Görtemaker, Manfred/Safferling, Christoph, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit. Beck, München 2016. 588 S., 19 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Jahr 2013 konnte der Rezensent an dieser Stelle erstmalig das sogenannte Rosenburg-Projekt vorstellen. Anlass war die Besprechung eines Sammelbandes, der eine erste Einführung in das Aufgabenspektrum jener unabhängigen Kommission vermittelte, die die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger 2012 zur Klärung der nationalsozialistischen Belastung des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) berufen hat. Ausgewählten Juristen vornehmlich der Universität Marburg und Historikern der Universität Potsdam wurde unbeschränkter Zugang zu den Akten des Ministeriums gewährt, um die folgenden Fragen hinreichend zu klären: „Welche personellen und institutionellen Kontinuitäten gab es? Wie tief war der Bruch 1945/49 wirklich? Und wie sah es mit den inhaltlichen Aspekten der Politik aus? Wurden auch diese, wenn man unterstellt, dass viele der handelnden Personen schon vor 1945 aktiv gewesen waren, vom Gedankengut des Nationalsozialismus beeinflusst? Und wenn ja, auf welche Weise?“ (S. 12). Wie schon für das Auswärtige Amt (2010), das Bundeskriminalamt (2011) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (2015) liegt nun mit der neuen Publikation aus der Feder der beiden Leitenden Kommissionsmitglieder Manfred Görtemaker (Historiker Universität Potsdam) und Christoph Safferling (Rechtsgelehrter Universität Erlangen-Nürnberg) ein in Bezug auf die gestellten Fragen aussagekräftiger Endbericht vor.

 

Die Rosenburg in Bonn-Kessenich war von 1950 bis 1973 Sitz des  Bundesministeriums der Justiz und steht somit symbolisch für jene dem Weltkrieg folgenden Jahrzehnte, in denen eine relevante Fortschreibung der Hitler-Diktatur in personeller Hinsicht bestand. Die Untersuchung gliedert sich in zwei Hauptabschnitte, deren erster der Gründung, dem Aufbau (1949 bis 1953) und der Entwicklung des Ministeriums gewidmet ist. Dabei wird der Weg von der Gesetzgebung der Alliierten und der Entnazifizierung über die Landesjustizverwaltungen hin zum  Bundesministerium der Justiz und zu dessen Personalpolitik im Kontext der „Schlussstrich-Mentalität“ der Adenauer-Ära nachgezeichnet und der von der Vergangenheit überschattete „Geist der Rosenburg“ bis zur Neuorientierung der Personalpolitik in der Mitte der 1960er-Jahre unter dem Eindruck der spektakulären Prozesse gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und gegen Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz in Frankfurt am Main charakterisiert. Der zweite Hauptabschnitt befasst sich zunächst mit der systematischen Auswertung der allgemeinen Personalentwicklung im Führungszirkel des  Bundesministeriums der Justiz bis 1973 mit Seitenblicken auf den Bundesgerichtshof, die Generalbundesanwaltschaft und das Bundesverfassungsgericht. Anschließend werden die vier Abteilungen des Ministeriums (Bürgerliches Recht, Strafrecht, Wirtschaftsrecht, Öffentliches Recht) im Hinblick auf die Karrieren ihrer nationalsozialistisch belasteten Mitarbeiter durchleuchtet. Die prekäre Frage, inwieweit nationalsozialistisches Rechtsdenken in die Gesetzgebung der Bundesrepublik eingeflossen ist, wird abschließend an sieben Sachbereichen geprüft: der Strafrechtsreform, dem Staatsschutzrecht, dem Jugendstrafrecht, der „kalten Amnestie“, dem geheimen „Kriegsbuch“ oder „V[erteidigungs]-Buch“, der Aufhebung der Erbgesundheitsurteile und den Bestrebungen zur Wiedereinführung einer Wehrstrafgerichtsbarkeit im Verteidigungsfall.

 

Als „Gründerväter“ standen mit Minister Dr. Thomas Dehler (FDP) und dem Staatssekretär Dr. Walter Strauß (CDU), der nicht nur Dehler, sondern allen sechs Justizministern der Ära Adenauer von 1949 bis 1963 gedient hat, zwei Persönlichkeiten an der Spitze des Ministeriums, die unter dem Nationalsozialismus politischer und rassischer Diskriminierung ausgesetzt waren. Dass sich beide dennoch nicht scheuten, erheblich belastete Nationalsozialisten an Schlüsselstellen des Ministeriums einzusetzen, lag zum einen an deren unbestreitbarer Fachkompetenz, auf die man nicht zu verzichten können glaubte, zum anderen aber auch an einer gewissen Dankbarkeit, die sich auf persönliche Hilfestellungen während der Diktatur gründete. So sei beispielsweise Dr. Willi Geiger als ehemaliges Mitglied der SA und einstiger Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg „in höchstem Maße NS-belastet, politisch diskreditiert und damit für die rechtsstaatliche Justiz der Demokratie in der Nachkriegszeit eigentlich unbrauchbar“ gewesen (S. 97). Das hinderte Dehler nicht daran, ihn als seinen Personalreferenten zunächst an das Oberlandesgericht (OLG) Bamberg und schließlich 1949/1950 als seinen Persönlichen Referenten und Leiter des Personalreferats in das  Bundesministerium der Justiz zu holen und später zum Bundesverfassungsrichter vorzuschlagen, „Geiger dankte es ihm durch größte Loyalität“ (S. 109). Während der nationalsozialistischen Herrschaft hatte der mit einer Jüdin verheiratete und damit in einer „privilegierten Mischehe“ lebende, damalige Rechtsanwalt Thomas Dehler nach eigener Aussage „zu zahlreichen Richtern und Staatsanwälten bei den Bamberger Gerichten, die fast ausnahmslos der NSDAP angehörten, ‚ein enges Vertrauensverhältnis‘ besessen“, und sein exponiert nationalsozialistischer Anwaltskollege, der Blutordensträger Friedrich Kuhn, hat „die Familie möglicherweise bis 1945 vor existenzbedrohenden Übergriffen“ geschützt (S. 88f.). Auf ähnliche Erfahrungen konnte auch Walter Strauß zurückblicken, der, als Jude 1935 ohne Versorgungsbezüge in den Ruhestand versetzt, sich 1939 taufen ließ und zum evangelischen Glauben konvertierte, womit er bis 1942 als Jurist bei der Auswandererhilfe für Juden und politisch Verfolgte tätig werden konnte. Dabei war sein direkter Ansprechpartner im Innenministerium der damalige Ministerialrat und spätere Adenauer-Intimus Dr. Hans Globke, dessen Rückendeckung „nicht nur den ausreisewilligen Juden zugute (kam)“, sondern der ihm auch „nach dem Übertritt zum evangelischen Glauben bei seiner ‚Arisierung‘ behilflich war, die ihn möglicherweise vor Verfolgung und Deportation bewahrte und ihm damit das Leben rettete“ (S. 94). Diese positiven persönlichen Erfahrungen verhinderten bei den Spitzen des Ministeriums offenbar eine harte Linie gegenüber nationalsozialistisch belasteten Juristen; das ging so weit, dass Thomas Dehler „nicht nur diejenigen Deutschen für Opfer des Nationalsozialismus (hielt), die ausgegrenzt, verfolgt oder ermordet worden waren, sondern mit Ausnahme der kleinen Führungsschicht praktisch alle“ (S. 122), und damit einen wirkmächtigen gesellschaftlichen Exkulpationsdiskurs stützte.

 

Da die zentrale Leitlinie der Personalpolitik des  Bundesministeriums der Justiz von Anfang an die Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit war, habe man auch einschlägig belasteten Juristen den Status unpolitischer Beamter zugeschrieben und dabei die Fragwürdigkeit der uneingeschränkten politischen Instrumentalisierbarkeit dieser anpassungsfähigen „Techniker der Macht“ einfach ausgeklammert. Die Auswertung von 170 Personalakten von bis einschließlich 1927 geborenen Führungskräften des  Bundesministeriums der Justiz (Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter, Referatsleiter) zeigt einen Anteil von 155 Volljuristen mit einer Promotionsquote von 58 Prozent und bestätigt damit deren nicht zu bestreitende hohe fachliche Qualifikation. Die nationalsozialistische Belastung dieses Personenkreises erreichte ihren Kulminationspunkt 1957: In diesem Jahr „wiesen 55 Personen eine formelle NS-Belastung auf: 42 (76 Prozent) waren bei der NSDAP und 18 (33 Prozent) bei der SA gewesen“ (S. 263). 1973 waren unter den nun 95 Leitern des gewachsenen Ministeriums immerhin noch 22 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder und 8 Prozent frühere SA-Leute, erst 1986 war die Führungsetage des Ressorts frei von derartigen historischen Belastungen. Wegen nationalsozialistischer Verbrechen seien insgesamt zehn Verfahren eingeleitet worden, die aber rasch wieder eingestellt wurden. Deutlich aussagekräftiger im Hinblick auf die Feststellung der tatsächlichen Qualität der NS-Belastung einer Person als diese an formelle Kriterien anknüpfende Statistik ist aber die genaue historische Durchleuchtung der Biographien des Führungspersonals in den einzelnen Abteilungen des  Bundesministeriums der Justiz. Max Merten, Leiter des Referats Zwangsvollstreckung und 1952 als einziger der Belasteten aus dem Dienstverhältnis bei dem  Bundesministerium der Justiz entlassen, sei etwa „ein richtiger Kriegsverbrecher“ und einst „an Judendeportationen aus Thessaloniki beteiligt gewesen“ (S. 313). Andere, wie beispielsweise Dr. Josef Schafheutle, „die dominierende Figur in der Abteilung II […] von 1950 bis 1967“ (S. 320), oder sein designierter, nur durch einen Regierungswechsel verhinderter Nachfolger Dr. Eduard Dreher hatten sich in anderen bedenklichen Kontexten einschlägig engagiert. Über sie und viele weitere liefert der vorliegende Band Erhellendes.

 

Dass, wie die Untersuchung ergibt, in allen Abteilungen des  Bundesministeriums der Justiz nationalsozialistisch vorbelastete Beamte einflussreiche Positionen bekleideten, ist somit eine nicht sonderlich überraschende und weitgehend bereits länger bekannte Tatsache. Spannender ist hingegen die Frage, ob diese Konstellation nachhaltig den demokratischen Prozess in der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt hat. Ein Reizthema war hier stets die sogenannte „kalte Amnestie“, die mit dem Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz 1968 gleichsam durch die Hintertür eintretende Verjährung sämtlicher Fälle von nationalsozialistischer Mordbeihilfe. Nach einer ausführlichen Darstellung der Genese fragen die Verfasser: „Doch wie ist der Vorgang insgesamt zu bewerten: War es eine gesetzgeberische Panne? Gab es eine Verschwörung im  Bundesministerium der Justiz, um das Einführungsgesetz ohne den entscheidenden einschränkenden Satz zur Frage der Verjährung durch alle Gremien und über alle parlamentarischen Hürden zu bringen? Oder war es gar Eduard Dreher allein, der seine strafrechtliche Kompetenz nutzte, um alle NS-Gehilfen vor Strafverfolgung zu bewahren?“. Zwar ließen sich die gestellten Fragen „endgültig […] nicht beantworten“, doch bestünden „unübersehbare Anhaltspunkte, dass zumindest Eduard Dreher dabei eine Schlüsselrolle spielte“ (S. 417). Denn „nur Dreher, von dem bereits 1959, 1962 und 1965 drei Fälle bekannt geworden waren, in denen seine Beteiligung an fragwürdigen Todesurteilen am Sondergericht Innsbruck erwiesen war, und gegen den […] am 14. August 1968 in Bonn Strafanzeige wegen Mitwirkung an den Todesurteilen gegen Knoflach und Hauser erstattet worden war, besaß aufgrund seiner Position in der Strafrechtsabteilung des  Bundesministeriums der Justiz die Mittel, auf die Gestaltung des Gesetzes in der erforderlichen Weise einzuwirken, so dass die Verjährungsformel in dem Gesetz am Ende nicht mehr enthalten war. Die Anschuldigungen, die gegen ihn […] erhoben worden waren, bedeuteten dabei für ihn nicht nur in strafrechtlicher Hinsicht eine Gefahr, sondern waren auch seinem persönlichen Renommee und seiner dienstlichen Stellung abträglich“. Dazu kam der damals noch nicht öffentlich bekannte Fall Leimberger, bei dem Dreher sich seinerzeit als Teilnehmer oder Mittäter eines Tötungsdelikts des Gerichts schuldig gemacht haben könnte. Somit sei er letztlich „der einzige“ gewesen, „der ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit besaß, in einer Weise auf die Gesetzgebung einzuwirken, dass am Ende die meisten Fälle von Mordbeihilfe aus der NS-Zeit verjährt waren“ (S. 419f.), und dies rückwirkend zum 9. Mai 1960. Im Kontext mit Straffreiheitsgesetzen (1949, 1954) sowie der späten Aufhebung sogenannter Unrechtsurteile, etwa wegen Kriegsverrat (2009), halten die Verfasser resümierend fest, dass die „Verfolgung von NS-Straftätern […] von der deutschen Justiz geradezu verhindert wurde – begleitet und gefördert nicht zuletzt vom  Bundesministerium der Justiz“ (S. 454). Die Vorbereitungen einer Wehrstrafgerichtsbarkeit im Verteidigungsfall sind ein weiteres Exempel für den konkreten Einfluss belasteter Nationalsozialisten, ein Projekt, für das 1957 mit Joachim Schölz ein ehemaliger Kriegsrichter und Angehöriger der Abteilung Wehrrecht im Oberkommando der Wehrmacht (OKW-WR) als Referatsleiter im  Bundesministerium der Justiz angestellt wurde, das zur Erstellung von Listen in Frage kommender Richter und Staatsanwälte auf Grund freiwilliger Meldung mit einem Anteil von 37 Prozent ehemaliger Kriegsrichter der Wehrmacht und der Waffen-SS führte und erst 2001 endgültig ad acta gelegt worden ist.

 

Den im Endeffekt doch nur sehr begrenzten Einfluss nationalsozialistischen Gedankenguts auf die Gesetzgebung der Bundesrepublik erklären Manfred Görtemaker und Christoph Safferling damit, „dass die parlamentarische Kontrolle funktionierte und die allgemeinen Rahmenbedingungen, unter denen die Bundesrepublik Teil der westlichen Wertegemeinschaft geworden war, nicht mehr zuließen, dass politisch diskreditierte Rechtsgrundsätze einfach fortgeschrieben wurden“, und wo es dennoch zu Anknüpfungen kam, beruhten sie „nicht zwangsläufig nur auf den persönlichen NS-Erfahrungen derjenigen, die an der Formulierung der entsprechenden Gesetze in der Bundesrepublik mitwirkten“, sondern entsprachen „oft  auch dem ‚Zeitgeist‘, der sich in der deutschen Gesellschaft von den 1930er Jahren bis zur Mitte der 1960er Jahre kaum geändert hatte“ (S. 454). Hier offenbart sich die Konstanz übergeordneter mentalitätsgeschichtlicher Strukturen über politische Systemumbrüche hinweg, die auf der anderen Seite wohl auch die rasche Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die neue Staatsordnung gewährleistete. Die „Akte Rosenburg“ ist somit nicht nur die späte „Vergangenheitsbewältigung“ einer zentralen Instanz des Staatsapparates mit den zu erwartenden Ergebnissen, sondern zugleich auch ein Studienbeispiel für gelungene gesellschaftliche Reintegration unter zugegeben fragwürdigen Prämissen. Einer Spezialstudie mag es vorbehalten bleiben, näher zu prüfen, ob und in welchem Umfang gangbare Alternativen zur frühen, NS-freundlichen Personalpolitik des  Bundesministeriums der Justiz in Gestalt kompetenter unbelasteter Juristen zur Verfügung gestanden hätten.

 

Unter der Ausstattung des sorgfältig lektorierten Werks ist neben dem 19 Schwarzweiß-Fotografien relevanter Akteure umfassenden, auf Glanzpapier gedruckten und zentral placierten Abbildungsblock vor allem das umfangreiche und detaillierte Verzeichnis der Quellen zu loben, das auch 26 Zeitzeugen – der bekannteste unter ihnen wohl Prof. Dr. Horst Ehmke, Staatssekretär unter Gustav Heinemann und 1969 dessen Nachfolger im Amt des Justizministers – anführt, die im Zuge des Projekts von den Verfassern interviewt worden sind. Desiderata bleiben ein Sachregister sowie grafisch aufbereitete Unterlagen, welche die Geschäftsverteilung und Stellenbesetzung des Ministeriums mit Ausweis der nationalsozialistischen Belastung anschaulich darlegen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic