sexueller Straftaten durch Polizei und Gerichte. Für letztere verweist Maren Röger auf deren auch seinerzeit aufrechte offizialdeliktische Qualität, welche die Strafverfolgungsbehörden bei Kenntnisnahme eines Sexualdelikts grundsätzlich zur Aktivität verpflichtet. In kritischer Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen Birgit Becks (2004), David R. Snyders (2007), Monika J. Flaschkas (2009) und Regina Mühlhäusers (2010) konstatiert die Verfasserin, dass „andere Instanzen der Besatzung sehr viel konsequenter ermittelten und verurteilten“ als die Militärbehörden (Geheime Feldpolizei, Feldgerichte), wobei sie „Gendarmerie, Schutzpolizei, Kripo und Gestapo“ für Recherche und Aufklärung benennt, welche die Fälle, sofern ein Deutscher beteiligt war, an die Gerichte weiterleiteten (S. 199). Dabei flossen – kaum überraschend zu jener Zeit – auch rassistische Wertungen in die Erhebungen und Beurteilungen ein, häufig neben einer sittlichen Einschätzung des Opfers, die allerdings - wie richtig bemerkt wird - „bereits seit dem Kaiserreich belegt und […] bis heute oft genug Gegenstand von Vergewaltigungsprozessen (ist)“ (S. 202). Trotz mancher ideologischen Verzerrung und eigenwilligen bis uneinheitlichen (strafmildernd/strafverschärfend) Berücksichtigung diverser Entlastungsstrategien gewinnt man doch im Großen und Ganzen aus der Darstellung den Eindruck, dass die Gerichte schwere Sexualstraftaten angemessen zu ahnden bemüht waren, vor allem dann, wenn das Ansehen der Besatzungsmacht gefährdet schien. In solchen Fällen wurden selbst Todesstrafen verhängt. Dabei muss jedoch stets im Blick behalten werden, dass ausschließlich vollzogene oder versuchte Vergewaltigungen überhaupt vor Gericht kamen; Übergriffe unterhalb dieser Schwelle (wie unerwünschtes Berühren von Geschlechtsteilen oder erzwungene Nacktheit) gelangten üblicherweise nicht zur Anklage oder wurden (wie - durch Zeugen überlieferte - Beleidigungen mit sexueller Konnotation) nicht einmal aktenkundig. Nach einer systematischen Zusammenstellung der den Sexualbereich betreffenden, damals anzuwendenden Rechtsnormen sucht man im vorliegenden Band vergeblich.
In einem größeren Zusammenhang legten die erhobenen Fakten folgendes, von der Verfasserin nach einem knappen Epilog zum juristischen und sozialen Umgang mit den vormaligen Kriegsbeziehungen in der Nachkriegszeit gezogene Fazit nahe: Im besetzten Polen „wurde ausprobiert, wie eine ideale deutsche Welt im Osten […] aussehen könnte. […] Zentrale Aufgabe der Behörden […] war die Überwachung und Regulierung von Sexualität, Eheschließungen und Geburten“, Sexualpolitik somit „ein zentrales Element der Rassen- und Volkstumspolitik“. Diese Sexualpolitik äußerte sich einerseits als „Verbotspolitik mit gewollten Ausnahmeregelungen“, andererseits als „aktive Prostitutionspolitik“. Bei der Betrachtung deutscher Besatzungsverbrechen in Polen seien „massenhafte Verletzungen der sexuellen Integrität“ der Einheimischen – im Prostitutionssystem der Deutschen in „organisierte(r) Form“, in individuell oder kollektiv begangenen Vergewaltigungen und Nötigungen in „wildwüchsigste(r) Form“ und in konsensualen Beziehungen „in subtiler Weise“ – bislang größtenteils ausgeblendet worden (S. 219f.). Während es allerdings in der Sowjetunion unter Kriegsbedingungen durch Deutsche „zu andauernden und massiven sexuellen Übergriffen“ gekommen sei, waren in den zivil verwalteten polnischen Territorien „Nötigungen und Erpressungen offenbar verbreiteter als direkte sexuelle Gewalt“ (S. 222f.).
Die Verfasserin hebt besonders hervor, dass der mit dem „Umgangsverbot“ verbundene absolute Kontrollanspruch des NS-Staates über den privaten Bereich nicht vollständig durchgesetzt werden konnte und sich die Führung dessen auch bewusst gewesen sei; man habe hier „keinen erbitterten Kampf ausgefochten“, da in Anbetracht der Entwicklung an den Fronten der „Zufriedenheit der Truppe“ Vorrang vor ideologischen Vorgaben eingeräumt worden sei. Allerdings sei „trotz der überraschend umfangreichen Freiheiten“ dennoch die Strafpraxis unterschiedlich gewesen - die Palette der ausgesprochenen Sanktionen reichte von der Verwarnung bis zur Einweisung in ein Konzentrationslager -, sodass für Männer, die Beziehungen zu einheimischen Frauen unterhielten, und für ihre weiblichen Partner in Kriegsbeziehungen de facto „völlige Rechtsunsicherheit“ herrschte (S. 224ff.). In Fällen von „Rassenschande“ (sexueller Umgang mit Jüdinnen) kannten die Behörden aber grundsätzlich kein Pardon, Lagerhaft war die gängige Strafe. Somit ergibt die empirische Überprüfung der Verhältnisse in Polen in Bezug auf sexuelle Beziehungen zwischen Einheimischen und Besatzern ein unter den gegebenen Strukturen zu erwartendes Bild: Die Deutschen nützten ihre privilegierte Stellung selbstverständlich auch auf sexuellem Gebiet, wobei sich das gesamte Spektrum menschlichen Verhaltens von ehrlichen Liebesgefühlen bis zum brutalen Sexualverbrechen nachweisen lässt. Auch auf Seite der diskriminierten Polen existierte ein solches Spektrum, man konnte geliebter Partner, mittelbarer Nutznießer von Privilegien, Verbrechensopfer oder irgendetwas dazwischen sein. Die Besatzungsbehörden, die um menschliche Bedürfnisse wussten, steuerten einen Kurs zwischen Ideologie und Pragmatismus, die Ahndung von gravierenden Sexualstraftaten Deutscher musste ihnen aber schon im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Ansehen der Besatzungsmacht ein Anliegen sein. Zugleich machten sie sich in der Umsetzung der rassistischen NS-Bevölkerungspolitik selbst schwerster Verstöße gegen die Menschenrechte schuldig, so bei der sexuellen Versklavung polnischer Frauen für das Bordellsystem. Anzumerken ist ferner, dass eine seriöse Quantifizierung der in Rede stehenden Phänomene als Basis weiterer komparativer Studien aufgrund der selektiven Quellenlage kaum möglich erscheint.
Die preisgekrönte, vorbildlich lektorierte und stilistisch ansprechende Arbeit versteht sich gleichermaßen als Beitrag zur Alltags-, Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte und rückt einen integralen Bestandteil deutscher Besatzungsrealität in Polen gekonnt und anschaulich in das Licht geschichtswissenschaftlichen Interesses. Sie ist mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie mit einem Personenregister ausgestattet. Allerdings leidet die Lektüre etwas unter der sich allgemein immer stärker ausbreitenden Unsitte, die Anmerkungen statt in benutzerfreundlichen Fußnoten geschlossen in einem Endnotenapparat unterzubringen, was den vom andauernden Vorblättern und Zurückblättern entnervten Leser dazu verleiten könnte, sie irgendwann einfach zu ignorieren; das kann nicht im Sinn der Sache sein.
Kapfenberg Werner Augustinovic