Lübbe-Wolff, Gertrud, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht? (= Osnabrücker Universitätsreden 9). V&R, Göttingen 2015. 50 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Wie jeder Mensch, so hat auch jede von Menschen gebildete Einrichtung einen Innenbereich, der grundsätzlich nur den sie bildenden Menschen und ihrer Kommunikationssphäre bekannt ist, und eine Außenansicht, auf die der nicht einbezogene Betrachter beschränkt ist. Eine Vermittlung zwischen beiden haben beispielsweise für das Reichskammergericht einzelne Assessoren durch die Veröffentlichung von Urteilssammlungen versucht. Für das Bundesverfassungsgericht unternimmt sie erfreulicherweise die in Weitensfeld in Kärnten 1953 als Tochter des Philosophen Hermann Lübbe geborene, in Bielefeld, Freiburg im Breisgau und Harvard ausgebildete, in Bielefeld 1981 mit einer Dissertation über Rechtsfolgen und Realfolgen promovierte und 1987 mit einer Schrift über die Grundrechte als Eingriffsrecht habilitierte, als Leiterin des Umweltamts Bielefelds 1992 an die Universität Bielefeld berufene und von 2002 bis 2014 als Richterin des Bundesverfassungsgerichts Deutschlands in dessen zweiten Senat tätige Verfasserin.
Am 4. Dezember 2014 hielt sie in dem Gebäude des European Legal Institute der Universität einen Vortrag, in dem sie nach der Schilderung einer Begegnung in dem phantastischen größten Gebäude Europas in Bukarest im Jahre 2011 (Oh, German Constitutional Court! Chancellor Merkel in Europe always says: I can‘t, I can’t – Constitutional Court!) ihren Zuhörern mit dem besonderen Wissen der langjährigen Insiderin erklärte, wie denn das Gericht funktioniert und warum es so funktioniert, wie es funktioniert. Ausgangspunkt ist dabei die Zahl der mehr als 9000 eingegangenen Verfahren des Jahres 2013, davon fast 98 Prozent Verfassungsbeschwerden. Da das Bundesverfassungsgericht mit 16 Mitgliedern besetzt ist, bedeutet dieser Einstieg mehr als 800 Verfahren für jeden Richter, wobei die jedermann und grundsätzlich ohne Rechtsanwalt unter einigen durchaus zu überwindenden Voraussetzungen mögliche Verfassungsbeschwerde die Grundlage der Popularität des Gerichts und der Verfassung bedeutet und damit zugleich die Grundlage der nach Einschätzung der Verfasserin weltweit wohl einzigartigen Kombination von Durchsetzungskraft und rechtskulturprägender Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht auszeichnet, obwohl es wie jedes Gericht, vor dem sich zwei streiten, fast zwangsläufig in jedem Fall mindestens eine der beteiligten Seiten frustrieren muss.
Von hieraus lässt die Verfasserin den Zuhörer die Richterin R aus dem zweiten Senat an einem typischen Arbeitstag in das im Zentrum von Karlsruhe am Schlossplatz gelegene Gerichtsgebäude begleiten, um ihm die interne Arbeitsweise des Gerichts vor Augen zu führen. Sie steigt mit ihm zwei Stockwerke hoch zu ihrem Arbeitszimmer, wie auch alle anderen Richter grundsätzlich den Aufzug auslassen, weil sie übrigens auch sonst entweder extrem fit oder extrem leidensfähig sind. Deswegen gibt es fast nie krankheitsbedingte Verhinderungen an vorgesehenen Beratungstagen oder Verhandlungstagen, zumal die Motivation der Richter, ihr Amt auszuüben und lückenlos auszufüllen, hoch ist.
Neben den beiden Senaten gibt es noch die zur Bewältigung der Verfahrenslast eingerichteten Kammern. Bei jedem Senat gibt es derzeit drei Kammern aus jeweils drei Richtern des Senats, die über Richtervorlagen aus den Gerichten der Länder entscheiden, wenn diese Vorlagen unzulässig sind. Wie bei acht Richtern drei Kammern zu drei Richtern gebildet werden, lässt die Verfasserin offen, doch nennt sie für das Jahr 2013 6084 Hauptsacheentscheidungen bei den Kammern gegenüber 33 Senatsentscheidungen, so dass jede der 6 Kammern rund 1000 Entscheidungen zu treffen hatte.
Jeder Richter hat derzeit vier wissenschaftliche Mitarbeiter, die in einem Mitarbeiterzimmer neben dem Richter und in einem Zusatzgebäude untergebracht sind. Ihre kurze Verweildauer von zwei bis drei Jahren ist nach der Verfasserin mit einem ständigen Transfer verfassungsrechtlicher Sensibilisierung und Kompetenz in alle Bereiche der Justiz verbunden, der zum vergleichsweise hohen Niveau des Verfassungsbewusstseins und zum hohen Niveau des Grundrechtsschutzes in Deutschland beiträgt.
Das Arbeitszimmer des Richters selbst ist ein Aktenumschlagplatz, in den die Sekretärin die von Verwaltungsbeamten mit der Befähigung zum Richteramt vorgeprüft (und 2013 im Umfang von 2365 Verfassungsbeschwerden ohne Betrachtung durch einen Richter ausgeschieden) unablässig einlaufenden, gelb oder rot (Eilantrag) ummantelten Akten in Abwesenheitszeiten des Richters einlegt, wobei begehrte, weil viel beachtete Zuständigkeiten bei einem Richterwechsel in dem zweiten Senat (mit Ochsenfroschprinzip) umso leichter erlangt werden, je länger man dabei ist. Die verbleibenden Akten gehen nach Bestimmung des zuständigen Berichterstatters an dessen Dezernat. Wegen des im Detail etwas verwickelteren Vorprüfungsverfahrens enthält das Aktenfach mit den Neueingängen des Dezernats wahrscheinlich zu einem großen Teil Verfassungsbeschwerden, die im Vorfeld als offensíchtlich aussichtslos beurteilt wurden.
Der jeweilige Richter leert sein Aktenfach, sobald er dazu kommt, mittels Sichtung. Einen Teil gibt er an seine Mitarbeiter zur Bearbeitung weiter. Vielleicht legt er auch einen Teil davon zur Seite, um ihn wochenends selbst zu bearbeiten, oder bearbeitet die eine oder andere Sache gleich bei der Durchsicht. Die Verfasserin hat dabei (wohl mit zunehmender Erfahrung) erst in den späteren Jahren einen großen Teil der Kammerverfahren allein abgearbeitet.
In mehreren weiteren Fächern warten Verfahrensakten, welche die Mitarbeiter bearbeitet und mit Entscheidungsentwurf und Votum (Gutachten) versehen haben. Die Entscheidungsvorschläge überprüft der Richter an Hand des Votums und der Akte. Ist er mit Votum und Entscheidungsvorschlag einverstanden, zeichnet er das Votum ab, unterschreibt den Entscheidungsvorschlag und gibt die Akte in den Kammerumlauf, in dem die Kammer entscheidet.
Die meisten Entscheidungsvorschläge lauten unter Berücksichtigung von Datenschutz und Beratungsgeheimnis: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. In der Mehrzahl der Fälle ist keine weitere Begründung vorgesehen – die Jahresstatistik 2013 weist bei den Nichtannahmen und ablehnenden Eilentscheidungen für den ersten Senat einen Anteil nicht begründeter Entscheidungen von 63 Prozent aus, für den zweiten Senat von 94 Prozent). Der Misserfolg sieht fast durchweg so aus, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, (wobei in der Praxis in aller Regel eine Vollprüfung mit festhaltendem Votum stattfindet und die Verfassungsbeschwerde nur dann nicht zur Entscheidung angenommen wird, wenn sie nach dem Ergebnis dieser Prüfung ohne Erfolgsaussicht ist.) .Dementsprechend lag die Erfolgsquote, ausgehend von der Zahl der in das Verfahrensregister gelangten Verfassungsbeschwerden, 2012 2,78 Prozent und 2013 1,46 Prozent.
In der Wirklichkeit setzt sich der Richter in diesem allgemeinen Rahmen an die Akten, liest Voten und Aktenbestandteile, schlägt zu noch offenen Fragen nach oder recherchiert in einer Datenbank und unterschreibt als überzeugend angesehene Beschlüsse. Ist er von dem Entscheidungsvorschlag nicht überzeugt, bespricht er die Sache mit dem Berichterstatter. Lassen sich die Bedenken nicht zwischen beiden oder auch nicht in einer gemeinsamen, im Ergebnis Einstimmigkeit erfordernden Kammersitzung aller drei Richter ausräumen, muss der Berichterstatter die Sache in den Senat bringen.
Da aber Senatsverfahren aufwendig und die Kapazitäten der Senate begrenzt sind, ergibt sich ein starker Konsensfindungsdruck. Diese Konsensorientierung sieht die Verfasserin als wesentliches Kennzeichen der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts an. Sie schreibt ihr überzeugend zentrale Bedeutung zu.
Dies gilt auch für die selteneren Fälle der Senatsentscheidungen, für deren Beratung in der Regel alle zwei Wochen die Tage von Dienstag bis Donnerstag reserviert sind. Diese Beratungen laufen nach Einschätzung der Verfasserin frei von politischen Fraktionsbildungen, sehr sachlich, sehr gründlich und sehr konsensorientiert ab. Die Unabhängigkeit wird durch die lange Amtszeit, die Unmöglichkeit der Wiederwahl und gesicherte Versorgungsbezüge nach dem Ende der Amtszeit gestützt. Förmliche Abstimmungen sind eher die Ausnahme, weil sich in der Regel einfach ein Konsens herstellt, sei es in der Sache oder darüber, dass man nun der erkennbaren Mehrheitsmeinung folgen und an der jeweiligen Stelle den Fortgang nicht länger aufhalten sollte.
Im Ergebnis verdient nach der Verfasserin das Bundesverfassungsgericht den Respekt und die Loyalität, die - dem (nahezu idealen) Bundesverfassungsgericht sei Dank – dem Grundgesetz entgegengebracht werden. Das schließt zwar Änderungen nicht grundsätzlich aus. Unabgestimmte, konfrontative Änderungen des rechtlichen Rahmens, in dem ein Verfassungsgericht arbeitet, gehören aber jedenfalls für das auf Konsens angelegte Bundesverfassungsgerichts Deutschlands – der vielfältige globale Erfahrungen ansprechend einbindenden Verfasserin sei für ihre vorzügliche Brücke von der Außenansicht zur Innenwelt uneingeschränkter Dank – aus gutem Grund nicht zum guten Ton.
Innsbruck Gerhard Köbler