Preuß, Hugo, Gesammelte Schriften. Band 3 Das Verfassungswerk von Weimar, hg. und eingel. und erl. v. Lehnert, Detlef/Müller, Christoph/Schefold, Dian. Mohr (Siebeck), Tübingen 2015. XIV, 751 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Seit 2007 gibt die Hugo-Preuß-Gesellschaft die Schriften ihres Namenspatrons heraus. Mit dem anzuzeigenden dritten Band ist das Unternehmen abgeschlossen. Es versammelt - bis auf vier umfangreiche Monografien - die Schriften des Autors, die von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu seinem Tod 1925 reichen. Die meisten sind bereits veröffentlicht, wenn auch nicht immer an leicht zugänglicher Stelle. Unveröffentlichtes konnte nur aus einem kleinen Bestand von Briefen und Akten im Bundesarchiv beigesteuert werden. Der Nachlass ist wohl auf der Flucht der Familie vor den Nationalsozialisten verloren gegangen. Die Bibliothek blieb allerdings erhalten, da sie die Universität Tokio gleich nach dem Tod ihres Besitzers erworben hat. Die Herausgabe dieser Schriften ist nicht nur ein wissenschaftliches Ereignis, sondern auch ein politisches Zeichen. Da Preuß heute als einer der wenigen demokratischen Staatsrechtler gilt, hat der Bundestag die Edition in größerem Umfang gefördert und der Bundestagspräsident ein Vorwort beigesteuert.

 

Von den fünf Bänden ist der jetzt vorliegende dritte zum „Verfassungswerk von Weimar“ sicherlich der historisch bedeutendste. Denn Preuß gilt gemeinhin als der „Vater der Weimarer Reichsverfassung“. Das ist insofern zutreffend, als den von Preuß intensiv begleiteten Beratungen der Nationalversammlung sein Entwurf zusammen mit einer Denkschrift von Anfang Januar 1919 zugrunde lag. Dieser ist allerdings von den Parlamentariern und schon zuvor von Vertretern der Reichsländer meist mit guten Gründen auch in der Substanz umgeformt worden. Denn Preuß war kein ausgesprochener Verfassungsrechtler. Von Otto von Gierke kommend, hatte er sich zunächst im Kommunalrecht und Genossenschaftsrecht profiliert. Er war allerdings bereits im Wilhelminischen Reich als Systemkritiker mit konstruktiven Verfassungsvorschlägen aufgefallen. Seit 1895 Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung und der preußischen Landesversammlung / Landtag seit 1919 hatte er auch praktische parlamentarische Erfahrung. Die Frage, warum der sozialistische Rat der Volksbeauftragten, dessen Vorsitzender Friedrich Ebert Preuß bis dahin nicht kannte, diesen aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammenden Linksliberalen am 15. November 1918 zum Staatssekretär des Inneren machte und ihm damit, wie vom Februar bis Juni 1919 als erstem Reichsinnenminister der Weimarer Republik, die politische Verantwortung für die Verfassungsberatungen übertrug, drängt sich auf. Umso erstaunlicher, dass auf sie auch in der umfangreichen Einleitung nicht eingegangen wird. Deren Verfasser dürfen sich dann aber auch nicht wundern, dass die von ihnen beklagte negative Begründung, dass die Sozialisten „keine Leute“ für eine solche Aufgabe hatten, weiterlebt (S. 15f.). Nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt hat er als Mitglied der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung im Sommer 1920 auch noch die preußische Landesverfassung mitgestaltet. Auch dazu gibt es einige Texte in dieser Edition.

 

Preuß erweist sich in seinen Entwürfen als bedingungsloser Anhänger der Volksherrschaft. Er stellt sich aber zu wenig die Frage, inwiefern das englische Vorbild auf die deutschen Verhältnisse übertragbar ist, obwohl ihn mit Blick auf den ehemaligen Reichstag, die Parteien und das Bürgertum Skepsis beschleicht. Ausfluss dieser Überzeugung ist unter anderem, dass nicht nur der Reichskanzler, dem die Richtlinienkompetenz der Reichspolitik zusteht, vom Vertrauen des Volkshauses abhängig ist, sondern auch jeder einzelne Minister. Ursprünglich hatte er daran gedacht, das Amt des Kanzlers und das des preußischen Ministerpräsidenten in Personalunion führen zu lassen, obwohl auch hier die Erfahrung eher dazu riet, dieses Modell Bismarcks nicht zu wiederholen. Ebenfalls sollte der Reichspräsident, auf den die Rechte des Kaisers zu übertragen waren, auf zehn Jahre vom Volke gewählt werden. Erst seit der Flucht des Kaisers stand für Preuß fest, dass das neue Staatswesen nur eine Republik sein könne. Schließlich tritt er für Referenden, selbst über die Verfassung ein.

 

Andererseits war Preuß kein Föderalist. Eher gegen seine Überzeugung beließ er es bei den Ländern. Sah er doch im einzelstaatlichen Partikularismus das entscheidende Hindernis für Parlamentarismus und Demokratie! Folglich stärkte und vermehrte er die Kompetenzen des Reiches und wies innerhalb der Reichsgesetzgebung dem Reichsrat nur eine Nebenrolle zu. Die in ihn zu entsendenden Vertreter sollten die Landtage bestimmen. Die Bildung neuer „Freistaaten“ war vorgesehen. Dazu hat Preuß selbst Vorschläge gemacht, die auf die Zerschlagung Preußens hinausliefen. Sein Konzept scheiterte an den im Staatenausschuss organisierten ehemaligen Bundesstaaten schon im Januar 1919. Hier traten zu seiner Überraschung bayerische Partikularisten im Bund mit ehemaligen sozialdemokratischen Zentralisten in Preußen für den Erhalt der alten Bundesstaaten ein.

 

Schwer vorstellbar ist, wie sein Vorschlag, das Völkerrecht zum bindenden Bestandteil der Verfassung des Reiches zu machen, verwirklicht werden konnte.

 

Nach der Lektüre der abgedruckten Texte wird klar, in welchem Umfang problematische Züge der Weimarer Verfassung auf Preuß zurückgehen, der wenig auf praktische Umsetzbarkeit achtete und nach demokratischer Perfektion strebte. Wenn der Entwurf auch das Ergebnis von Beratungen war, an denen sich vor allem Ministerialbeamte, einige Wissenschaftler, ein Vertreter Österreichs und Politiker, allerdings nur Sozialisten und Linksliberale, beteiligten. Denn es war vor allem der zuständige Staatssekretär des Innern, der, wie er selbst zuvor geschrieben hatte, „rationalistisch voraussetzungslos“, orientiert an den Vorbildern westeuropäischer Demokratien und auf der Grundlage von viel Parlamentarismustheorie und Verfassungstheorie an die Aufgabe ging. Nochmals deutlicher wird der Geist, aus dem diese heraus angegangen wurde, durch den Vorsatz, den „Obrigkeitsstaat“, ein Begriff der wohl auf ihn zurückgeht, zu überwinden und die neue Verfassung als den „staatsrechtlichen Niederschlag der Revolution vom 9. November 1918“ zu konzipieren. Das alles kann man, wie dies die Herausgeber tun, im Nachhinein als eine vorbildliche demokratische Gesinnung preisen. Es hatte aber mit der bisherigen politischen Entwicklung in Deutschland wenig zu tun, war theorielastig, ignorierte die aktuellen Realitäten wie die Verfassungsvorstellungen von politischen Kräften, auf die man spätestens in der auch von Preuß favorisierten Nationalversammlung angewiesen sein würde. Es ist so, wie Detlef Lehnert im Vorwort schreibt. Verfassungen scheitern letztlich nicht an einzelnen Konstruktionsfehlern, sondern dann, wenn sie von der politischen Kultur nicht gestützt werden. Und genau da lag der zu kritisierende Ansatz von Preuß. Sein jahrelanger publizistischer Kampf gegen den wilhelminischen Obrigkeitsstaat hatte ihm den Blick dafür getrübt, für welche politische Kultur er eine Verfassung zu entwerfen hatte. Er kann als ein erster Vertreter der These vom deutschen Sonderweg gelten, da er wie seine Nachfolger die deutsche Entwicklung unkritisch am westeuropäischen Vorbild maß.

 

Den Hauptteil der Edition machen die Schriften von Preuß aus, die im Zusammenhang mit seinen Entwürfen zur Reichsverfassung und deren Beratung entstanden sind. Daneben ist ein umfangreiches Fragment eines Kommentars zur Reichsverfassung, vor allem zum Verhältnis von Reich und Ländern und zum Reichstag, das von Gerhard Anschütz 1928 herausgegeben wurde, abgedruckt. Dazu kommen noch einige Ausführungen zur preußischen Verfassung. In der fünften Abteilung finden sich einige Texte, die nicht von Preuß stammen. Doch lässt sich hier die Genese der Reichsverfassung anhand der verschiedenen Entwürfe von ihm und solchen, die aus den Beratungen des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung hervorgegangen sind, verfolgen. Interessant sind auch die Überlegungen zum Wahlrecht.

 

Die Texte sind durch ein Namensverzeichnis und ein nicht allzu umfangreiches, doch praktisch gegliedertes Sachverzeichnis erschlossen. Die Erläuterungen Christoph Müllers beschränken sich auf Nachweise und einige zentrale Probleme der Verfassungsgebung.

 

Da Hugo Preuß zweifellos die wichtigste Persönlichkeit im Zuge der Entstehung der Weimarer Reichsverfassung war, kann so durch die Präsentation von dessen einschlägigen Schriften und deren editorischer Aufbereitung ein vertieftes Verständnis von dieser gewonnen werden.

 

Eichstätt / Römerberg                                                           Karsten Ruppert