Lüdicke, Lars, Hitlers Weltanschauung. Von „Mein Kampf“ bis zum „Nero-Befehl“. Schöningh, Paderborn 2016. 199 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Der Reihe der kaum noch überschaubaren Zahl an Publikationen zu und über Adolf Hitler fügt nunmehr Lars Lüdicke, der mit seiner Biographie Constantin von Neuraths 2011 bei Manfred Görtemaker an der Universität Potsdam promoviert wurde und dort auch am Historischen Institut als Lehrbeauftragter tätig ist, eine weitere hinzu. Nun ist Hitlers Weltanschauung beileibe kein Thema, wozu nicht gerade im neuen Jahrtausend von Forschern genug Essentielles zutage gefördert worden wäre, vor allem, was dessen maßgebliche Prägungen im München der Nachkriegsjahre angeht. Erst unlängst hat beispielsweise Thomas Weber den Wurzeln der ideologischen Ausrichtung und der Radikalisierung des späteren Diktators im Angesicht der realisierten Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg unter dem Titel „Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde“ nachgespürt und ist dabei zur Schlussfolgerung gelangt, „(die) vielleicht tatsächlich einzige politische Konstante, die es von Hitlers Jugend bis zu seinem Todestag gab“, seien „die Ablehnung eines Separatismus jedweden deutschsprachigen Gebiets und der Wunsch nach einem geeinten Deutschland“ (S. 215) gewesen. Auch die Genese seines verschwörungstheoretischen Antisemitismus mit der behaupteten Einheit und Interessenskongruenz von Bolschewismus und Finanzkapitalismus sowie Hitlers Zuwendung zur Theorie vom Lebensraum und zu einem Rassismus im Sinne Hans F. K. Günthers konnte dieser Autor glaubhaft darlegen.

 

In deutlicher Abgrenzung zum Vorgehen Thomas Webers formuliert Lars Lüdicke sein eigenes Erkenntnisinteresse folgendermaßen: „Weder die Entstehung seiner Weltanschauung noch die Untersuchung der Bedingungen, die den Vollzug dieser Weltanschauung ermöglichten“, sollten im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes zu Adolf Hitlers Weltanschauung stehen, sondern die „Binnenlogik von Hitlers Denken, Planen und Handeln, d[ie] Abhängigkeit von Theorie und Praxis, d[as] Zusammenwirken von Ideologie und Strategie, beginnend mit der Niederschrift einer Weltanschauung, die letztendlich – und im Sinne der Binnenlogik konsequent – in die Selbstzerstörung mündete. […] Indem es […] nicht nur ältere und neuere Forschungserträge zusammenfasst, sondern die Analyse und Interpretation von Hitlers Weltanschauung zu einem Gesamtbild von Ideologie, Strategie und Praxis verbindet, sei dieses Buch auch als Impuls an die Wissenschaft und als Anregung neuer Forschungen gedacht“ (S. 11ff.). Inhaltlich werden dazu die von einer Einleitung und dem Epilog gerahmten, knapp 180 Seiten Text in die vier Blöcke „Interpretationen“, „Ideologie“, „Realität“ und „Vision“ untergliedert.

 

Die „Interpretationen“ stellen gleichsam einen komprimierten Forschungsbericht zur Positionierung der Rolle Hitlers im nationalsozialistischen System dar. Die Auseinandersetzungen der Wissenschaftler pendelten über Jahrzehnte zwischen den Polen eines „schwachen“ und eines „starken“ Diktators, zwischen einem von strukturell angelegten Dynamiken Getriebenen (Strukturalismus) und einem bewussten, einem gezielten Plan folgenden Gestalter, der das Heft des Handelns nie aus der Hand gab (Intentionalismus). Eng verknüpft mit diesen Deutungen ist die Frage nach der Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen, insbesondere für die Judenvernichtung, die im Historikerstreit um die Thesen Ernst Noltes oder in der Goldhagen-Debatte ihren beredten und emotionalen Ausdruck fand. Der Konsens der neuesten Forschung bestehe im „Bild eines durchsetzungsstarken, taktisch flexibel, risikobereit und skrupellos agierenden ‚starken Diktators‘, der seine ideologischen Fixierungen auf Basis einer nahezu uneingeschränkten Herrschaft in die mörderische Praxis umgesetzt hat“ (S. 40f.). Das Kapitel „Ideologie“ skizziert die Elemente dieser Weltanschauung Hitlers, die sich, macht man sich ihre Prämissen zu Eigen, zu einer fatalen Binnenlogik verdichten. Demnach sah sich Hitler in einer heilsgeschichtlichen Mission, dem von ihm als naturgesetzlich erachteten Lebenskampf durch Eliminierung aller humanitären Hemmnisse wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Lebenskampf war ihm dabei vorrangig der Rassenkampf, in dem sich die „kulturschöpfende“ arische Rasse gegen die „Kulturzerstörer“ – allen voran das Judentum, das sein naturwidriges Wirken in den international und egalitär verfassten Strömungen der liberalen Demokratie, des Kapitalismus, des Bolschewismus und des Christentums gleichermaßen entfalte – durchzusetzen und zu behaupten habe. Trotz des überlegenen Rassenwertes der Arier, der sich unter anderem in hervorragenden Persönlichkeiten Bahn breche, sei in diesem Kampf auch die Volkszahl als Summe der Individuen von Bedeutung, weshalb der Eroberung von Lebensraum, der nur im Osten zu gewinnen sei, essentielle Bedeutung zukomme. Als Verbündete Deutschlands in diesem Kampf kämen nur das faschistische Italien (mit Hauptinteresse Mittelmeer) und das germanische England (mit Hauptinteresse Übersee) in Frage, womit man Interessenskollisionen vermiede und auf dem Kontinent im Osten selbst freie Hand haben würde.

 

Zunächst am Beispiel der vom nationalsozialistischen Staat betriebenen Aufrüstung, der Mobilmachung und der geschlossenen außenpolitischen Allianzen, sodann in der Analyse des von Eroberung und Vernichtung gekennzeichneten Weltanschauungskrieges und des Holocaust stellt der Verfasser dar, wie Hitler seine Ideologie „Realität“ werden ließ. So resultierte „aus Hitlers weltanschaulichem Rassendogma der fanatische Wille zur physischen Vernichtung der Juden, ohne den nachgeordnete Instanzen gar nicht hätten tätig werden können“, wobei, wie nachdrücklich wohl zur Vermeidung des Vorwurfs exkulpatorischer Ambitionen festgehalten wird, „diese Konstellation, die Ursache und Wirkung klar hervortreten lässt, nichts und rein gar nicht[s] von der Schuld der vielen Täter (relativiert), von denen nur allzu viele nach Ende des Krieges jede Schuld von sich wiesen“. Mit Verweis auf die Prozesse der 1960er-Jahre wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wird der bekannte Umstand benannt, dass damals „ohne den Nachweis einer direkten Tatbeteiligung an einem Tötungsdelikt kein Schuldspruch wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord möglich (war)“ und wegen der Beweisprobleme „die Staatsanwaltschaften ganz generell dazu tendierten, die Verfolgung von Mitschuldigen am Völkermord ruhen zu lassen“ (S. 130f.). Erst im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends sei das Erfordernis der unmittelbaren, individuellen Beteiligung an Tötungshandlungen von den Gerichten fallen gelassen worden, wie die Verurteilungen in den Fällen des ukrainischen Sobibor-Wachmanns John Demjanjuk (2011; das Urteil ist allerdings wegen des Todes des Angeklagten vor Ergehen der Revisionsentscheidung nicht in Rechtskraft erwachsen) und des „Buchhalters von Auschwitz“ Oskar Gröning (2015) erkennen ließen. Der „Vision“ betitelte Schlussabschnitt zeigt, wie in Hitlers Politik „im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung Ankündigung, Planung und Vollzug aufeinander ein(wirkten): Die Vorhersage wurde zur Realität, weil von Hitler prophezeit worden war, worauf er hingewirkt hatte“ (S. 140), wie die nationalsozialistische Rassenlehre das Christentum ablösen und ersetzen sollte und welche megalomanen Pläne für eine Nachkriegsordnung bereits aus der Ideologie abgeleitet wurden. In diesem Denken gab es nur die Alternative zwischen Sieg und Untergang, sodass auch Hitlers „Nero-Befehl“ der verbrannten Erde, der bei konsequenter Umsetzung das unterlegene deutsche Volk seiner Existenzgrundlage beraubt hätte, nur folgerichtig erscheint. So war im Gesamten gesehen, wie es der Verfasser im Epilog noch einmal ausdrückt, „für den Verlauf der Geschichte des ‚Dritten Reiches‘ und mithin für die europäische und globale Geschichte die Weltanschauung Hitlers ein Kausalfaktor ersten Ranges“ (S. 183).

 

Festzuhalten ist, dass die Arbeit in der Summe ihrer Befunde viele Forschungsergebnisse korrekt und kompakt zusammenfasst, darüber hinaus aber nicht allzu viel Neues zutage fördert. Die Grundelemente der nationalsozialistischen Rassenideologie und des ihr eigenen Kampfes um Lebensraum, wie sie Hitler vertrat, sind lange allgemein bekannt und als Triebkräfte der dem Regime anzulastenden Verbrechen – allen voran der Vernichtungskrieg im Osten, die „Euthanasie“ und der Holocaust – vielfach beschrieben worden. Bekannt ist ebenso, dass der Primat der Ideologie scheinbar dysfunktionale Phänomene zeitigte, wenn etwa kriegswichtiger Transportraum durch die Deportation von Juden gebunden wurde oder deren Ermordung das ohnehin knappe Arbeitskräftereservoir weiter verringerte. Gleiches gilt für die quasi sakrosankte Stellung des Diktators, dessen eben in dieser Ideologie fußende Richtungsentscheidungen stets den verbindlichen Rahmen für das Handeln der nachgeordneten Funktionsträger vorgaben, die sich dann bemühten, mit kreativen Lösungen zu glänzen. Viel interessanter erscheint daher die – in dieser Arbeit leider nirgendwo gestellte – Frage, wie es möglich war, dass so viele Menschen auch mit akademischer Bildung sich die eigenwilligen ideologischen Prämissen Hitlers so vollständig aneigneten und diese nicht in Frage stellten. Denn wie die fortgeschrittene Täterforschung erwiesen hat, waren beispielsweise die Täter auf Ebene der Einsatzgruppenführer oder der Höheren SS- und Polizeiführer praktisch ausnahmslos weltanschauliche Überzeugungstäter, die sich in der Umsetzung ihrer Aufgaben im Einklang mit dem von ihnen zu hundert Prozent geteilten und befürworteten „Führerwillen“ sahen und damit auch keinerlei Bereitschaft zeigten, sich den abseits dieser Ideologie doch so offenkundigen Unrechtsgehalt ihrer Taten einzugestehen oder diese zu bereuen.

 

Zu jenen Passagen, die hingegen in der Literatur bislang noch wenig Niederschlag gefunden haben, zählt das im Abschnitt „Vision“ verortete Kapitel „Kulturrevolution“, in dem Lars Lüdicke, gestützt auf die von Heinrich Heim aufgezeichneten und von Werner Jochmann 1980 herausgegebenen „Monologe im Führerhauptquartier“, Hitlers Interpretation der Geschichte des Christentums vorstellt. So meinte Hitler, „ein ursprünglich arisches Christentum, das sich gegen das Judentum gerichtet hätte, (sei) verfälscht worden, und zwar von den Juden. […] Paulus (machte) aus der arischen Protestbewegung [Jesu] gegen das Judentum in Palästina eine überstaatliche christliche Religion“, wodurch „der Jude das römische Reich zertrümmert“ habe. „Was dem Untergang Roms folgte, der Rückschritt der menschlichen Entwicklung für Jahrhunderte, drohe erneut bei einem Sieg des Bolschewismus“ (S. 151f.). Deutlich wird, dass im Angesicht der beschworenen Untergangsszenarien jegliches Abkommen des nationalsozialistischen Staats mit den christlichen Kirchen nur ein taktisches Manöver sein konnte, eine notwendige Etappe auf dem Weg zum eigentlichen Ziel der endgültigen Eliminierung eines Gegners, dessen Humanismus der Ideologie des Nationalsozialismus diametral entgegenstand.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic