Maier, Bernhard, Die Kelten. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2016. 383 S., 16 Abb., 14 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Gewissheit um das Objekt der Betrachtung, die in einem so konkreten Titel wie „Die Kelten“ transportiert wird, ist eine trügerische: Denn wiewohl sich bei Herodot die früheste nachweisbare Erwähnung findet, seien die Informationen darüber, was der zeitgenössische Begriff der Kelten eigentlich genau bezeichnete, fragwürdig. So sei „von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der griechischen und römischen Nachrichten über die Kelten die – vergleichsweise junge – Einsicht in jene Eigenart der antiken Ethnographie und Geschichtsschreibung, kleinere Völkerschaften unter einem oft willkürlich gewählten Namen zu größeren – von ihnen ‚Völker‘ (éthnē) genannten – Einheiten zusammenzufassen, ohne sie weiter nach Zeit und Raum zu differenzieren. […] Oft kann man daher weder die genaue Herkunft einer aus zweiter oder dritter Hand übernommenen Information noch deren Wahrheitsgehalt mit einiger Sicherheit abschätzen, zumal Griechen wie Römer augenscheinlich literarische Versatzstücke unterschiedlicher Herkunft nach Gutdünken mit eigenen Beobachtungen kombinierten, wobei sie gerne Verblüffendes und Ungewöhnliches in den Vordergrund rückten“. Die im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich etablierende Vergleichende Sprachwissenschaft definierte die Kelten hingegen ausschließlich über sprachliche Kriterien, wobei zu berücksichtigen sei, „dass die Kelten des europäischen Festlands und Kleinasiens ihre Sprache bis zum Ausgang der Antike gegen das Lateinische bzw. Griechische eingetauscht hatten und mit dem Übergang zum Mittelalter auch die Kenntnis des historischen Zusammenhangs zwischen den Idiomen der antiken Kelten und den Sprachen der Iren, Hochlandschotten, Waliser und Bretonen verloren gegangen war“. Und selbst in der modernen Archäologie sei die Verwendung des Keltenbegriffs zunehmend „uneinheitlich und teilweise auch umstritten“. Fazit: Nach heutiger Kenntnis sei eine Einheit „weder anthropologisch noch kulturell noch im Bewusstsein der Kelten selbst begründet. […] Der Schluss erscheint daher unausweichlich, dass die heute übliche Verwendung des Begriffs ‚keltisch‘ zur Bezeichnung ganz verschiedener Phänomene von der Vorzeit bis zur Gegenwart weniger auf deren fundamentaler innerer Einheit als vielmehr auf einer subjektiven Sichtweise des modernen Betrachters beruht“ (S. 18ff.).

 

Um diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten und Anforderungen Rechnung zu tragen, hat sich der Verfasser entschieden, zwar den Schwerpunkt seiner Darstellung auf das mitteleuropäische und westeuropäische Altertum zu legen (Teil 1: „Die festlandkeltischen Kulturen der Antike“), aber auch dem Weiterleben keltischer Traditionen in Mittelalter (Teil 2: „Die inselkeltischen Kulturen des Mittelalters“) und Neuzeit (Teil 3: „Geschichte, Sprache und Kultur der Kelten vom Humanismus bis zur Gegenwart“) vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt ihrer identitätsstiftenden Funktion nachzugehen. Dieser Aufbau eignete bereits der Erstausgabe des Werks im Jahr 2000. Die durch den wissenschaftlichen Fortschritt (neue Funde, veränderte Interpretationen) notwendige Überarbeitung hat den Gesamtumfang des Bandes nunmehr um 60 Seiten anwachsen lassen, wobei sowohl der auf 24 Kapitel (das sind je 8 Kapitel pro Abschnitt) verteilte laufende Text als auch das Literaturverzeichnis und der visuelle Apparat (Abbildungen und Karten) aktualisiert wurden.

 

Die Darstellung der festlandkeltischen Geschichte in der Antike setzt mit der späten Westhallstattkultur (6. und 5. Jahrhundert v. Chr.) ein, in der die Kelten Mitteleuropas archäologisch greifbar werden. Im Anschluss an die frühe Latènekultur sorgten vermutlich „ein gewisser Bevölkerungsüberschuss, innere Unruhen und soziale Spannungen sowie die Attraktivität der südlichen Länder und ihrer materiellen Kultur […] für jene Züge […], die im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. die Alte Welt in Atem hielten“ (S. 68) und später als keltische Wanderungen bezeichnet worden sind. Die folgenden Kapitel widmen sich Gallien am Vorabend der Romanisierung, den Kelten der Iberischen Halbinsel, in Oberitalien und in Kleinasien sowie abschließend der gallorömischen Kultur von Augustus bis zu Chlodwig. Eingeleitet von einem Blick auf die frühen Kelten Irlands und der Britischen Inseln, behandelt der zweite, im Mittelalter verortete Teil des Bandes zunächst über drei Kapitel Irland mit den Zäsuren der Christianisierung, der Wikingereinfälle, der Ankunft der Normannen bis zur Kolonisierung, sodann Schottland bis zur Reformation, Wales über zwei Kapitel vom Abzug der Römer über die Ankunft der Normannen bis zur Union mit England und schließlich die Entwicklung in der Bretagne bis zur Union mit Frankreich. Im dritten Großabschnitt wird diese räumliche Gliederung in der Abfolge beibehalten und in die Neuzeit fortgeschrieben: Irland von der Kolonisierung über die Katholikenemanzipation bis 1945 (2 Kapitel), Schottland von der Reformation über die Schlacht von Culloden bis 1945 (2 Kapitel), Wales von der Union mit England über die Industrialisierung bis 1945 (2 Kapitel) und die Bretagne von der Union mit Frankreich bis 1945 (1 Kapitel). Ein letztes, den dritten Teil abrundendes Kapitel beschäftigt sich mit der Entwicklung der keltischsprachigen Regionen von 1945 bis zur Gegenwart, bevor ein „Rückblick und Ausblick: Die Kelten in Europa“ betiteltes, übergreifendes Schlusswort ein Resümee zu ziehen versucht.

 

Aus der sich naturgemäß bereits aus der Bandbreite der abgedeckten Epochen ergebenden, außergewöhnlichen Vielfalt der Informationen, die der 1963 geborene Bernhard Maier, der als Professor für Allgemeine Religionswissenschaft und Europäische Religionsgeschichte an der Universität Tübingen lehrt und sich darüber hinaus durch das Studium der Vergleichenden Sprachwissenschaft, Keltischen Philologie und Semitistik sowie durch zahlreiche Publikationen als international anerkannter Spezialist für Geschichte, Kultur, Religion und Sprache der Kelten positionieren konnte, in seinem Buch zusammengetragen hat, kann hier nur eine knappe exemplarische Auswahl angesprochen werden. Ein besonderes Anliegen ist dem Verfasser unter anderem der Hinweis auf die Eigenständigkeit der in der frühen Latènezeit sich ausbildenden, schwer zu deutenden antiken keltischen Kunst, die gekennzeichnet sei durch „das weitgehende Fehlen von Ausdrucksmitteln, die sowohl in der mittelalterlichen als auch in der griechisch-römischen und altorientalischen Kunst eine Rolle spielen“. So gebe es „keine monumentale Steinarchitektur und nur wenige Beispiele großplastischer Darstellungen aus Holz, Stein oder Metall“, des Weiteren „blieben auch die Möglichkeiten der szenischen Darstellung von Handlungs- und Bewegungsabläufen und der individuellen realistischen Porträtierung von Menschen oder Tieren (weitgehend ungenutzt)“. Stattdessen seien die meisten Werke der keltischen Kunst „Erzeugnisse einer handwerklichen Kleinkunst, deren Schöpfer Schmuck, Waffen und Gebrauchsgegenstände aller Art mit großer Liebe zum Detail und technischer Perfektion zu gestalten verstanden. Dabei bedienten sich die Künstler […] einer ausgefeilten Ornamentik, die sich durch Abstraktion und Vieldeutigkeit auszeichnet. Nicht selten können einzelne Muster sowohl positiv als auch negativ ‚gelesen‘ werden, so dass geradezu der Eindruck eines Vexierbilds entstehen kann“ (S. 53). Diese Kunst sei jedenfalls als „erster bedeutender Beitrag der Kelten zur abendländischen Kultur“ (S. 304) anzusehen.

 

Die Sprachgeschichte betrifft eine Korrektur der älteren Forschung, die das Q-Keltische und das P-Keltische als zwei ursprünglich verschiedene Varianten innerhalb des Keltischen vermutet hat. So hätten „neuere Untersuchungen gezeigt, dass die Bedeutung dieses Unterschiedes überschätzt wurde […]. Unterschiede der Laut- und Formenlehre und des Satzbaus, wie man sie seit dem Mittelalter zwischen den goidelischen und britannischen Sprachen feststellen kann, sind wahrscheinlich vergleichsweise jungen Datums und können beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens nicht in die schriftlose Vorgeschichte zurückgespiegelt werden“. Ebenso „unzureichend erforscht“ sei die Frage, „inwiefern man den Einfluss vorkeltischer Sprachen für einige eigentümliche Unterschiede zwischen der insel- und festlandkeltischen Sprachgruppe verantwortlich machen kann“ (S. 164). An anderer Stelle entmystifiziert Bernhard Maier den irischen Nationalheiligen Patrick, der im 5. Jahrhundert lebte und zu dessen Vita nur sehr wenige gesicherte Informationen vorliegen, wenn er festhält: „Wenn die legendarische Überlieferung dem Heiligen die Bekehrung nahezu der gesamten Insel zuschreibt, so handelt es sich augenscheinlich um eine anachronistische Sichtweise, welche die realen geschichtlichen Vorgänge vereinfacht, verkürzt und im Lichte späterer Entwicklungen verklärt“ (S. 168). Eine ganz besondere Erwähnung verdienen die überaus reichhaltigen Informationen, die der Band zu der im deutschen Raum allgemein nur wenig bekannten Literaturgeschichte der keltischsprachigen Regionen in Mittelalter und Neuzeit bereitstellt.

 

Das Thema Recht wird an zwei Stellen jeweils im zweiten Teil des Bandes (Mittelalter) näher erörtert. Zunächst geht es, gestützt vorwiegend auf mehrere Publikationen Fergus Kellys seit den späten 1990er-Jahren, um jene volkssprachlichen Rechtstexte, die einen Einblick in das gesellschaftliche Leben im frühmittelalterlichen Irland geben und „von denen viele einer als Senchas Már (‚Große Überlieferung‘) bekannten Sammlung entstammen. Dabei handelt es sich um Traktate und Kompendien für den Unterricht der Rechtskundigen im traditionellen einheimischen Recht, das man im Unterschied zum lateinischsprachigen kirchlichen Recht als fénechas bezeichnete. Die ältesten dieser Texte wurden im Zeitraum von der Mitte des 7. bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts aufgezeichnet, sind uns jedoch zum größten Teil erst in Handschriften des 14. – 16. Jahrhunderts zusammen mit späteren Randbemerkungen, Einschüben und Kommentaren überliefert. Die irischen Rechtsgelehrten (Plural brithemain, anglisiert brehon) fassten das einheimische Recht in erster Linie im Sinne einer mündlichen Überlieferung auf, so dass seine schriftliche Fixierung wohl auch als Reaktion der einheimischen Rechtsschulen auf die Einführung des primär geschriebenen kirchlichen Rechts zu verstehen ist. Eine wichtige Rolle spielte dabei wohl auch die Zusammenstellung des kirchlichen Rechts zu der Sammlung Collectio Canonum Hibernensis im frühen 8. Jahrhundert“ (S. 172). Die Texte zeigen eine agrarisch verfasste, streng hierarchisch gegliederte Gesellschaft mit den zentralen Bezugspunkten Sippe (fine) und Stamm bzw. Kleinkönigreich (túath, etymologisch verwandt mit dem späteren „deutsch“). Schätzungen zufolge existierten während des Mittelalters in Irland mehr als 150 solcher Kleinkönigreiche mit durchschnittlich jeweils etwa 3000 Individuen, die außerhalb der Grenzen ihrer Herrschaft überwiegend rechtlos gewesen sein dürften. Eine vergleichbare Bedeutung erlangte im vornormannischen Wales König Hywel ap Cadell mit dem Beinamen „der Gute“ (Hywel Dda) im 10. Jahrhundert, der sich nicht allein durch seine territorialpolitischen Erfolge in die Geschichtsbücher schrieb, sondern der darüber hinaus „eine Kodifikation des traditionellen walisischen Rechts (unternahm), die zwar erst aus Handschriften des 12. – 18. Jahrhunderts mit vielfältigen Zusätzen und Änderungen bekannt ist, jedoch bis heute seinen Namen trägt (Cyfraith Hywel Dda / The Law of Hywel Dda)“ (S. 213). Abbildung 15 zeigt begleitend eine Seite aus solch einem walisischen Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts inklusive einer Herrscherdarstellung, zwar ganzseitig, aber leider – wie übrigens alle Illustrationen des vorliegenden Bandes – nur in Schwarzweiß.

 

Abschließend kommt Bernhard Maier noch einmal auf den modernen Keltenbegriff zurück und kontrastiert ihn mit dem des Germanen, wobei „eine Reihe augenfälliger Übereinstimmungen“ erkennbar würden. Doch während die dem Bedürfnis nach Kreation einer nationalen Identität entsprungene „Germanenverherrlichung infolge ihrer Perversion durch den Nationalsozialismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kritisch reflektiert (wurde), so dass entsprechendes Gedankengut heute weithin auf Ablehnung stößt“, habe „in auffälligem Unterschied dazu […] eine kritische Auseinandersetzung mit der Problematik des Keltenbegriffs […] bisher nur in Ansätzen stattgefunden, so dass Unbefangenheit, Naivität und ideologische Verblendung hier vielfach immer noch ineinander übergehen“ (S. 301). Auch in dieser Hinsicht wird das vorliegende, vorbildlich dokumentierte und über ein gemischtes Register hinreichend aufgeschlossene Standardwerk Aufklärungsarbeit leisten.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic