Kawamura, Hiroki, Die Geschichte der Rechtsberatungshilfe in Deutschland. Von der wilhelminischen Zeit bis zur Entstehung des Beratungshilfegesetzes von 1980 (= Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie 10). Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin  2014. 488 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die unter Hubert Rottleuthner an der Freien Universität Berlin entstandene Dissertation Kawamuras verfolgt das Ziel, die Entwicklung der Rechtsberatungshilfe von der wilhelminischen Zeit bis zum Beratungshilfegesetz von 1980 zu analysieren (S. 26). Zur Geschichte der Rechtsberatung in Deutschland liegen bereits gewichtige Darstellungen zu Teilbereichen der Thematik der vorliegenden Dissertation vor (Simone Rücker, Rechtsberatung. Das Rechtsberatungswesen von 1919-1945 und die Entstehung des Rechtsberatungsmissbrauchsgesetzes von 1935, Tübingen 2007, und von Thomas Weber, Die Ordnung der Rechtsberatung in Deutschland nach 1945. Vom Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz zum Reichsdienstleistungsgesetz, Tübingen 2010). Auch wenn sich die Themen dieser Dissertationen mit den Untersuchungen Kawamuras zum Teil überschneiden, ist eine neue Bearbeitung der „Rechtsberatungshilfe in Deutschland“ gerechtfertigt und sehr zu begrüßen. Insgesamt wertet Kawamura erstmals die empirischen Daten und Geschäftsberichte der Rechtsberatungshilfeorganisation detailliert aus. Hierzu stützt er sich zum Teil auf umfangreiche, von ihm erarbeitete Tabellen (Verzeichnis der 43 Tabellen S. 23). Zum anderen, und dies ist als besonderer Vorzug der Studie hervorzuheben, befasst sich Kawamura erstmals ausführlich mit den „Hintergründen“ der Rechtsberatungshilfe, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden ist als ein Mittel der Sozialpolitik bzw. der Sozialhilfe für Minderbemittelte (S. 40).

 

In Teil 1: „Die Rechtsberatungshilfe in der Wilhelminischen Zeit“ (S. 51-165) werden zunächst behandelt die konfessionelle Rechtsauskunft (Volksbüros), die Beratungshilfe der Gewerkschaften (Arbeitersekretariate), die Rechtsauskunftsstellen gemeinnütziger Organisationen (besonders in Hamburg und Frankfurt am Main) sowie die Rechtsauskunftsstellen der Gemeinden und Städte und für Frauen. Im nächsten Abschnitt geht Kawamura ein auf die Entwicklung der Rechtsberatungshilfebewegung (S. 81ff.). Die Auskünfte bezogen sich zunächst hauptsächlich auf Arbeiterangelegenheiten (Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht), dehnten sich jedoch bald auch auf das Mietrecht und Abzahlungsrecht aus. Als Rechtsberater dienten selten Volljuristen, sondern primär mittlere Verwaltungsbeamte und Arbeitersekretäre der freien Gewerkschaften. Rechtsauskünfte begehrten primär Minderbemittelte und Arbeiter. Die Mitwirkung der Rechtsanwaltschaft – die Zahl der Rechtsanwälte war im Vergleich zu heute sehr niedrig (1901 rund 6800 Rechtsanwälte, 1933 rund 19200 und 1981 rund 37300). Die Rechtshilfebewegung erreichte 1913 mit 1143 Auskunftsstellen und 1,2982 Millionen Auskünften ihren Höhepunkt.

 

In der Weimarer Zeit wurde die Rechtsberatungshilfe reorganisiert (S. 167ff., 1921 rund 850 Rechtsauskunftsstellen mit 1,758 Millionen Auskünften). Lediglich in Hamburg, Lübeck und Frankfurt am Main waren die Rechtsauskunftsstellen zugleich Vergleichsstelle (Gütestelle) nach § 495a ZPO (1924; S. 175ff.). Die nach der Wirtschaftskrise von 1929 in Not geratene Rechtsanwaltschaft beteiligte sich erst nach einem Beschluss des Deutschen Anwaltvereins im Dezember 1931 an der Rechtsberatung für Minderbemittelte (S. 178ff., 201ff.). – In der nationalsozialistischen Zeit (S. 213ff.) wurden die jüdischen und „anders denkenden Juristen“ zwischen 1933 und 1938 aus der Rechtsanwaltschaft entfernt; seit Oktober 1938 oblag die Rechtsberatung und Vertretung von Juden zugelassenen jüdischen Rechtskonsulenten (1. 10. 1938 insgesamt 172 Rechtskonsulenten; S. 234). Eine Änderung des § 157 ZPO (1933) führte dazu, dass ehemalige jüdische Rechtsanwälte als Bevollmächtigte und Beistände in der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen waren (S. 243ff.). Die Rechtsanwaltsordnung von 1935/1936 führte zu einer erheblichen Einschränkung der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (S. 222ff.). Nach dem Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz vom 13. 12. 1935 (RBMG) durfte die „Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten, einschließlich der Rechtsberatung … geschäftsmäßig – ohne Unterschied zwischen haupt- und nebenberuflicher oder entgeltlicher und unentgeltlicher Tätigkeit – nur von Personen betrieben werden, denen dazu von der zuständigen Behörde die Erlaubnis erteilt“ war. Die Rechtsberatung Minderbemittelter erfolgte unter Abschaffung der bisherigen Rechtsauskunftsstellen durch die vom NS-Amt für Rechtsbetreuung eingerichteten NS-Rechtsberatungsstellen durch Rechtsanwälte (S. 275ff.; Übersichten über die Inanspruchnahme der NS-Stellen in den Jahren 1936-1938 S. 295ff.). Die Rechtsberatung im Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht erfolgte durch die Rechtsberatungsstellen der Deutschen Arbeitsfront unter Beseitigung der gewerkschaftlichen Arbeitersekretariate. Die Zahl der Rechtsauskünfte bei den Rechtsbetreuungsstellen der DAF belief sich 1939 auf 3,675 Mio. (1942: 2,673 Mio.; S. 317). Im Übrigen gab es weitere Rechtsberatungsstellen bzw. Rechtsberatungsorganisationen, die auf den Seiten 334-342 aufgelistet sind.

 

1945 wurden die mit dem Nationalsozialismus zusammenhängenden Rechtsberatungsstellen aufgelöst, ohne dass das RBMG außer Kraft gesetzt wurde. In der Deutschen Demokratischen Republik verlor dieses Gesetz bis 1952 seine „praktische Geltung“ (S. 359ff., 443). Die Weitergeltung des RBMG in Westdeutschland führte dazu, dass die pluralistische Beratung der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit nicht wiederhergestellt werden konnte. Die gemeinnützigen Rechtsberatungsstellen in Hamburg und Lübeck wurden reorganisiert, in Berlin eine solche 1948 neu begründet (S. 364ff.). Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Einzelgewerkschaften konnten entsprechend § 7 des RBMG als „auf berufsständischer Grundlage gebildete Vereinigungen“ ihre Mitglieder rechtlich beraten (Tabelle hierzu für 1951 S. 372). Durch eine Vereinbarung mit dem Deutschen Anwaltverein beschränkte der DGB seine Rechtsberatung auf das Arbeitsrecht und Sozialrecht, um eine Kollision mit dem RBMG zu vermeiden (S. 373f.). Nach Auflösung der anwaltschaftlichen nationalsozialistischen Rechtsbetreuung kam es nicht mehr zu einer flächendeckenden Rechtsauskunft durch die örtlichen Anwaltsvereine. Nur 64 von 170 örtlichen Anwaltsvereinen unterhielten 1973 eine Rechtsauskunftsstelle für Minderbemittelte (S. 381). in den 1970er Jahren entwickelte sich einer umfangreiche und kontroverse Diskussion zum Thema Rechtsberatung (S. 383ff., 445), die nach Modellversuchen in den Ländern zum Beratungshilfegesetz von 1980 (Gesetz über die Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen) führte. 2012 wurden 835.472 Anträge auf Rechtsberatungshilfe gestellt (2010 rund 970.000 Anträge). Das Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz trat am 1. 7. 2008 außer Kraft und wurde durch das Rechtsdienstleistungsgesetz vom 12. 12. 2007 ersetzt (S. 431f.). Das Werk wird abgeschlossen mit einer präzisen Zusammenfassung und der Wiedergabe zweier Entwurfstexte (S. 450ff.). Hilfreich wäre es gewesen, wenn Kawamura auch noch den Text des RBMG und seiner wichtigsten Änderungen nach 1945 mitgeteilt hätte. Zur Erschließung des reichhaltigen Inhalts des Werkes wäre ein Sachverzeichnis nützlich gewesen.

 

Mit dem Werk Kawamuras liegt erstmals eine Gesamtdarstellung der Rechtsberatungshilfe seit ihren Anfängen bis zum Erlass des Beratungshilfegesetzes von 1980 vor. Am detailliertesten ist die Zeit bis 1918 erschlossen, zu der Kawamura jedoch, soweit ersichtlich, keine archivalischen Quellen heranzieht (vgl. S. 457f.). Dagegen wurden für die nationalsozialistische Zeit auch die ungedruckten Materialien insbesondere des Reichsjustizministeriums berücksichtigt. Gleiches gilt für die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik, während für die Bundesrepublik die Materialien des Bundesjustizministeriums und eventuell anderer Ministerien nicht herangezogen wurden. Für das Rechtsdienstleistungsgesetz von 2007 wäre trotz der Monografie Webers eine etwas detailliertere Darstellung im Hinblick auf das Außerkrafttreten des Gesetzes von 1935 erwünscht gewesen. Die immer gut lesbare Untersuchung Kawamuras ist ein wichtiges Grundlagenwerk zur Rechtsberatungshilfe in Deutschland, auf dem weitere Detailuntersuchungen zur Rechtsberatungshilfe aufbauen können.

 

Kiel

Werner Schubert