Kotulla, Michael, Der Einfluss der Paulskirchenverfassung auf die späteren deutschen Verfassungen. Dimitris-Tsatsos-Institut für europäische Verfassungswissenschaft, Hagen 2015. 11 S. Angezeigt von Gerhard Köbler,

 

Als in dem Übergang von dem Ancien régime zur demokratisch-republikanischen Moderne die ersten formellen Verfassungen der Welt in Virginia, Polen und Frankreich entstanden, herrschten die beharrenden Kräfte in dem deutschen Sprachraum noch durchaus vor, so dass erst 1848/1849 der (revolutionäre) Versuch unternommen werden konnte, „Deutschland“ hieran anzuschließen, der freilich rasch scheiterte. Dessenungeachtet sehnen sich die fortschrittlichen Deutschen seit langer Zeit nach einer großen demokratisch-republikanischen Tradition. Von daher ist die Frage nach dem Einfluss der Paulskirchenverfassung auf die späteren deutschen Verfassungen seit je von beachtlichem Interesse.

 

Ihrer hat sich Michael Kotulla sachkundig in einem inzwischen veröffentlichten Vortrag in Hagen am 7. April 2014 angenommen, den er in sechs kurze Abschnitte gliedert. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass es nach der Annahme des Reichsverfassungsentwurfs am 27. März 1849 durch die Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main zunächst schien, als konstituiere die nach Ausfertigung und Verkündung in dem Reichsgesetzblatt auf den 28. März 1849 datierte Reichsverfassung ein neues bundesstaatlich verfasstes Deutsches Reich, Da König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen sowie Österreich, Bayern und Hannover diese Verfassung aber ablehnten, fehlte trotz einer gemeinsamen Erklärung der übrigen 28 Staaten-Regierungen des Deutschen Bundes vom 14. April 1849 die erforderliche allgemeine Anerkennung, obwohl die anschließende Verfassungsgeschichte stets den Modellcharakter für die spätere deutsche Verfassungsgebung betonte.

 

Demgegenüber sind nach Kotulla die eigentlichen verfassungsbedeutsamen Einschnitte der deutschen Geschichte der Untergang der Monarchie im November 1918 als Folge der Niederlage in dem ersten Weltkrieg und die Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 als Folge der weiteren Niederlage in dem zweiten Weltkrieg. Auf diesem Hintergrund geht der Verfasser nacheinander auf den Entwurf einer Verfassung für ein Deutsches Reich vom 28. Mai 1849 (Erfurter Unionsverfassung), die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867, (die Reichsverfassung vom 16. April 1872,) die Weimarer Reichsverfassung vom 14. August 1919 und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 ein. Im Ergebnis zeigt der Vergleich, dass es eine Vollkontinuität zwischen der Frankfurter Reichsverfassung und den genannten späteren deutschen Verfassungen nicht gibt, nach Kotulla sogar nicht einmal eine wirkliche Teilidentität, wenngleich einzelne verfassungsstaatliche Impulse nicht zu leugnen sind, so dass nach der überzeugenden Einschätzung des Verfassers wissenschaftliche Versuche, Traditionslinien von der Paulskirchenverfassung zu den späteren deutschen Verfassungen zu ziehen, konstruiert wirken und sind.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler