Herbert, Ulrich, Das Dritte Reich. Geschichte einer Diktatur (= Beck Wissen). Beck, München 2016. 134 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
In seiner Reihe „Wissen“ (Kürzel: bw) stellt der renommierte Verlag C. H. Beck in München immer wieder kompakte Einführungen zu historischen und kulturellen Themen sowie zur Biographie prominenter Persönlichkeiten als Paperback zur Verfügung. Als Band bw 2859 liegt nunmehr ein weiterer unter den zahlreichen Versuchen einer zusammenfassenden Kurzdarstellung der Geschichte des Dritten Reichs vor, der aus der Feder Ulrich Herberts stammt. Der Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau konnte vor allem mit seiner exemplarischen Anatomie der Persönlichkeit des SS-Bürokraten Werner Best (Habilitationsschrift 1992, Erstpublikation 1996) in der nationalsozialistischen Täterforschung Maßstäbe setzen. Der hier zur Verfügung stehende, begrenzte Druckraum nötigt auch diesen namhaften Verfasser, der von seiner großen „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ (2014) und dem intellektuellen Ertrag akademischer Diskussionen mit Studierenden und Fachkollegen zehrt, zu einer Auswahl und zur Schwerpunktsetzung. Der Zeit von der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 bis 1939 widmet er zwei Fünftel der Darstellung, wobei es ihm darauf ankommt „zu zeigen, welche längerfristigen, aus dem späten 19. Jahrhundert herüberreichenden Entwicklungen hier wirkmächtig wurden und wie sie sich mit den katastrophalen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise verbanden“. Der größere Rest entfällt auf „jene( ) weltbewegenden Ereignisse( ) des Kriegs gegen die Sowjetunion, der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa oder der Ermordung der europäischen Juden“ (S. 7f.). Auf die Darlegung der Forschungsentwicklung oder wissenschaftlicher Kontroversen wird verzichtet.
Das Kernanliegen des Verfassers ist, die Geschichte des Dritten Reiches nicht als ein zufälliges Ergebnis unverbundener Einzelheiten zu präsentieren, sondern jene Zusammenhänge und Bezüge zu erläutern, die dieser Geschichte die ihr eigene Prägung verleihen. Dies gelingt ihm vortrefflich, indem er den politischen Entwicklungsprozess immer wieder als ein Produkt konkreter mentalitätsgeschichtlicher, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Konstellationen erkennen lässt. Von der von Historikern wie Hans-Ulrich Wehler einst propagierten Sonderwegstheorie (sie behauptet eine bis auf Martin Luther zurückzuverfolgende Fehlentwicklung der deutschen Geschichte, die im Nationalsozialismus gipfelt) distanziert er sich klar, denn komparative Untersuchungen belegten, „Nationalismus und Antisemitismus, die Kritik an Massengesellschaft und kultureller Moderne waren in Deutschland bereits vor 1914 verbreitet gewesen, vermutlich aber nicht in stärkerem Maße als in anderen vergleichbaren Ländern“ (S. 19f.). Erst die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die harten Friedensbedingungen des Versailler Vertrages und die darin enthaltene Kriegsschuldklausel hätten den Nationalismus und das Revanchedenken in Deutschland im Übermaß angefacht und die Stabilität der mit der Hyperinflation und den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ringenden Republik von Weimar untergraben. Hierin liege auch die Ursache für den stark anwachsenden Antisemitismus, denn „bei der angestrengten Suche nach Verursachern und Schuldigen am Unglück des Vaterlandes identifizierten die Radikalnationalisten sowohl die westlich-liberale Zivilisation als auch den Bolschewismus in Russland als entscheidende Kräfte. Und waren nicht sowohl Kapitalismus als auch Kommunismus Kräfte des Universalismus und des Internationalismus, mithin Gegenpole des national ausgerichteten Denkens der Deutschen? Waren nicht führende Bankiers in den USA wie in England, in Frankreich und in Deutschland selbst Juden, ebenso wie führende Vertreter der Kommunisten – von Leo Trotzki bis Rosa Luxemburg?“ (S. 22). Diese Zusammenführung des zunächst widersprüchlich Erscheinenden im Feindbild des Juden galt jedenfalls nicht wenigen Zeitgenossen als plausibel und überzeugend. Dazu kam, dass Juden mehrheitlich von der Modernisierung profitiert hatten: Schon 1901 seien die deutschen Juden „vermutlich die erfolgreichste Minderheit in Europa“ gewesen, „das Durchschnittseinkommen der Juden war […] etwa fünfmal so hoch wie das der christlichen Deutschen“. Ihre spätere Enteignung wurde dann bezeichnender Weise mit der Parole der „Wiedergutmachung“ gerechtfertigt (S. 39f.).
Eine weitere wichtige Leistung des vorliegenden Bandes besteht darin, dass er entscheidende Weichenstellungen auszumachen, chronologisch zu fixieren und in ihrer Bedeutung zu beschreiben versucht. So sei beispielsweise mit den Nürnberger Gesetzen vom September 1935 „der Rassenantisemitismus als Grundlage staatlichen Verwaltungshandelns etabliert und damit der Bruch mit den Prinzipien der Rechtsgleichheit legalisiert“ worden (S. 39). Sechs Jahre später war dann mit dem Massaker von Kamenez-Podolsk an 23.600 Juden im August 1941 „der Übergang von selektiver Mordpolitik zu systematischem Massenmord bereits vollzogen“ (S. 88). Aber nicht erst, wie oft zu lesen, mit dem Krieg gegen die Sowjetunion 1941, sondern bereits mit dem Polenfeldzug 1939 habe das nationalsozialistische Regime den grundsätzlichen „Schritt zur exzeptionellen und unbegrenzten Gewalt“ getan. Im Einzelnen spricht der Verfasser von „den Massenmorden und Deportationen in Polen, der ‚Ghettoisierung‘ der polnischen Juden, der Installierung des Zwangsarbeitssystems in Deutschland und den zehntausenden Morden an deutschen Behinderten“. Dabei erkläre sich „dieser kategoriale Sprung der Gewalttätigkeit nicht allein als lineare Fortsetzung der seit 1933 bereits angelegten Potentiale in der NS-Diktatur. Hier wurde vielmehr deutlich, dass dieser Krieg als Fortsetzung des Ersten Weltkriegs verstanden wurde, der Millionen Menschenleben gekostet hatte und so die Dimensionen des eigenen Vorhabens definierte“ (S. 75f.). Darüber hinaus bot er die Okkasion, politisch-ideologische Zielvorstellungen beschleunigt umzusetzen, von der sogenannten „Judenfrage“ bis hin zur Schaffung eines deutschen Kolonialimperiums im Osten, das die Gleichrangigkeit des Deutschen Reiches mit den bestehenden Weltmächten gewährleisten sollte.
Die zentrale Bedeutung Hitlers für den Erfolg des Nationalsozialismus steht heute außer Frage, denn dieser sei „ohne Zweifel die politisch, organisatorisch und rhetorisch begabteste und zugleich skrupelloseste Figur der Rechten der Nachkriegsjahre“ gewesen. „Der ‚Führer‘ schuf Einfachheit und Klarheit in einer undurchschaubaren Lage und vermittelte den Anhängern ein unbedingtes Zutrauen in die eigene Sache, losgelöst vom Interessenkampf der Parteien. Diese Sehnsucht nach Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche durch die Schaffung einer als unantastbar und unfehlbar geltenden personalen Instanz verkörperte Hitler wie kein anderer Politiker seiner Zeit“ (S. 29f.). Als in der Folge der Weltwirtschaftskrise bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 Nationalsozialisten und Kommunisten zusammen fast 52 Prozent der Stimmen errangen, sei dies „eine klare Absage der Bevölkerungsmehrheit an Demokratie und Republik“ (S. 31) gewesen und die Chance für Hitler, mit Hilfe seiner nationalkonservativen Steigbügelhalter den Griff nach der Macht zu wagen. Diese ruhte schließlich auf drei Pfeilern: „auf der Loyalität der Führungskräfte in Wirtschaft, Verwaltung und Reichswehr, auf der Zustimmung von etwa der Hälfte der Bevölkerung sowie auf der Durchschlagskraft der eigenen ‚Bewegung‘“ (S. 36), zunächst der Sturmabteilung (SA), dann der Schutzstaffel (SS). Als nach massiven Rückschlägen an der Ostfront 1942/1943 ein Stimmungsumschwung und Kritik an der nationalsozialistischen Herrschaft erkennbar wurden, „trauten die Deutschen (Hitler) nach wie vor beinahe alles zu“ (S. 113).
Die deutsche Bevölkerung war es auch, die – ohne dies zunächst zu registrieren – über ihre Sparguthaben Hitlers Krieg finanziert habe. „Am Ende des Krieges war das Deutsche Reich mit 451,7 Mrd. Reichsmark verschuldet, und die Bürger mussten die Schulden bezahlen: Bei der Währungsreform von 1948 wurden die privaten Sparguthaben um 90 Prozent abgewertet und so die für die Kriegsfinanzierung aufgelaufenen Schulden des Staates liquidiert – die größte Enteignungsaktion in der Geschichte kapitalistischer Staaten“ (S. 65). Die Frage der Mitwisserschaft der Deutschen an den Verbrechen des Regimes schätzt Ulrich Herbert plausibel und realistisch ein. „Am Schicksal der Ausländer (zeigte die Mehrheit der Deutschen) wenig Interesse – die Sorge um das eigene Überleben stand im Vordergrund, das Elend der ‚Fremdarbeiter‘ wurde ignoriert. Auch die eigene bevorrechtigte Stellung ihnen gegenüber war nichts, worüber man sich viele Gedanken machte“ (S. 110). Betreffend den Holocaust seien seit Ende 1941 verstärkt Informationen in die Heimat gedrungen; um sie „zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, bedurfte es eines besonderen Interesses […]. Wer ein solches Interesse besaß, konnte bereits seit dem Herbst 1942 über das Geschehen in Osteuropa recht genaue Kenntnisse erlangen und auch die Größenordnungen des Massenmords erahnen. Aber das taten nur wenige, wohl auch weil die Gerüchte darüber so furchtbar waren, dass es leichter war, sie zu verdrängen oder sie für unglaubwürdig zu halten. Wenn man bedenkt, dass in den deutschen zivilen und militärischen Besatzungsverwaltungen in Europa mehrere zehntausend Menschen mit den Deportationen und der Ermordung der Juden direkt oder indirekt beschäftigt waren, so ist die Vorstellung, es habe sich hierbei um ein nur von wenigen Auserwählten geteiltes Geheimnis gehandelt, einigermaßen abwegig“ (S. 112f.). Die „Angst vor der Strafe für den Judenmord“ sei daher nicht zuletzt auch als eine „Quelle der Loyalität zum Regime“ (S. 114) zu betrachten.
Im Vergleich mit der ebenso soliden Arbeit Klaus Hildebrands aus 2012 (vgl. auch die Besprechung des Rezensenten in: JoJZG 7 [2013], S. 134ff.), die einen ähnlichen Umfang wie der vorliegende Band aufweist, aber den zur Verfügung stehenden Raum gleichmäßig auf die Vorkriegszeit und die Kriegsjahre verteilt, ist die Publikation Ulrich Herberts zweifellos die aktuellere Darstellung. Während die Literatur Hildebrands in etwa nur bis zur Jahrtausendwende reicht und somit den nachfolgenden Forschungsstand nicht mehr berücksichtigt, stützt sich Herberts Darstellung überwiegend auf nach der Jahrtausendwende publizierte Studien, wie beispielsweise Nikolaus Wachsmanns neue Monographie über die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Gemeinsam – wenn auch durchaus mit graduellen Unterschieden – ist beiden lesenswerten Überblicken die Erkenntnis der zentralen Rolle Hitlers im Herrschaftsapparat und die weitgehende Ausklammerung einer näheren Auseinandersetzung mit der Rechtsordnung und dem Justizapparat im Nationalsozialismus.
Kapfenberg Werner Augustinovic