Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, hg. v. Oltmer, Jochen. De Gruyter Oldenburg, Berlin 2016. XII, 1058 S.

 

In dem von Oltmer herausgegebenen Werk geht es um das „Wechselverhältnis von Staat und Migration in Deutschland“ seit dem 17. Jahrhundert bis zu dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Aus der „Vielzahl der in Migrationsregimen an der Aushandlung von Migration beteiligten Institutionen“ konzentriert sich das Handbuch auf staatliche Akteure, „die in der Regel zu den besonders machtvollen Handelnden zählten bzw. als solche erschienen“ (S. 2). In seiner Einleitung thematisiert Oltmer zunächst die Beobachtungsperspektive der historischen Migrationsforschung sowie Hintergründe und Erscheinungsformen der Migration (S. 7ff.). Migration kann nach Oltmer bedeuten das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen oder auch nur räumliche Bewegung innerhalb eines politisch-territorialen Gebildes (S. 7). Dieser weite Begriff der Migration wird erläutert in der Tabelle über die Migrationsformen (S. 12, u. a. Arbeitswanderung, Siedlungsbewegung, Deportation). Die Typologie der Gewalt- und Zwangsmigration umfasst Deportation, Evakuierung, Flucht, Umsiedlung und Vertreibung (S. 19). S. 20ff. weist Oltmer auf die „Migrationsregime“ hin, welche die „Migrationsbewegungen“ durch ein „Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure prägt“ (S. 20). S. 23ff. behandelt Oltmer die Migration als System von Auswanderungsprozessen und S. 26ff. das Wechselverhältnis von Staat und Migration im Wandel bzw. in seiner historischen Entwicklung. Das Handbuch orientiert sich an folgenden „markanten und grundlegenden Prozessen“:

1. Territoriale Landeshoheit und verdichtete Verwaltungsstaaten: Innere Staatsbildung und Migration von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.

2. Obrigkeitliche Reformvorhaben und repressive Verfassungsstaaten: innere Marktbildung und Migration vom Ende des. 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.

3. Autoritärer Nationalstaat und imperiales Machtstreben: innere Nationsbildung und Migration im Kaiserreich.

4. Demokratischer Wohlfahrtsstaat und revisionistische Mittelmacht: Protektionismus und Migration in der Weimarer Republik.

5. Interventionistischer Führerstaat und Imperium im Vernichtungskrieg: Rassismus und Migration im nationalsozialistischen Deutschland.

6. Doppelte Staatlichkeit im Systemkonflikt des „Kalten Krieges“: wirtschaftliche Rekonstruktion, Sozialstaat und Migration 1945-1989 und

7. Staat um die Jahrtausendwende: Die Aushandlung nationaler Souveränitätsrechte im europäischen Integrationsprozess und Migration im vereinigten Deutschland seit 1990.

 

Der Hauptteil des Handbuchs besteht im Rahmen der aufgezeigten Epochengliederung aus 29 Einzelbeiträgen, von denen Oltmer fünf übernommen hat. Im Beitrag über die Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geht Karl Härter aus von der Minoritätsgesetzgebung für elf Territorien und zwei Reichsstädte. Die Ordnungsgesetze umfassten die Verhinderung unerwünschter Wanderungsbewegungen, die Verhinderung der Abwanderung „nützlicher“ Untertanen, einen kontrollierten, begrenzten Zuzug und die Ansiedlung konfessionell und wirtschaftlich erwünschter Migranten sowie die Privilegierung spezifischer „nützlicher“ Migrationsformen (S. 57). Im Übergangszeitraum waren Grenzkontrollen und ab Mitte des 17. Jahrhunderts auch das Passwesen etabliert; jedoch bestand noch kein Passzwang. Im Beitrag Matthias Asches geht es um Militärdienste als temporäre oder dauerhafte Phänomene von Arbeitsemigration (S. 87ff., 116), während Alexander Schunka die konfessionellen Migrationen untersucht (S. 117ff.). Der Teil I wird abgeschlossen mit dem Beitrag Ulrich Niggemanns über die merkantilistische Bevölkerungspolitik (S. 171ff.). Der Teil II wird eröffnet durch Andreas Fahrmeir über die Ausbildung des Passwesens, dessen Praxis und die Wirkungen des Kontrollsystems (ab 1859 Abschaffung der Grenzkontrollen). Die Freizügigkeit und die Auswanderungsfreiheit werden bestimmt durch die Ausweitung des ländlichen und gewerblichen Arbeitsmarkts und das Prinzip des Unterstützungswohnsitzes (reichseinheitliche Regelung der Freizügigkeit 1867/1871; hierzu Bettina Hitzer, S. 245ff.). Über die überseeische Massenabwanderung unterrichtet der Beitrag von Uwe Plaß (S. 291ff.). Erst 1897 erging ein Reichsauswanderungsgesetz, das „einheitliche Standards hinsichtlich des Agentenwesens und der Beförderung“ vorschrieb (S. 314).

 

Im Teil III geht es um Migration im Kaiserreich und um die „Infrastrukturkontrolle und die Ordnung der Migrationsverhältnisse“ (S. 341ff.; Christian Reinecke) und um die Etablierung von Zwangsarbeitsregimen im Ersten Weltkrieg (S. 385ff., Jens Thiel), von denen „wichtige Impulse für die Etablierung des NS-Zwangsarbeitsregimes ausgingen (S. 415). Die fünf Beiträge über die Weimarer Zeit (S. 419-533) stammen von Oltmer und behandeln folgende Themen: Repatriierung von Kriegsgefangenen, Schutz der Flüchtlinge, Zuwanderung, Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit und Schutz des nationalen Arbeitsmarktes. Zu den politischen Flüchtlingen gehörten vornehmlich Juden; die Zuwanderung von Deutschen umfasste rund 1 Million Personen (S. 462ff.). Den Grundstein für die späteren Ausländergesetze legte die preußische Ausländerpolizeiverordnung von 1932 (S. 453, hierzu Karl-Ludwig Dachsmann, Das Asylrecht in Preußen zur Zeit der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der Preußischen Ausländerpolizeiverordnung vom 27.4.1932, Diss. iur. Bonn 2000), die allerdings kaum mehr relevant wurde.

 

Die Migration im nationalsozialistischen Staat wird erschlossen in vier Beiträgen (S. 537-718) von Christoph Rass, Detlef Schmiechen-Ackermann, Mark Spoerer und Markus Leniger. Bedrückend zu lesen ist der umfassend recherchierte Beitrag Schmiechen-Ackermanns über die Ausgrenzung und Austreibung „ ‚unerwünschter‘“ Gruppen (Exodus aus Kunst und Kultur sowie aus dem Bereich der Wissenschaft, Ausgrenzung der Juden bis zum Holocaust, Verfolgung von „Schwarzen“ und Ausmerzung von „Ballastexistenzen“ [u. a. Homosexuelle, Asoziale], Exklusion der Sinti und Roma). Umfassend ist auch der Beitrag Spoerers über die Arbeitskräftemigration in der NS-Zeit („Arbeitseinsatz“ mit Arbeitskräften aus den Ländern des besetzten Europa). In einem knappen aufschlussreichen Bericht unterrichtet Leniger zuverlässig über die nationalsozialistische Siedlungspolitik (S. 681ff.). – Die Thematik „Migration“ für die Zeit von 1945 bis 1989 (S. 721-995) umfasst mit acht Beiträgen folgende Themen: Zwangsemigration von mehr als 12 Millionen Deutschen, überseeische Auswanderung, deutsch-deutsche Migrationsverhältnisse, grenzüberschreitende Arbeitsmigration, Migration in der Deutschen Demokratischen Republik, Flüchtlingsaufnahme bis zur Grundgesetzänderung von 1953 und Europäisierung der Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren. Hervorzuheben ist, dass die Autoren in ihren Darstellungen auch archivalische Quellen heranziehen und die Verrechtlichung der Migration und des Asyls einbeziehen (Patrice G. Poutrus, S. 853ff.). Frank Wolff geht in seinem Beitrag über die innerdeutsche Migration von einer „Verflechtungsgeschichte“ aus (S. 773ff.) und kommt zu dem Ergebnis: „Weder war die Politik des SED-Staates dauerhaft von einer prinzipiellen Überforderung durch den Emigrationsdruck gekennzeichnet, noch ist die Politik und Kultur der Bundesrepublik auf eine grundlegende Aufnahmebereitschaft und auf kohärent unterstützende Maßnahmen gegenüber den Auswanderern aus der DDR zu reduzieren“. Vielmehr benötige dies eine „schonungslose und entmystifizierende Historisierung der dynamischen Prozesse zwischen Individuen, Politik und Gesellschaft“ (S. 814). – Teil VII geht ein auf die Ost-West-Wanderungen und auf die Normalisierung und Europäisierung des deutschen Asylrechts.

 

Das Werk wird abgeschlossen mit einem Verzeichnis über die Autorinnen und Autoren (S. 1041 ff.) und einem Verzeichnis der Länder, Regionen und Orte. Zur Erschließung des reichhaltigen Inhalts des Handbuchs wäre auch noch ein Sachverzeichnis wünschenswert gewesen. Dasselbe gilt für ein Abkürzungsverzeichnis und ein Verzeichnis der schwerpunktmäßig von den Autoren herangezogenen Literatur. Endlich fehlt ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, das auch die Zwischenüberschriften der umfangreichen Einzelbeiträge aufführt. Das von Oltmer herausgegebene Werk befriedigt nahezu alle Wünsche, die ein Handbuch erfüllen kann und ist ein notwendiges Pendant zur „Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (hrsg. von Klaus J. Bade, Paderborn 2007). Diese Enzyklopädie ist international angelegt und erschließt zusätzlich in kurzen Artikeln die einzelnen Migrationsgruppen. Wie wenig das weite Feld des Migrationsrechts und Asylrechts rechtshistorisch erschlossen ist, zeigen die einzelnen Beiträge zu den einschlägigen Lemmata in der 2. Auflage des „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“ (ab 2008). Es ist zu wünschen, dass sich die Rechtsgeschichte vermehrt mit der Rechtsentwicklung dieses Rechtsgebiets im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts befasst.

 

Kiel

Werner Schubert