Nehmer, Bettina, Das Problem der Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz (= Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft 4). Lang, Frankfurt am Main 2015. 130 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Seit 2013 veröffentlicht Joachim Perels in seiner Reihe „Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft“ Schriften, die sich dem Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kritisch widmen. Erschienen sind seither insgesamt vier Bände: von Dirk Schmaler („Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit – zwischen Aufklärung und Verdrängung“, 2013), Clea Laage („Gesetzliches Unrecht: Die Bedeutung des Begriffs für die Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Die Rezeption der Radbruchschen Formel in Rechtsprechung und Rechtslehre nach 1945“, 2014), Joachim Perels („Der Nationalsozialismus als Problem der Gegenwart“, 2015) und die aktuelle Publikation Bettina Nehmers, die an der Universität Hannover Politik- und Geschichtswissenschaften studiert hat. Festzustellen ist, dass es sich bei den Veröffentlichungen um keine originären neuen Texte handelt, wie das Erscheinungsjahr jeweils suggerieren mag. Vielmehr geht es um Arbeiten, die bereits vor beträchtlicher Zeit an anderer Stelle erschienen sind, die aber der Herausgeber für so bedeutsam für die Gegenwart hält, dass er ihre Neuauflage betreibt. Denn Joachim Perels, Sohn eines hingerichteten Widerstandskämpfers gegen das nationalsozialistische Regime, treibt eine Befürchtung um: Der promovierte Jurist, Mitbegründer der „Kritische(n) Justiz“ und emeritierte Professor für Politische Wissenschaft der Leibniz Universität Hannover ortet immer wieder eine Tendenz zur „Umdeutung( ) der despotischen Struktur [der] NS-Herrschaft: von der Relativierung des Antisemitismus über die Umwandlung des Hitlerregimes in einen Rechtsstaat bis zur Ausblendung der Auswirkungen der fast vollständigen Übernahme des Justizapparats des Dritten Reichs, durch den die Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien bei der Ahndung der Gewaltverbrechen, vor allem durch die systematische Auflösung des Täterbegriffs für nationalsozialistische Massenmörder, vielfach unterminiert wurde“ (Perels, Problem 2015, S. 7).

 

Bettina Nehmers Text ist beinahe zwei Jahrzehnte alt. Er erschien zunächst im Nomos Verlag unter dem Titel „Die Täter als Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen“, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.): Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats (Baden-Baden 1998), S. 635 – 668. Selbstredend ist damit ihr Stand jener der historischen Forschung der 1990er-Jahre; die von ihr rezipierte Literatur stammt, ausweislich des Literaturverzeichnisses, aus 1991 und den drei Jahrzehnten davor. Als maßgebliche Grundlage für die geschichtliche Kontextualisierung der Einsatzgruppen zieht die Verfasserin überwiegend das Standardwerk Helmut Krausnicks und Hans-Heinrich Wilhelms „Die Truppe des Weltanschauungskrieges“ (1981) heran. Wichtige Dokumente wurden erst viele Jahre später ediert, wie die dreibändige, kommentierte Sammlung der „Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion“ 1941 bis 1943 (2011/2013/2014) durch die Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. Bettina Nehmer hat ihre Studie auch nicht dahingehend aktualisiert, als dass sie – was denkbar gewesen wäre – die mittlerweile eingetretenen Änderungen im justiziellen Umgang mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen durch deutsche Gerichte in einem ergänzenden Kapitel reflektieren würde. Ihre somit ausschließlich rückwärtsgewandte Arbeit beschäftigt sich mit den bundesdeutschen Einsatzgruppenverfahren der Jahre 1950 bis 1983, die von ihr exemplarisch präsentierten und analysierten Fälle sind den entsprechenden Bänden von Christiaan Frederik Rüters „Justiz und NS-Verbrechen – Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966“ (1968ff.) entlehnt. Damit war der Zugang der Verfasserin zu den Quellen noch ein im Hinblick auf den Zeitraum limitierter. Beispielsweise kann es sich bei dem in ihrer statistischen Auswertung gelisteten, einzigen Prozess des Jahres 1980 nur um das Verfahren gegen Kurt Christmann, vormals Führer des Einsatzkommandos 10a der Einsatzgruppe D, handeln – um ein Verfahren, das aber erst viel später, nämlich 2011 im Band XLIV unter den Nummern 864a und 864b, in Rüters Sammlung dokumentiert worden ist.

 

Trotz dieser einschränkenden Anmerkungen und des heute keineswegs mehr avantgardistischen Charakters der festgestellten Fakten – es ist längst allgemeiner Konsens, dass die seinerzeitige „Gehilfenrechtsprechung“ in Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in vielen Fällen dem begangenen Unrecht nicht angemessen war und einem weit verbreiteten gesellschaftlichen Bedürfnis nach Verdrängung und Exkulpation entsprungen ist – ist zunächst zu würdigen, dass sich die Verfasserin als Nichtjuristin dieses strafrechtsgeschichtlichen Themas angenommen hat. Nach einer als erstes Kapitel gezählten, nur zwei Seiten umfassenden Einleitung gibt sie in einem zweiten Kapitel einen kurzen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung und Vernichtungstätigkeit der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) vom „Anschluss“ Österreichs im März 1938 über die Besetzung des Sudetenlandes, der Resttschechei, den Polenfeldzug bis hin – mit Schwergewicht – zum Krieg gegen die Sowjetunion. Kapitel drei widmet sich anschließend dem auf der Grundlage des alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10 als Fall 9 der Nürnberger Nachfolgeprozesse (NMT) unter amerikanischer Ägide 1947/48 verhandelten Militärgerichtsverfahren gegen den ehemaligen Chef der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf und andere, kurz „Einsatzgruppenprozess“. In diesem Zusammenhang werden auch die Urteilsbegründung, die Fragen der Zuständigkeit des Gerichtshofs und der Rechtmäßigkeit der Rechtsgrundlage sowie die Einlassungen der Angeklagten (Notwehr, Notstand, Handeln auf höheren Befehl) einer kurzen Würdigung unterzogen.

 

Die verbleibenden drei Kapitel der vorliegenden Studie sind dem Agieren bundesdeutscher Gerichte im Umgang mit Einsatzgruppenverbrechen vorbehalten, nachdem die Wiedereinsetzung der deutschen Justiz erfolgt und nach dem sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess mit der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg 1958 eine funktionsfähige gemeinsame Vorermittlungsbehörde in Sachen nationalsozialistische Gewaltverbrechen geschaffen worden war. Rechtliche Grundlage der Prozesse gegen Einsatzgruppentäter war nun das deutsche Strafgesetzbuch (StGB), angeklagt wurde zumeist Mord (§ 211 StGB) in Täterschaft (§ 25 StGB) und Beihilfe (§ 27 StGB). Zwischen 1945 und 1949 sowie zwischen 1951und 1956 gab es keine Verfahren, zunächst wegen fehlender Befugnis durch alliierten Vorbehalt, später schlicht aus einem Mangel an notwendiger Information. Das solitäre Verfahren aus dem Jahr 1950 mit zwei Angeklagten hinzugerechnet, wurden sodann zwischen 1957 bis 1983 insgesamt 50 Prozesse mit 153 Angeklagten abgewickelt; 33 Freisprüchen stehen 9 Verurteilungen wegen Täterschaft und 99 als Gehilfen gegenüber. Während Täterschaft bei Mord als Strafmaß zwangsläufig lebenslange Haft nach sich zog, wurde über 71 Gehilfen – und damit über den Großteil – ein Strafmaß bis zu fünf Jahren verhängt, nur ein geringerer Teil wurde strenger bestraft (6 – 8 Jahre: 13; 9 – 11 Jahre: 9; 12 – 15 Jahre: 6). Im Anschluss an die Statistik präsentiert die Verfasserin aus Rüters Sammlung zum Vergleich jeweils drei Verurteilungen wegen Täterschaft (Weiß/Hering 1950; Dr. Filbert 1962; Rapp 1965), wegen Beihilfe mit hoher Strafzumessung (Böhme 1958; Zenner 1961; Heuser 1963), mit mittlerer Strafzumessung (Dr. Bradfisch 1961; Schönemann 1964; Mohr 1965) und mit geringer Strafzumessung (Schulz 1961; Döring 1964; Graalfs 1964). In den Jahren 1961, 1963 und 1964 wurde – neben 1966 und 1969 – die größte Anzahl an Verfahren verhandelt, wodurch die auffällige Konzentration der Beispiele gerade auf diesen Zeitraum gerechtfertigt erscheint. In einer Auswertung ihrer exemplarischen Fälle kommt Bettina Nehmer zur Schlussfolgerung, dass nur bei den Verurteilungen wegen Täterschaft „die Richter […] den Umfang des Tatbeitrags der Einsatzgruppenverbrecher objektiv ermittelten und bewerteten“, während in allen Fällen von Beihilfe „als Haupttäter Hitler, Himmler und Heydrich angesehen (wurden), denen die volle Tatherrschaft zugerechnet wurde“, womit de facto „durch die Gerichte eine Exkulpation der gesamten deutschen Bevölkerung vorgenommen (wurde) qua Abschiebung der Verantwortlichkeit auf einen totalitären Staatsapparat“ (S. 107ff.).

 

Ein letztes Kapitel erörtert den rechtstheoretischen Hintergrund dieser der subjektiven Abgrenzungstheorie (relevant ist die innere Haltung des Beteiligten zur Tat) entsprungenen Konstruktion, die es zulässt, „dass in extremer Überdehnung dieser Theorie einerseits jemand als Mittäter verurteilt werden kann, der selbst keinen tatbestandsverwirklichenden Beitrag zur Tat geleistet hat und andererseits jemand als Gehilfe verurteilt wird, der in eigener Person den Tatbestand voll erfüllt hat“ (S. 115). In seinen Ausführungen zum sogenannten Staschynskij-Urteil 1962 habe der Bundesgerichtshof in „Überdehnung der subjektiven Teilnahmetheorie“ seine „lange Zeit“ gepflegte Praxis der Anwendung zweier unterschiedlicher Täterschaftskonstruktionen – „ eine bei NS-Gewaltverbrechen und eine bei allgemeiner Kriminalität“ – offiziell legitimiert (S. 117f.). Während Jürgen Baumann (1963) die subjektive Abgrenzungstheorie um die Berücksichtigung des Tatherrschaftswillens ergänzt habe, sei sie von Claus Roxin (1963) unter Verweis auf das Generieren gesetzlich nicht vorgesehener mildernder Umstände, auf die durch die wertende Berücksichtigung des Verhaltens oder der Gesinnung nach der Tat (Sühne, Gewissen) eintretende Rechtsunsicherheit und die Schieflage in der Aufgabenverteilung zwischen Norm und Richterspruch (nur das Gesetz, nicht der Richter habe festzuschreiben, ob jemand Täter oder Gehilfe sei) abgelehnt worden.

 

Dass die Gerichte mit der sogenannte „Gehilfenrechtsprechung“ damals ein von der Mehrheit der Gesellschaft getragenes Bedürfnis nach Verdrängung bedienten, gehe zu guter Letzt auch daraus hervor, dass „es selbst die subjektive Theorie in einer engeren Auslegung zugelassen (hätte), die Schuldigen als Täter und nicht beinahe ausnahmslos als Gehilfen zu verurteilen“. Dazu hätten die Gerichte nur „das Verhalten der Angeklagten vor und während der Exekutionen, eventuell vorliegende Profilierungssucht, besonderen Eifer bei der Durchführung der Mordaktionen usw. konsequenter auslegen müssen“, was sie aber eben nicht taten oder nicht tun wollten; stattdessen „beschränkten sie sich darauf, den Beschuldigten ein inneres Widerstreben bei der Ausführung ihrer Taten zu unterstellen“ (S. 124). Dass sie damit die schwache Lobby der Opfer vor den Kopf stießen, muss ihnen bewusst gewesen sein, wurde aber wohl billigend in Kauf genommen.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic