Koop, Volker, Alfred Rosenberg. Der Wegbereiter des Holocaust. Eine Biographie. Böhlau, Köln 2016. 346 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Nach den Biographien des Chefs der Partei-Kanzlei, Martin Bormann (2012), und des Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß (2014), legt der in Berlin lebende Journalist und Publizist Volker Koop nunmehr seine dritte Lebensbeschreibung eines namhaften nationalsozialistischen Funktionärs vor: Alfred Rosenberg (1893 – 1946), der als „Parteiphilosoph“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP) bekannte Ideologe, der von 1941 bis 1945 als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ein höchstes Regierungsamt bekleiden durfte und vom Nürnberger Internationalen Militärtribunal (IMT) zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, ist Thema dieser seiner jüngsten biographischen Arbeit.

 

Mit der Einordnung der Rolle des Exoten Rosenberg in das nationalsozialistische Herrschaftsgefüge kam die deutsche Geschichtswissenschaft längere Zeit nicht gut zurecht. Da der Deutschbalte nach der Machtübernahme 1933 bei der Verteilung der staatlichen Ämter leer ausgegangen war und in dieser Hinsicht erst 1941 entsprechend berücksichtigt wurde, galt er als jemand, der auf die praktische Politik relativ wenig Einfluss hatte und von seinen erfolgreicheren Konkurrenten in die zweite Reihe gedrängt worden war, ja gar als Hitlers „vergessener Gefolgsmann“ (Joachim C. Fest 1963). Eine stark strukturgeschichtlich und institutionengeschichtlich ausgerichtete Forschung zeigte in weiterer Folge wenig Interesse an ideologiekritischen Fragestellungen, sodass es Ernst Piper vorbehalten blieb, eine Präzisierung vorzunehmen. Über ein Jahrzehnt hat sich der heute als Literaturagent tätige und als Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam lehrende Historiker mit den Quellen auseinandergesetzt und schließlich 2005 seine Habilitationsschrift unter dem Titel „Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe“ publiziert. Dieses gut kontextualisierte, über 800 Seiten umfassende Standardwerk hebt hervor, dass der nationalsozialistische Staat vor allem auch ein Weltanschauungsstaat gewesen sei, ein Vehikel zur gewaltsamen Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie. Wenn auch Rosenberg in der politischen Praxis den Virtuosen der Macht wie Himmler oder Goebbels nicht immer adäquat Paroli zu bieten vermochte, so entfaltete er doch über seine parteiamtliche Stellung als „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung in der NSDAP“ (1934 bis 1945), seine zahlreichen Reden und vor allem durch seine reiche Publikationstätigkeit – neben 100 größeren Aufsätzen, Broschüren und Büchern über 600 Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften – langjährig eine erhebliche ideologische Wirkung in der Propagierung der zentralen, durchgehend als gültig erachteten Ideologeme Rasse und Lebensraum, auf denen in letzter Konsequenz die antisemitisch und antibolschewistisch motivierten Verbrechen des Regimes gründeten.

 

Somit stellt sich die Frage, welche zusätzlichen Erkenntnisse nun, nach wiederum mehr als einem Jahrzehnt, noch zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang kommt der Wiederentdeckung der verschollenen Tagebuchaufzeichnungen Alfred Rosenbergs, die der Nürnberger Ankläger Robert M. W. Kempner einst an sich genommen hatte, in den Vereinigten Staaten im Jahr 2013 Bedeutung zu; die auf über 400 Seiten überwiegend handschriftlich fixierten privaten Notizen aus den Jahren 1934 bis 1944 sind 2015 von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr ediert und damit allgemein zugänglich gemacht worden. Dieses Material, dazu als Korrektiv die Tagebücher von Rosenbergs Kontrahenten Joseph Goebbels und Archivalien des Bundesarchivs, vornehmlich aus dem Bestand NS 8 (Kanzlei Rosenberg), bildet neben weiteren Unterlagen die konzentrierte Quellenbasis, aus der Volker Koop schöpft. Er spricht insgesamt von einer „Flut an Dokumenten“, die es „nahezu unmöglich“ mache, „die Person Rosenberg in einem noch vertretbaren Umfang darzustellen“. Unter Ausklammerung „viele(r) Aspekte seines Denkens und Handelns“ lag dem Verfasser „insbesondere daran, die Rolle Rosenbergs im Zusammenhang mit dem Antisemitismus und damit dem Massenmord an über sechs Millionen Juden aufzuzeigen. […] Mit jedem Brief, mit jedem Dokument erwies sich, dass Rosenberg[ ] nicht nur Teil, sondern entscheidender Mitgestalter und Träger des Mordsystems war“ (S. 10).

 

Als Alfred Rosenberg 1918 aus seiner Geburtsstadt Reval/Tallinn nach Berlin und später nach München übersiedelte, sei er bereits in Anlehnung an Houston Stewart Chamberlain ein überzeugter Antisemit und Antibolschewist gewesen, der über Dietrich Eckart mit Adolf Hitler in Kontakt kam, 1922 „wesentlichen Anteil an der Formulierung des ersten NSDAP-Parteiprogramms (hatte)“ (S. 19) und im „Völkischen Beobachter“, dessen Hauptschriftleitung er übernahm, ein „Sprachrohr“ fand. Beim Hitler-Pusch 1923 noch eine „Randfigur“, blieb er von Strafverfolgung unbehelligt, führte während Hitlers Haft einige Zeit eine Nachfolgeeinrichtung der NSDAP und habe sich dabei „mit organisatorischen Aufgaben völlig überfordert“ gezeigt (S. 33). Seit 1930 im Reichstag, wirkte er in dessen außenpolitischem Ausschuss, eine Erfahrung, die Hitler bewogen haben mag, ihn nach der Machtübernahme 1933 zum Chef des neuen Außenpolitischen Amts (APA) der NSDAP und zum Reichsleiter zu machen, eine Ernennung, der 1934 der erwähnte Führerauftrag zur Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP folgte. In dieser Funktion habe Rosenberg auch das Projekt der Gründung einer „Hohen Schule“ am Chiemsee als zentrale NS-Universität betrieben, dem Hitler im Januar 1940 verbindlich seine Zustimmung erteilte, wonach „ihre Errichtung […] zwar erst nach dem

Krieg stattfinden (werde), doch solle Rosenberg die Vorbereitungsarbeiten – ‚vor allem auf dem Gebiet von Forschung und Einrichtung der Bibliothek‘ – weiterführen“ (S. 168); zum Zweck der Beschlagnahme von Archiven und Kulturgütern in den besetzten Gebieten Europas sei daher ab Juli 1940 der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR) tätig geworden. Aber erst mit der Etablierung und Übernahme des Ostministeriums, das den Reichskommissariaten Ostland (Baltikum und westliches Weißrussland) unter Hinrich Lohse und Ukraine unter Erich Koch übergeordnet war, habe sich Alfred Rosenberg im Juli 1941 als selbst ernannter Experte für den Osten „am Ziel seiner Wünsche“ (S. 195) gesehen.

 

Obwohl der Verfasser, wie oben angeführt, vorgibt, vorrangig die Auswirkungen von Rosenbergs Antisemitismus in den Blick zu nehmen, wird seine Darstellung, hierin stark beeinflusst von der inhaltlichen Ausrichtung der Tagebücher, deutlich stärker von einem anderen Aspekt bestimmt, nämlich von der Herausarbeitung der Diskrepanz zwischen Rosenbergs Ansprüchen und seinen tatsächlichen Fähigkeiten sowie der endlosen Querelen, die er mit unbotmäßigen Widersachern und Konkurrenten extern wie auch intern auszufechten hatte. Eine durch Selbstüberschätzung verstärkte persönliche Neigung zur sozialen Isolation und die von Hitler im Interesse des eigenen Machterhalts geschickt geförderten Kompetenzüberschneidungen mögen hierfür besonders günstige Voraussetzungen geschaffen haben. In der Liste jener, mit denen Rosenberg zeitweilig oder dauerhaft im Streit lag, um dann in den meisten Fällen doch den Kürzeren zu ziehen, fehlt kaum jemand aus der ersten Garnitur der nationalsozialistischen Führungsriege. Gerade im lange ersehnten Ministeramt sah sich der Parteiideologe mit Konkurrenten konfrontiert, die seine Handlungsfreiheit entweder schon von vornherein oder nach und nach beschränkten: In ihren Befugnissen waren Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan und Himmler als Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei bereits im entsprechenden Erlass wortwörtlich „von den nachstehenden Bestimmungen“ ausgenommen worden (S. 209), auf dem Gebiet der Propaganda vermochte Goebbels auch in den Ostgebieten seinen Apparat durchzusetzen (S. 252f.), und Rüstungsminister Speer wurden per Führererlass für den Einsatz der Technik „der Rüstungsausbau, der Hochbau, die Energiewirtschaft, der Straßenbau, die Wasserstraßen und Häfen sowie die Wasserwirtschaft“ federführend übertragen und die nachgeordneten Dienststellen des Ostministeriums zur Unterstützung verpflichtet (S. 256f.). Rosenbergs Untergebener Erich Koch herrschte im Einklang mit Hitlers Überzeugungen „in seinem Reichskommissariat nahezu unumschränkt und äußerst grausam“ (S. 237) und dachte gar nicht daran, sich den gemäßigteren Plänen seines vorgesetzten Ministers, der die kontraproduktiven Folgen von Kochs Terror- und Ausbeutungsregime in der Ukraine – so das rapide Anwachsen des Partisanenproblems – kritisierte, zu fügen. Mit seiner offenkundigen Unfähigkeit, sich aus eigener Kraft durchzusetzen, und den daraus resultierenden, laufenden Beschwerden ging Rosenberg sowohl Bormann als auch Hitler zunehmend auf die Nerven. Der Verfasser resümiert: „Rosenberg hatte sich seine eigene Welt zurechtgelegt. Er fühlte sich allen anderen intellektuell überlegen und ließ sie das auch spüren. Die für ihn schmerzliche Tatsache, dass er zu keiner Zeit von Hitler ein Amt erhielt, das ihm wirkliche Macht verliehen hätte, kompensierte er mit einem Übermaß an eitler Selbstdarstellung“ (S. 293).

 

Darauf, dass Alfred Rosenberg die Formung von Hitlers Antisemitismus zu einem verschwörungstheoretischen Konzept maßgeblich beeinflusst hat, hat unlängst Thomas Weber hingewiesen, doch leider geht die hier zu besprechende Arbeit nicht näher auf diesen zentralen Vorgang ein. Dies gilt auch für das lange bestehende Desiderat einer grundlegenden historisch-kritischen Analyse von Rosenbergs Hauptwerk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930); die Ausführungen Volker Koops zu dieser in einer „Auflage von über einer Million Exemplaren“ vertriebenen, niemals parteiamtlich abgesegneten zentralen ideologischen Schrift nehmen hauptsächlich die durchaus geteilte Aufnahme innerhalb der NSDAP und die Absagen mehrerer Verlage in den Fokus. Empirisch zu überprüfen wäre die Behauptung, ob wirklich „davon auszugehen (ist)“, dass „die meisten der mit dem Buch Beschenkten – selbst gekauft haben es die wenigsten – es nicht gelesen haben werden“ (S. 278), waren doch auch betreffend Hitlers „Mein Kampf“ lange Zeit ähnliche, unreflektiert übernommene und sich nicht immer als zutreffend herausstellende Vermutungen im Umlauf. Ebenso dürften aus dem damals üblichen übertriebenen Pathos, mit dem prominente nationalsozialistische Führer – so auch Rosenberg – in der Parteipresse gewürdigt wurden, keine allzu weit reichenden individuellen Schlussfolgerungen abzuleiten sein („Nun also war Rosenberg auch noch ‚Paladin‘, mithin ‚dem Kaiser besonders nahe stehend‘“; S. 288).

 

Den „Hass gegen das Judentum und gegen den Bolschewismus“, der sich „wie ein roter Faden durch Rosenbergs Leben (zog)“, dokumentiert der Verfasser im Wesentlichen durch die Ansammlung einer größeren Zahl von Zitaten (vgl. S. 104ff.). Mit Verweis auf das Nürnberger Urteil vom 1. Oktober 1946 stellt er fest, Rosenberg habe „zwar persönlich keinen Mordbefehl erteilt, nicht gefoltert und kein KZ geleitet“, aber „dennoch (den Tod) verdient[,] denn er war es, der dem Holocaust den Boden bereitet und den Nationalsozialisten die ‚philosophische‘ Rechtfertigung für den Mord an Millionen von Juden geliefert hat“ (S. 120). Hier hätte man sich bei der eindeutigen Betitelung und erklärten Zielsetzung des Bandes wünschen mögen, dass über die gut bekannte Rolle Rosenbergs als rassistischer Ideologe hinaus eine systematische und konkrete Untersuchung und Darstellung der von ihm in der praktischen Politik verantwortlich angeordneten Maßnahmen im Rahmen der Diskriminierung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung stattfindet, was jedoch weitgehend unterbleibt. Nicht einmal erwähnt wird, dass bei Heydrichs berüchtigter Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 mit Georg Leibbrandt und Alfred Meyer sogar zwei führende Repräsentanten aus Rosenbergs Ostministerium zugegen waren. Hier wurde somit die Chance vertan, einen effektiven Zuwachs an Erkenntnis zu generieren. Neben mancher Absonderlichkeit (Reichspressechef Otto Dietrich erscheint im Personenregister, S. 340, zunächst korrekt unter „D“ als „Dietrich, Otto“ mit diversen Seitenverweisen, dann jedoch – offensichtlich unter Verwechslung des Vornamens mit dem Familiennamen – ein weiteres Mal, S. 344, unter „O“ als „Otto, Dietrich“ mit wiederum ganz anderen Seitenverweisen!) verbleibt für den Fachkundigen nach der Lektüre der nicht wirklich befriedigende Gesamteindruck, nicht allzu viel erfahren zu haben, was über das in der Einleitung von Jürgen Matthäus‘ und Frank Bajohrs Tagebuch-Edition zu Rosenbergs Verwicklung in den Holocaust Gesagte und das schon bei Ernst Piper Gelesene hinausführt (bezeichnender Weise hat dieser seine immerhin gut doppelt so umfangreiche Arbeit aus 2005 nach der Veröffentlichung der Rosenberg-Tagebücher 2015 ein weiteres – viertes – Mal auflegen lassen).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic