Dieterich, Thomas, Ein Richterleben im Arbeits- und Verfassungsrecht. Berliner Wissenschafts-Verlag 2016. XI, 270 S., 5 Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Das mit einer eigenen Zeichnung einer Stellung „in der Gesetzeslücke“ auf dem Umschlag veranschaulichte Werk ist nach dem Vorwort des Verfassers „keine Autobiografie, sondern so etwas wie erlebte Rechtsgeschichte aus der Sicht eines“ im Eingang abgelichteten „Richters, der in seiner Aufgabe ganz aufgegangen war“.  Eine solche Abtrennung des Berufs von der Fülle des Privaten hat nach den Worten des Verfassers etwas Künstliches, weil ein erfolgreiches Berufsleben ohne ein erfülltes Privatleben eigentlich gar nicht möglich ist. Aber die umfassende Darstellung der Irrungen und Wirrungen, der Freuden und Nöte, der Widersprüche und Brüche eines Menschenlebens verlangt literarische Gestaltungskraft, die sich Dieterich abspricht, während andererseits eine reine Chronik für ihn vollkommen uninteressant wäre.

 

Demgegenüber erscheinen dem 1934 geborenen und vor kurzem verstorbenen Verfasser zutreffend Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnisse, die ein Richter im Laufe von fast 50 Jahren in Deutschland nach 1945 machen konnte, interessant genug, aufgeschrieben zu werden. In etwas anderer Form hatte er schon lange vor diesem Bericht seine dramatischen Erlebnisse als kleiner Junge in den Jahren 1944 und 1945 zu Papier gebracht. Da die damaligen prägenden Erlebnisse für die späteren Wertvorstellungen und den ausgeübten Beruf grundlegend wurden, sind sie zum besseren Verständnis unverändert den Erlebnissen des Richters vorangestellt.

 

Dieser Tiefenbohrung (Fluchtgeschichten) folgen insgesamt 13 weitere Kapitel.  Sie betreffen den Anfang in Ludwigsburg (1963/964), Vorgeschichte und Vorverständnis (an den Universitäten Heidelberg und Göttingen), wissenschaftliche Mitarbeit in dem Bundesarbeitsgericht (1965/1966), Baden-Württemberg (1967-1972), die Tätigkeit als jüngster Bundesrichter in Kassel (ab 1972), Holzwege zwischen Kassel und Karlsruhe, Richterrecht in Permanenz (1980), neue Richter – neues Klima (1980-1987), die Tätigkeit als Verfassungsrichter in Karlsruhe (1987-1994), lebendige Grundrechte in eigenen Voten und im Senat, die Rückkehr zum Bundesarbeitsgericht als Präsident (1994-1999) sowie Schluss und Nachspiele (Abgang mit Treppchen) sowie Extrakt (Gesetz und Recht, Richter und Rechtsstaat, Offenheit und Öffentlichkeit). Im Ergebnis bietet Dieterich dabei tiefe Einblicke in das Arbeitsleben eines herausragenden Richters und die Funktion eines Rechtsstaats aus autobiographischer Sicht, die allen an der Entstehung von Rechtsüberzeugungen und ihrer Umsetzung im Richteramt Interessierten reichen Gewinn gewähren können.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler