Heckel, Martin, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“ (= Jus ecclesiasticum Band 114). Mohr Siebeck, Tübingen 2016. XIV, 988 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Die Erinnerung an den Beginn der Reformation durch den Augustinermönch Martin Luther in Wittenberg im Jahr 1517 wird zu Recht nicht nur als ein Ereignis der evangelischen Kirche betrachtet, sondern angesichts der tiefgehenden Auswirkungen auf das Recht und die Verfassung bis zur Gegenwart als weltgeschichtliche Epoche. Theologie und Recht - so Martin Heckel - bedingen einander. Der Erfolg der Reformation beruht zum einen auf den theologischen Erkenntnissen Martin Luthers, zum anderen aber auf der verfassungsrechtlichen Situation im Heiligen Römischen Reich nach der Reform von 1495. Die Verfassung des Alten Reichs ermöglichte es, die Vollstreckung des päpstlichen Banns und der Reichsacht zu verzögern und letztlich zu verhindern. Der Rückgriff auf das weltliche Recht verschaffte der evangelischen Predigt die zu ihrer Entfaltung notwendige Zeit. Und nach schweren theologischen und politischen Auseinandersetzungen konnte das Recht die gegensätzlichen religiösen Wahrheitsansprüche neutralisieren und eine Koexistenz beider Konfessionen herbeiführen.

 

Mit seinem tiefen Verständnis für die historischen, theologischen und juristischen Zusammenhänge vermag Martin Heckel in diesem Buch die Wechselwirkungen theologischer Überzeugungen, politischer Gegebenheiten und juristischer Maßnahmen herauszuarbeiten. Mit sicherer Feder zeichnet er die erheblichen Veränderungen im Kirchenrecht und in der Rechtsordnung im Reich nach, die zur Entstehung eines paritätischen, säkularen und theologisch indifferenten  Reichskirchenrechts, zur Emanzipation des weltlichen Rechts vom Kirchenrecht und zur Stärkung der ständischen Prägung des Reichs führte. "Reformationsgeschichte ist Rechtsgeschichte" lautet daher der erste Satz (S. 3).

 

Im Prolog thematisiert Heckel die Rolle des Rechts angesichts der religiösen Wahrheitsfrage (S. 3ff.). Martin Luther ist vor allem Seelsorger gewesen (näher: S. 559ff.). Die Ausgangspunkte für Martin Luthers Reformation waren die drängende Suche nach dem gnädigen Gott sowie die theologische Erfahrung der Erlösung durch Gottes Gnade im Glauben an den Kreuzestod und die Auferstehung Jesus Christi. Damit kontrastiert die Verrechtlichung der katholischen Kirche seit dem Höhepunkt der Kanonistik im 12. Jahrhundert, die schließlich eine Kommerzialisierung der Buße nach sich zog. So standen sich zwei religiöse Absolutheitsansprüche gegenüber. Deren Auflösung gelang weder durch gelehrte Disputationen, noch durch kaiserliche Macht. Das weltliche Recht konnte aber eine offene Rahmenordnung bereit stellen, welche die Existenz beider Religionsparteien im Reich sicherte, deren Handlungsspielräume aber zugleich begrenzte und dadurch eine Zusammenarbeit erlaubte. Das Landfriedensgebot sicherte beide Religionsparteien und begrenzte zugleich deren Einfluss (S. 19). Das weltliche Religionsrecht wirkt daher bis heute einerseits als „Schrankenrecht der weltlichen Gewalt“, indem es die Religionsausübung begrenzt, und andererseits als „Freiheitsrecht zur Sicherung der Religionsausübung“ (S. 12f.).

 

Um die weltliche Friedensordnung in dem nunmehr bikonfessionellen Reich zu ermöglichen (S. 77f.), brach das weltliche Recht des Alten Reichs den Geltungsanspruch des universalen Kirchenrechts der mittelalterlichen Kirche. Dagegen dauerte die monokonfessionelle Struktur in den Territorien (weitgehend) fort. Die Umsetzung des jeweiligen Bekenntnisses wurde den Reichsständen in ihren Herrschaftsgebieten überlassen. Die Bedeutung des Rechts als Mittel der Konfliktlösung lässt sich schon an der Begrifflichkeit erkennen. Statt des Begriffs „Kirche“ wurde der Ausdruck „Religionsparteien“ verwendet. Auch in der Bezeichnung „Religionsfriede“ sieht Heckel einen „juristischen Vernebelungsbegriff“ (S. 24). Es fand ja gerade keine Klärung der religiösen und theologischen Streitigkeiten statt, diese wurde vielmehr bewusst in der Schwebe gelassen und einem Konzil vorbehalten. Vor allem war die Kirche an diesem Vorgang gar nicht beteiligt. Der Kaiser und die Reichsstände verhandelten miteinander. Ein Umstand, der durch das Argument des Notrechts oder Notstandsrechts gerechtfertigt wurde (S. 29). Die Beteiligten gingen ohnehin noch lange davon aus, bloße Interimsregelungen zu vereinbaren (S. 79).

 

Teil 1 widmet sich sodann der Eigenart, den Rahmenbedingungen und den Anfängen der lutherischen Reformation vor dem Hintergrund der scholastischen und neuscholastischen Theologie (S. 47ff.). Heckel hebt hervor, dass einerseits Luthers durchdachte Theologie, andererseits aber die Bereitschaft der altgläubigen Vertreter, für den status quo einzutreten, beide Seiten zum persönlichen Bekenntnis zwang und zugleich die Lehrunterschiede verfestigte. Anders als die ältere Reformationsforschung geht man heute davon aus, dass sich die Kirche um 1500 keineswegs im Verfall befand, sondern die Volksfrömmigkeit vielmehr unerschüttert gewesen sei. Die Menschen seien erfüllt gewesen vom Bewusstsein der Sünde, von der Sorge vor ewiger Verdammnis, vom Bemühen um Vergebung und vom Vertrauen auf die Heilsvermittlung durch die Kirche. Nur deshalb konnte der Dominikanerpater Tetzel mit seinem Ablasshandel überhaupt Erfolg haben (S. 65ff.). Skizziert wird die persönliche Situation der geistlichen Reichsfürsten, die an theologischen Fragestellungen kein Interesse hatten und daher dem Problem des Ablasshandels verständnislos gegenüber standen (S. 68ff.). Seitenblicke werden auf die gesamtpolitische Situation gewährt, auf die Kaiserwahl nach dem Tod Kaiser Maximilians I., die Türkeneinfälle, die Franzosenkriege und die territorialpolitischen Interessen des Papstes in Italien (S. 72ff.). Verschiedene Interessen verliefen somit teils parallel, teils gegenläufig. Vor allem im Reich überlagerten sich der reichsständisch-kaiserliche Dualismus, der kaiserlich-päpstlich-französische Gegensatz und der konfessionelle Dualismus (S. 76).

Während einerseits politische Fragen der evangelischen Reformation die notwendige Zeit verschaffte, ermöglichte andererseits die Reichsverfassung den Einsatz des Rechts, insbesondere die (seit 1518 mehrfach erfolgte) Appellation an ein Konzil, um Bann und Acht als noch nicht rechtskräftig und daher auch als noch nicht vollstreckbar zu betrachten (S. 257ff.). Schon unmittelbar nach dem Thesenanschlag (1517) erfolgten rechtliche Reaktionen der römischen Kurie (S. 98ff.). Die Vorbereitung des Ketzerprozesses wegen Häresie (1518) begann mit einem Verhör durch Kardinal Cajetan in Augsburg (1518), dem die Androhung des Banns (1520), der Bann durch den Papst (1521) und die kaiserliche Acht im Jahr 1521 folgten. Die theologische Debatte kann daher gar nicht ohne die Einbeziehung des Rechts gewürdigt werden.

 

Der religiöse Verständigung aber wurde erschwert oder schließlich unmöglich, weil sich beide Religionspartien für die wahre Kirche hielten (S. 142, 158ff., 235ff.). Da die Reformatoren keine Abspaltung beabsichtigen, sondern ebenso wie die römische Kirche beanspruchten, die wahre Kirche Christi zu sein, sahen sie sich auch berechtigt, über die kirchlichen Ämter und Güter zu verfügen. „Im Geistlichen lag [daher] der Grund und Mittelpunkt des Geschehens“ (S. 91).

 

Teil 2 beleuchtet Luthers Werdegang und seine theologischen Grundüberzeugungen, vor allem seine Erkenntnis der Rechtsfertigung des Sünders durch den Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus und sein festes Zutrauen zum Wort Gottes als Basis kirchlichen Handels (S. 117ff.). Heckel erläutert hier die Wirkung der großen reformatorischen Schriften des Jahren 1521. Luthers Durchbruch zur Rechtfertigung aus dem Glauben (sola fide), allein aus göttlicher Gnade (sola gratia) und die Ausrichtung von Kirche und Welt auf das Evangelium (sola scriptura) werden hervorgehoben (S. 129ff.). So ist der Mensch für Luther simul peccator et iustus (S. 132, 419, 565). Die Bedeutung der persönlichen Glaubensentscheidung für die Existenz des Menschen hat erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis der Kirche gezeitigt: Im lutherischen Verständnis ist die Kirche die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen. Im Glauben und an der Treue zum Evangelium erweist sich die apostolische Sukzession. Insofern wird die apostolische Sukzession nicht durch formale Akte, sondern durch die Bindung an das Wort Gottes begründet (S. 132ff., 148ff., 322f.). Tatsächlich wurde der Gedanke einer formalen apostolischen Sukzession erst im 16. Jahrhundert von Johannes Gropper in Köln als Antwort auf die Reformation entwickelt. Infolge der Reformation bleibt die Kirche zwar eine göttliche Stiftung (S. 467ff.), ihre institutionelle Ausgestaltung beruht aber nach lutherischer Auffassung nicht auf dem göttlichen Recht (ius divinum), sondern auf dem menschlichen Recht (ius humanum). Darauf kommt Heckel im dritten Teil zurück.

 

Entgegen einer landläufigen Meinung, die Fürsten hätten die Reformation auch aus Eigennutz durchgeführt, betont Heckel, die Stadträte und Territorialherren hätten als weltliche Obrigkeiten den Wandel „nicht geschaffen, ... sondern nur bestätigt, in eine äußere Form gebracht und weltlich geschützt, was sich geistlich durchgesetzt hatte“ (S. 141). Die Reformation nahm ihren Ausgang in der Predigt auf der Basis des Evangeliums und breitete sich spontan durch lutherische Prediger aus. Die Wurzeln für das spätere landesherrliche Kirchenregiment liegen im Übrigen bereits im 15. Jahrhundert (S. 67ff.). Schon im Verlauf des 15. Jahrhunderts hatten einige Fürsten, etwa die Habsburger, Wittelsbacher und Wettiner, Kontroll- und Mitwirkungsrechte über kirchliche Institutionen erhalten, etwa das Recht auf Ernennungen für Kanonikate oder Bistümer, die Kontrolle der kirchlichen Hierarchie durch den recursus ab abusu und die Appellation gegen kirchliche Entscheidungen an die weltlichen Gerichte. Vor allem in den Reichsstädten hatte der Rat bereits vielfach vor der Reformation Einfluss auf die Besetzung der Stadtpfarrkirchen gewonnen und das kirchliche Vermögen in der Stadt unter die Kontrolle städtischer Amtsträger gebracht (S. 88f.). Für die Zukunft aber folgte aus der Reformation im evangelischen wie im katholischen Bereich eine enge Beziehung zwischen Obrigkeit und Bevölkerung. Das gemeinsame Bekenntnis übte - so Heckel - im konfessionalisierten Territorialstaat legitimierende Wirkung aus (S. 84). Und bekanntlich führte die obrigkeitliche Verantwortung für das Wirtschaftsleben und die Arbeitswelt, die Universität und die Schulen, die Sozialfürsorge und das soziale Miteinander seit dem 16. Jahrhundert zu einer Intensivierung der Territorialherrschaft (S. 180 f.).

 

Um die gegensätzlichen Wahrheitsansprüche auf der Ebene des Reichs auszuschalten, wurden „dissimulierende Formelkompromisse“ gefunden (S. 143, auch S. 270ff.), um die eigenen religiösen Ziele hinter juristischen Argumenten und Formeln zu verschleiern, dadurch aber einen Kompromiss und eine Zusammenarbeit in Reichsangelegenheiten zu ermöglichen, der sich theologisch verbot (S. 143, 158ff.). Das Reichskirchenrecht stellte „als vorrangige doppelkonfessionell relativierte säkulare Rahmenordnung ... beiden Religionsparteien anheim, ob sie im Papst den Stellvertreter Christi und das Haupt der Kirche, oder den Teufel und den Ausbund seiner Gegenkirche sehen ... wollten“ (S. 224). Beide Seiten nahmen Zuflucht zu säkularen Argumenten und zu Rechtsbehelfen des römisch-kanonischen Prozessrechts, des Herkommens und des Naturrechts, um die unüberwindbaren theologischen Absolutheitsansprüche juristisch zu überbrücken (S. 271, 512f., 743). Der Schmalkaldische Krieg und später der Dreißigjährige Krieg brachen aus, als beide Religionsparteien versuchten, die rechtlichen Regelungen durch eine erweiternde Auslegung im eigenen konfessionellen Sinne zulasten der anderen Religionspartei auszudehnen und zu interpretieren (S. 273). Dass man auch heute aneinander vorbeiredet und die römische und die evangelische Kirche die jeweils andere Konfession nicht nach deren, sondern nach den jeweils eigenen Maßstäben beurteilt, kann Heckel an aktuellen Beispielen zeigen (S. 242f.).

 

Die Entwicklung des ius reformandi im Reichskirchenrecht erfolgte für die Territorien zur beiderseitigen Entfaltung und Sicherung ihrer Lehre (S. 184). Indem die Angehörigen beider Religionsparteien, um der Sicherung des äußeren Friedens willen, an der Formulierung der Regeln teilnahmen und auf reziproke Absicherung und Einhaltung der äußeren Grenzen angewiesen waren, achteten beide Seiten auch streng darauf, die jeweiligen territorialen Herrschaftssphären zu respektieren. Joachim Stephani sollte daher später (1599) die Formel „cuius regio, eius religio“ prägen. Das Reichskirchenrecht ermöglichte im Augsburger Religionsfrieden von 1555 den Reichsständen die freie Religionsausübung unter der Maßgabe das eigene Bekenntnis nur in ihrem eigenen Territorium durchzusetzen und Übergriffe auf die Verhältnisse anderer Reichsstände zu unterlassen (S. 224). Die theologische Entleerung der juristischen Argumentation war insofern erforderlich, um sich vor Übergriffen des jeweiligen Gegners zu sichern (S. 184, 241). So traten neben das kanonische Recht ein evangelisches Kirchenrecht und ein Reichskirchenrecht bzw. (zeitlich später) Staatskirchenrecht (S. 190, 267).

 

Das weltliche Recht verlor seine Bindung an die religiöse Wahrheit, um aber auf diese Weise die religiöse Wahrheit gegen andere Wahrheitsansprüche in ihrer Existenz zu sichern und zu bewahren (S. 199). Hier liegt die Wurzel der heutigen pluralistischen Koexistenz der Konfessionen im Grundgesetz (S. 199). Jede Religion bestimmt damit selbst den Inhalt und die Art der Ausübung ihres Glaubens. Eine moderne Konzeption der Menschenrechte ist darin nur im Keim zu sehen, etwa als Senfkorn, das sich später voll zu entfalten vermochte. So bedeutet die Freiheit eines Christenmenschen für Luther nicht die Selbstbestimmung des Menschen, sondern die Freiheit von seiner Sündenschuld im Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus, seinen Tod und seine Auferstehung sowie in der daraus folgenden Freiheit zu guten Werken der Nächstenliebe (S. 192ff.): So lebt nach Luthers Ansicht ein Christenmensch „in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe“ (WA Bd. 7, S. 38, nach Heckel, S. 196). Die Freiheit eines Christenmenschen beinhaltet aber zugleich, dass der Christ in Glaubensfragen keinem Zwang unterworfen werden darf. In den evangelischen Territorien gehört das Phänomen der Ketzerverfolgung somit der Vergangenheit an (S. 160f., 671, 693).

 

Gegen Karl Barth hebt Heckel zu Recht hervor, Luthers „pointiert weltliche Begründung des Rechts führte im 16. Jahrhundert ... zur Selbstbehauptung [der evangelischen Kirche] ... der evangelischen Verkündigung und Kirchenorganisation. Denn damit lieferte Luther den Protestanten die geistigen Waffen zur beharrlichen rechtlichen Bekämpfung des Banns und der Acht in den Formen der Reichsverfassung, die ihnen schließlich im Augsburger Religionsfrieden 1555 die politische Sicherheit und geistliche Entfaltungsfreiheit für die evangelische Verkündigung eintrug“ (S. 622). Der Gedanke der Eigengesetzlichkeit der Welt ist aber gerade keine Frucht der lutherischen Reformation, sondern der politischen Literatur während der Renaissance (S. 612ff., 620f.).

 

Teil 3 erläutert die Auswirkungen der evangelischen Lehre auf die Entwicklung kirchlicher Strukturen (S. 217ff.). Das Kirchenverständnis Luthers entwickelte sich auf der Grundlage seiner Rechtfertigungslehre als personales Geschehen am Menschen (S. 225ff.). Damit rückt das spirituelle Moment zulasten der äußeren Form in den Vordergrund. Die Kirche ist daher als Leib Christi und als Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen dort existent, wo das Wort Gottes lauter verkündet und die Sakramente recht verwaltet werden. Nicht der Papst, sondern Christus ist das Haupt der Kirche (S. 230). Von Gott geht der Auftrag zur Predigt und zur Verwaltung der Sakramente aus. Insofern liegt hier ius divinum vor. Die institutionelle Ausgestaltung der kirchlichen Ämter beruht dagegen auf menschlichem Recht (ius positivum) (S. 293). Insofern konnte Luther auch das Papsttum als menschliche Einrichtung anerkennen (S. 294).

 

Die lutherische Lehre vom personalen Geschehen der Rechtfertigung führte auch zu einem geänderten Amtsverständnis. Luther betonte das Priestertum aller Gläubigen (sacerdotium), das gleichen und unmittelbarem Zugang zu Gott beinhaltete, und dazu aufforderte, Zeugnis vom Evangelium in der Welt zu geben. Eine geistliche Hierarchie war nicht mehr denkbar, vielmehr kam allen Christen die gleiche geistliche Würde zu. Zugleich hielt Luther ein Predigtamt (ministerium verbi publicum) zur öffentlichen und schriftgemäßen Verkündigung auf der Basis einer universitären Ausbildung für notwendig (S. 298ff.). Da die kirchliche Gemeinde nach lutherischer Auffassung durch das Wort und nur durch das Wort entstand (S. 359), war die Kirche an die gewissenhafte Auslegung des Evangeliums gebunden. Gerade vor dem Hintergrund schwärmerischer Ideen, die von städtischen Massen aufgegriffen und zum Teil gewaltsam durchgesetzt wurden, hat Luther die Notwendigkeit einer universitären Predigerausbildung für wesentlich gehalten.

 

Trotz des evangelischen Summespikopats der Reichsstände kehrte die evangelischen Kirche keineswegs in den Zustand des byzantinischen Caesaropapismus zurück, sondern vollzog die Trennung geistlicher und weltlicher Gewalt im Sinne des Reformators. Summepiscopus war zwar der Landesherr, die geistlichen Aufgaben wurden jedoch von einem Superintendenten ausgeübt, einem Geistlichen, dem wie jedem Pastor die Seelsorge oblag. Den Bischofstitel vermochte der Superintendent nur deswegen nicht zu führen, weil die Reformatoren die Hoffnung auf die Rückkehr der katholischen Bischöfe zum wahren katholischen Glauben nicht aufgeben wollten (S. 334f.). Dagegen setzte sich die Vorstellung des Bischofs als Seelsorger im katholischen Bereich erst langsam, an sich erst nach 1803 durch, als die weltlichen Herrschaftsgebiete säkularisiert und mediatisiert wurden.

 

Teil 4 behandelt die Klärung und Festigung der Reformation im Schutz und durch die Unterstützung evangelischer Obrigkeiten (S. 341ff.). Die Obrigkeiten haben in aller Regel an bereits praktizierte Gemeindereformationen angeknüpft und diese in eine rechtliche Form gebracht (S. 352). Die Intensivierung der Territorialhoheit der Reichsstände war daher die Folge, aber keinesfalls der Anlass oder der Grund für die obrigkeitlichen Maßnahmen (S. 345). Der Beweggrund für das obrigkeitliche Handeln war stets die persönliche Glaubensüberzeugung. Das galt ebenso für die Verteidiger der altkirchlichen Ordnung, etwa durch Herzog Georg von Sachsen oder Herzog Wilhelm IV. von Bayern, wie für die Anhänger der lutherischen Lehre. Die Reaktionen der Reichsstände auf die lutherische Reformation lassen erhebliche Unterschiede erkennen, die von massiver Unterdrückung der evangelischen Predigt über Indifferenz und Duldung bis hin zur Förderung lutherischer Ideen reichte (S. 350ff.). Bedenkenswert ist, dass kein einziger Reichsstand nach der vollständigen militärischen Niederlage im Schmalkaldischen Krieg zu einem Verzicht auf die evangelische Lehre und zu einer Rückkehr zur altkirchlichen Ordnung bereit war (S. 347).

 

Teil 5 schildert Luthers Haltung zu den weltlichen Obrigkeiten und inwieweit ihnen Gehorsam geschuldet wird (S. 489ff., 557ff.). Luther hat dazu bekanntlich die Zwei - Regimente-Lehre entwickelt, die das Reich der wahrhaft Gläubigen und das Reich der Welt unterscheidet (S. 584ff.). Beide Regimente wirken zusammen im Dienst des Evangeliums. Das geistliche Regiment Christi zielt auf die Sünder im Reich der Welt, um sie für die Erlösung zu gewinnen. Das weltliche Regiment will dagegen dem Reich Gottes dienen, in dem es die wahren Gläubigen in der Kirche schützt und die freie Predigt des Evangeliums ermöglicht (S. 753). Auf dieser Basis erteilt Luther theologisch begründeten Kriegszügen eine Absage (S. 500ff.). Trotz anfänglicher Sympathien für die Forderungen der Bauern (S. 528ff.) stellt er sich später gegen diese Bewegung, weil er deren nackte Gewalt unter dem Deckmantel eines vermeintlich göttlichen Rechts und willkürlich ausgewählter Bibelstellen nicht gutheißen kann.

 

Ein ganz eigener Problemkreis bilden hier auch Luthers Judenschriften (S. 699ff.), die jüngst auch in der allgemeinen Presse Beachtung fanden. Sie sind in ihrer Gegensätzlichkeit kaum verständlich, wenn man nicht Luthers theologisches Anliegen in die Betrachtung einbezieht, die Juden durch ein Glaubenszeugnis für das Evangelium zu gewinnen. Der junge Luther spricht sich daher im Jahr 1523 nachdrücklich für eine Achtung der jüdischen Religion und den Abbau weltlicher Unterdrückung aus. 20 Jahre später, im Jahr 1543, fordert Luther dagegen in harten Worten die Vertreibung der Juden. Diese späten Äußerungen sind - wie Heckel zu Recht betont - nicht nur verstörend. Luther widerspricht sich damit eklatant selbst und verlässt die Basis der evangelischen Barmherzigkeit. Zu unterstreichen ist aber auch, dass diese späten Äußerungen in der evangelischen Kirche ohne Bedeutung blieben und auf die nationalsozialistische Rassenideologie und ihren brutalen Antisemitismus keine Wirkung entfalten konnten (S. 718).

 

Auf der Basis der Zwei-Regimente-Lehre und Röm. 13, 4, versteht Luther auch den Fürsten als Gottes Amtmann und Diener zur Durchsetzung des Dekalogs (Heckel, S. 545 unter Hinweis auf WA 18, 360). Luther begründet die Notwendigkeit der weltlichen Obrigkeit mit der Feststellung, dass neben den wahrhaft Gläubigen im Reich Gottes, in der Welt auch Menschen leben, die keine wahrhaften Christen sind. Während die wahren Christen in Gottes Reich nach den Vorgaben der Bergpredigt leben, gelten im Reich der Welt die 10 Gebote und das menschliche Gesetz. Zur Durchsetzung des Rechts muss das weltliche Regiment das Schwert führen. Für die Friedenswahrung ist das unerlässlich. Andernfalls droht ein Missbrauch der evangelischen Freiheit. Insofern trägt die Obrigkeit eine Mitverantwortung bei der Gestaltung der Welt.

 

Der Gewalt der Obrigkeit sind allerdings Grenzen gezogen. Die obrigkeitliche Gewalt kann sich nur auf Leib und Gut, die irdischen Dinge und das äußere menschliche Verhalten erstrecken (S. 570f.). In diesem Bereich handelt die Obrigkeit eigenverantwortlich (S. 577f.). Die Obrigkeit hat dagegen keine Gewalt über die Seele. Sie darf daher auch keinen Zwang in Glaubensfragen ausüben. Diese Vorstellungen sind - wie Heckel hervorhebt - zeitgebunden, aber übertragbar auf unsere heutige Verfassungsordnung. Zu Luthers Lebzeiten war eine institutionelle Ordnung nur in Ansätzen ausgebildet. Herrschaft wurde dagegen personal verstanden und ausgeübt. Diese Lebenswelt ist Geschichte und wurde im Verlauf des 18. und frühen 19. Jahrhunderts durch eine institutionalisierte Staatsstruktur ersetzt (S. 579). Insofern muss - so Heckel - der Gehorsam heute durch konstruktive Mitwirkung, die Übernahme öffentlicher Verantwortung und die aktive Teilnahme an der Meinungsbildung im pluralistischen Staat ersetzt werden (S. 579). Damit steht die lutherische Lehre sowohl einer Theokratie, aber ebenso den innerweltlichen totalitären Weltanschauungssystemen, die einen als paradiesisch beschriebenen Endzustand durch Blutvergießen und Gewaltanwendung realisieren wollen, ablehnend gegenüber (S. 582f.).

 

Teil 6 bildet den Epilog zum Vermächtnis und den Nachwirkungen der lutherischen Reformation (S. 757ff.). Heckel konstatiert hier einen Verlust der lutherischen theologischen Konzeption in den auf Luther folgenden Jahrhunderten (S. 757ff.). Die spätere theoretische Grundlegung des evangelischen landesherrlichen Kirchenregiments in der Episkopaltheorie, der Territorialtheorie und der Kollegialtheorie können Luthers Vorgaben nicht statthalten (S. 233f.). Dagegen differenziert sich die Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment aus und wird wegweisend für das heutige Miteinander von Kirche und Staat. Als ius in sacra wird die innere Kirchengewalt über Lehre und Bekenntnis verstanden, an die auch die weltliche Obrigkeit gebunden ist. Das ius circa sacra bezieht sich dagegen auf die äußere Kirchenhoheit, etwa auf die Baulast und die Dotierung der Pfarrstellen (S. 780ff.).

 

Damit ist schon der Übergang zu der geplanten Fortsetzung des Unternehmens geschaffen. Mit Spannung dürfen die zwei Bände bis zum Westfälischen Frieden und weiter bis zum gegenwärtigen evangelischen Kirchenrecht und modernen Staatskirchenrecht erwartet werden. Mit diesem Band liegt rechtzeitig zum Reformationsjahr 2017 ein großes Buch bereit. Es zeichnet sich durch stupende Kenntnis theologischer, historischer und juristischer Gedanken und Zusammenhänge aus. Martin Heckel ist es gelungen, die entscheidenden Verbindungslinien zwischen der Theologie, dem Recht und der Politik aufzuzeigen. Jeden Leser wird die Fülle kluger Gedanken bereichern. Als Nachschlagewerk wird es über die Grenzen der Fakultäten hinweg künftig unentbehrlich sein. Zugleich kann es als Lesebuch dienen, denn vielfach wird Luther im Originalwortlaut zitiert. Als Fazit lässt sich festhalten: Luthers weltgeschichtliche Bedeutung beruht auf der theologischen Begründung einer weltlichen Rechtsordnung zur Gestaltung der irdischen Lebensverhältnisse unter Vorbehalt der persönlichen Glaubensüberzeugung sowie auf seiner unerschütterlichen Treue zum Wort Gottes im Evangelium, auch wenn sich sein eigentliches Ziel, die innere Reform der universalen Kirche, nicht verwirklichen ließ.

 

Tallinn/Würzburg                                                       Steffen Schlinker