Lütke, Tilman, Hanseatische Tradition und demokratischer Umbruch – Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 7. Januar 1921 (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 7). Nomos, Baden-Baden 2016. 724 S.

 

„Kernthema“ der Arbeit Tilman Lütkes, einer Dissertation an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster im Wintersemester 2015/2016 ist die endgültige hamburgische Landesverfassung vom 7. 1. 1921, über die bisher eine rechtshistorische Monografie nicht vorlag. Mit Recht geht Lütke davon aus, dass „nur aus der ex-post-Perspektive eine sinnvolle rechtsgeschichtliche Einbettung der Normen und ihrer Anwendungspraxis“ erfolgen könne (S. 23). Die zeitgenössischen Werke ergäben nichts darüber, ob „vermeidbare Konstruktionsfehler“ der Verfassung im Hinblick auf die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu rügen seien (S. 23). Im Teil B des Werkes stellt Lütke zunächst die Verfassungsgeschichte der Vorkriegszeit seit dem 14. Jahrhundert dar (S. 27-67) und erörtert in diesem Zusammenhang zunächst die Vereinbarungen des Rats mit der Bürgerschaft (Rezesse), von denen der  Hauptrezess von 1712 die zeitweilig eingeschränkte Machtfülle des Rats zementierte. Das „Kyrion“ liegt, so Lütke, bei Rat und Bürgerschaft zusammen, d. h. dass beide Anteil an der Gesetzgebung haben bzw. „dass Gesetze durch ihren gemeinsamen Beschluss zustande kommen“ (S. 40). Auf die Verfassungsumwälzung durch die französische Herrschaft von 1811-1813 geht Lütke nicht näher ein, da 1814/1815 die überkommene Verfassung alsbald wieder in Kraft gesetzt wurde.

 

Der erste demokratische Verfassungsentwurf der Hamburger Konstituierenden Versammlung (1848-1850; enthalten in: Die Verfassung des Freistaates Hamburg nebst den dazu gehörenden organischen Gesetzen, Hamburg 1849, neu hrsg. von W. Schubert, 1992), über den man gerne detailliertere Einzelheiten erfahren hätte, trat nicht in Kraft. Vielmehr kam es erst 1860 zu einer neuen, 1879 revidierten Verfassung (letztere ist S. 549ff. vollständig wiedergegeben), die am Kyrion festhielt. Das Wahlrecht zur Bürgerschaft (160 Mitglieder) war in aktiver und passiver Hinsicht sehr beschränkt. Ein Bürgerausschuss mit 20 Mitgliedern hatte u. a. über die Einhaltung der Verfassung zu wachen. Deputationen dienten der Entlastung der Verwaltung. Die Justiz war seit 1860 unabhängig und wurde 1879 im Hinblick auf das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 reorganisiert. Im Zuge der Novemberrevolution 1918 übernahm ein Arbeiter- und Soldatenrat bis zum 13. 11. 1919 die Macht. Die am 12. 11. 1918 abgesetzten Organe Hamburgs (Senat und Bürgerschaft) wurden alsbald wieder eingesetzt (S. 81ff.). Nachdem die Mehrheitssozialisten (MSPD) die Oberhand gewonnen hatten, fanden am 16. 3. 1919 die Wahlen zu einer verfassunggebenden Bürgerschaft nach demokratischem Wahlrecht statt (S. 96ff.). Diese verabschiedete am 26. 3. 1919 mit 122 gegen 15 Stimmen (USPD, DNVP) das Gesetz über die vorläufige Staatsgewalt als Notverfassung (S. 105 ff.; Text S. 575) und wählte am 28. 3. 1919 einen neuen Senat (S. 109ff.). Die Notverfassung lehnte sich äußerlich eng an die Verfassung von 1879 an, die gleichwohl tiefgreifend geändert wurde (parlamentarisches Regierungssystem, Wahl des Senats, der durch die Bürgerschaft nur noch ein suspensives Vetorecht hatte; Verhältniswahl der Bürgerschaft und des Bürgerausschusses; S. 115ff.). Im folgenden Abschnitt (S. 148-365) behandelt Lütke die Hamburger Landesverfassung vom 7. 1. 1921, die am 29. 12. 1920 nach Beratungen eines Senatsentwurfs im Verfassungsausschuss und der Ausschussvorlage im Plenum von der Bürgerschaft mit 95 gegen 40 Stimmen (von USPD, HWB, DVP und DNVP) angenommen wurde (S. 158ff.).

 

Zunächst geht Lütke auf die Homogenitätsvorgaben der Weimarer Reichsverfassung und die Auslassungen in der Landesverfassung ein (keine Regelung der Grundrechte, der Judikative und des Verhältnisses des Staats zur Religion und Kirche; S. 162ff.) ein. Durch ein Gesetz vom 2. 11. 1921 wurde aufgrund des Art. 107 WRV eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen (S. 179ff.). Ausführlich erörtert wird die Rechtsstellung der Bürgerschaft (S. 191ff.), des Bürgerausschusses (S. 228ff.) und des Senats (S. 237ff.). Die aus 160 Abgeordneten bestehende Bürgerschaft hatte das Recht der Selbstauflösung. Das Enquete-Recht war nicht als Minderheitenrecht ausgestaltet. Der Bürgerausschuss hatte die Verpflichtung, „über die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze des öffentlichen Rechts zu wachen“ (Art. 31 Abs. 1 der Verfassung). Das Senatsamt war nicht an die Lebensdauer des sie wählenden Parlaments geknüpft (S. 238ff.). Beibehalten wurde die Verbindung der Landesregierung mit der Verwaltungsspitze, sodass sich neben dem Inhalt „gleichgeordnete Ministerien“ nicht herausbilden konnten. Nach Art. 50 wurden dem Senat „zur Unterstützung und erforderlichenfalls zur Vertretung seiner Mitglieder in ihren Verwaltungsämtern sowie zur Bearbeitung der Staatsangelegenheiten“ Staatsräte beigegeben, welche die Funktion eines Staatssekretärs hatten, und die entsprechend einem Gesetz vom 8. 10. 1923 in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten (S. 297). Wenn die Bürgerschaft dem Senat das Vertrauen entzog, konnte dieser einen Volksentscheid herbeiführen, „ob er zurückzutreten hat oder die Bürgerschaft neu zu wählen ist“ (Art. 36 Abs. 3). Die Gesetze wurden von der Bürgerschaft beschlossen (Art. 51 Abs. 2). Der Senat konnte jedoch gegen die von ihr beschlossenen Gesetze Einspruch erheben, der von der Bürgerschaft durch eine erneute Abstimmung zurückgewiesen werden konnte. Der Senat hatte dann das Gesetz auszufertigen; er konnte jedoch auch einen Volksentscheid herbeiführen (Art. 53; S. 298ff.). Die wenigen Bestimmungen über die Verwaltung (Art. 59ff., S. 309ff.) wurden konkretisiert durch das Gesetz vom 19. 11. 1926 über den Aufbau der Verwaltung. Die Beteiligung an ihr erfolgte durch die ehrenamtlich tätigen Deputationsmitglieder (Art. 16). Die sehr umstrittene Bestimmung über die wirtschaftliche und berufliche Vertretungskörperschaft in Art. 66 der Verfassung war nicht mehr als eine „gegenstandslose Wiederholung der Weimarer Reichsverfassung“ (S. 320ff., 544). Den übrigen zum Hamburger Stadtgebiet gehörigen Städten (Bergedorf, Cuxhaven, später auch Geesthacht) und Landgemeinden stand nach Art. 65 Abs. 1 in ihren Angelegenheiten das Recht der Selbstverwaltung zu, wozu 1924 eine Städte- und Landgemeindeordnung erging (S. 341), deren Inhalt S. 383ff. näher erschlossen wird.

 

Im Abschnitt über Hamburgs Verfassungsänderungen und Reformen in der Weimarer Zeit sowie die Staatskrise 1921-1933 geht es nach einem Überblick über die politische Entwicklung Hamburgs nach Erlass der Verfassung zunächst um die verfassungsändernden und verfassungsausfüllenden Gesetze (u. a. Gesetz von 1926 zu Art. 49 [Inkompatibilitätsvorschriften; Zusammensetzung und Bildung des Staatsgerichtshofs]; Gesetz zur Änderung des Art. 26 [Vereidigungsrecht für den Untersuchungsausschuss]; Bürgerschaftswahlgesetz vom 27. 6. 1927, das vom Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich aufgehoben wurde [S. 393 ff.]). Zu den gescheiterten Reformversuchen gehörte u. a. der Vorstoß eines Abgeordneten, die Vereinbarkeit von Senatorenamt und Bürgerschaftsmitgliedschaft auszuschließen. Nach den Bürgerschaftswahlen Ende September 1931 hatte der Senat keine Mehrheit mehr im Parlament. Da ein neuer Senat nicht gewählt werden konnte, löste sich die Bürgerschaft am 23. 3. 1932 mit 144 Stimmen selbst auf, sodass Neuwahlen notwendig wurden. Die NSDAP hatte in der Bürgerschaft nunmehr 51 Sitze (SPD 49 Sitze). Dem Zweifrontenkrieg gegen die NSDAP und KPD waren die demokratischen Parteien nicht gewachsen (S. 427). Nach Meinung Lütkes rächten sich hierbei „die postrevolutionär zu geringen personellen Umbrüche in Verwaltung, Justiz und bestimmenden Wirtschaftskreisen, wo weiterhin Ressentiments gegen die parlamentarische Demokratie sowie romantische Erinnerungen an den Bismarckschen Obrigkeitsstaat“ bestanden (S. 422). Nach dem Austritt der SPD-Senatoren am 8. 3. 1933 aus dem Senat vollzog sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten innerhalb kurzer Zeit (S. 428ff.). Mit den beiden Gleichschaltungsgesetzen von 1933 und dem Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. 1. 1934 verlor Hamburg seine Eigenstaatlichkeit; die Regierung mit dem Regierenden Bürgermeister und vier Senatoren war nur noch eine „Reichsverwaltungsbehörde“.

 

Im Abschnitt über die Groß-Hamburg-Frage behandelt Lütke zunächst das Scheitern einer Lösung dieser Frage in der Weimarer Zeit und anschließend das Groß-Hamburg-Gesetz vom 26. 1. 1937 (S. 466), auf dessen Entstehung nicht näher eingegangen wird. Aufgrund dieses Gesetzes erhielt Hamburg Altona, Wilhelmsburg, Harburg und Wandsbek; durch ein Gesetz vom 9. 12. 1937 fand eine Neuordnung seiner Verfassung und Verwaltung statt.

 

1946 verabschiedete eine von der britischen Militärregierung eingesetzte Bürgerschaft eine von dieser genehmigte Vorläufige Verfassung, die durch die endgültige Verfassung vom 6. 6. 1952 abgelöst wurde, die sich in weiten Teilen an die Verfassung von 1921 anlehnte (S. 476ff.). Neu gegenüber der Verfassung von 1921 waren eine Sperrklausel von 5% für die Bürgerschaftswahlen, das konstruktive Misstrauen und das Fehlen direkt demokratischer Elemente. Das Werk wird abgeschlossen mit einer präzisen Zusammenfassung (S. 537ff.) und einem Quellenanhang (549-674), der die Texte der Verfassung von 1879, 1921, 1946 sowie 1952 und eine Synopse der Verfassungen von 1921, 1946 und 1952 enthält (S. 624 ff.).

 

Die Lektüre des Werks von Lütke ist mit einiger Lesemühe verbunden, da die Darstellung mitunter wenig gegliedert ist (vgl. S. 191-203) und wichtige Informationen nicht selten in den umfangreichen Fußnoten zu finden sind. Auch aus diesem Grunde hätte dem Werk ein Sachregister gut getan. Insgesamt liegt mit den Untersuchungen Lütkes ein wichtiges Grundlagenwerk zur Verfassungsgeschichte der Weimarer Zeit vor, das auch der „Kontinuitätslinie für das hamburgische Verfassungsrecht“ (S. 25) detailliert nachgeht.

 

Kiel

Werner Schubert