Calic, Marie-Janine, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. Beck, München 2016. 704 S., 41 Abb., 7 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit Südosteuropa verbindet Marie-Janine Calic nicht nur ihr Beruf als Inhaberin des Lehrstuhls für die Geschichte Ost- und Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München, sondern auch ihre familiäre Herkunft. Denn ihr kroatischer Vater, Edouard Calic (1910 – 2003), wurde einst unter dem Namen Eduard Čalić nahe dem damals österreichisch-ungarischen Pula in Istrien geboren und ließ sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Paris und später in Berlin nieder, wo Tochter Marie-Janine 1962 geboren wurde; von den Nationalsozialisten einst im Konzentrationslager interniert, konnte er später als Historiker mit umstrittenen Publikationen zur Geschichte des Dritten Reichs – bekannt geworden sind vor allem seine Beiträge zur Kontroverse um den Reichstagsbrand und seine Biographie Reinhard Heydrichs – einiges Aufsehen erregen. Marie-Janine Calics mehrfach aufgelegte „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ (2010) fand in der Fachwelt weitgehend wohlwollende Resonanz.

 

Ihr nunmehr vorliegendes, neuestes Werk sprengt diesen Rahmen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Es handelt sich um nichts weniger als den temporal von der Spätantike bis zur jüngsten Gegenwart angesetzten „Versuch, Werden und Wandel Südosteuropas aus der Perspektive von transkulturellen Beziehungen und Globalgeschichte neu zu denken“, womit es um die Frage gehe, „wie Südosteuropa mit ferneren Kontinenten und Kulturen verflochten war, wie grenzüberschreitende Prozesse und Interaktionen dort wahrgenommen und gestaltet wurden und wie es aus diesen heraus sozial konstruiert wurde. […] Wie manifestierten sich grenzüberschreitende Prozesse und die Globalisierung im engeren Sinn in den Ländern Südosteuropas? Wer und was beförderte Verflechtung und Austausch? Wie ordnete sich die Region in die Strukturen der Weltwirtschaft ein, und wie wirkte sich das Zusammenwachsen der Welt auch in politischer und kultureller Hinsicht aus? Und wie stark waren die Beharrungskräfte, wie bedeutend war die Zahl derer, die sich der Einbindung in übergreifende Zusammenhänge entzogen?“ (S. 9ff.).

 

Ein solcher Ansatz führt unweigerlich über den Interpretationsrahmen der gängigen nationalen, großregionalen oder imperialen Koordinatensysteme hinaus, die klassische Aneinanderreihung von Ländergeschichten hat hier ausgedient. Chronologisch aufsteigend bis zum abschließenden Fazit „Südosteuropa und die Welt“, entwickelt sich die gesamte Darstellung über fünf Abschnitte: I: Lebenswelten und Zivilisationen vor 1500; II: Weltreiche und Weltwirtschaften 1450 bis 1800 (Aufstieg und Vormacht des Osmanischen Reiches; Herausforderungen des „Ancien Régime“); III: Das Jahrhundert der globalen Revolutionen 1776 bis 1878 (Die Auflösung der alten Ordnung 1770 bis 1830; Auf dem Weg zum Nationalstaat 1830 bis 1878); IV: Weltkrisen und Weltkriege 1870 bis 1945 (Imperialismus 1870 bis 1912/13; Postimperiale Neuordnung 1912/1913 bis 1945); V: Globalisierung und Fragmentierung 1945 bis heute.

 

Vier „leitende Fragestellungen“ (S. 13) strukturieren den Inhalt: Es geht um die Einordnung von Ereignissen, Prozessen und Erfahrungen in globale Kontexte (z. B. Einfluss der Revolutionen im 19. Jahrhundert, politischer Islam im 20. Jahrhundert); ferner um die konkrete raum-zeitliche Rekonstruktion globaler Verflechtungen und Interaktionen (z. B. Themen wie Handel, Migration, Geschichte der Imperien, Verbreitung von Wissen, Menschenhandel, Seuchen, humanitäre Katastrophen; Akteure wie Reisende, Pilger, Händler, Gelehrte, Auswanderer, Dolmetscher; Knotenpunkte wie Handelsplätze, Häfen, Klöster); des Weiteren um den Platz Südosteuropas in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht in den entstehenden globalen Zusammenhängen und schließlich um unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt und deren Veränderungen. Ein exemplarisches Vorgehen, „um die unübersichtliche Fülle des Stoffes zu ordnen und die großen Entwicklungslinien herauszuarbeiten“, die chronologisch-systematische Erzählung unterbrechende Kapitel, „die jeweils von einem konkreten Ort in einem bestimmten Schlüsseljahr handeln“ (I/1: Kruja 1450; II/5: Istanbul 1683; II/10: Ragusa 1776; III/3: Thessaloniki 1821; III/10: Plovdiv, Sredna Gora und Rhodopen 1876; IV/6: Belgrad 1913; IV/12: Bukarest 1939; V/5: Sarajevo 1984) als „strukturhistorische Zwischenrufe, die die Multiperspektivität des Geschehens einfangen sollen“ (S. 15), und das Vorstellen zeitgenössischer Persönlichkeiten zum Zweck der angemessenen Berücksichtigung des prägenden Einflusses des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung kennzeichnen darüber hinaus methodisch den Duktus der Darstellung.

 

Über das gemischte Register (neben wenigen Sachstichwörtern hauptsächlich Personennamen und Ortsnamen) ist ein begrenzter systematischer Zugriff auf die Darstellung gewährleistet. Während das praktische Glossar mit spezifischen Termini vor allem der osmanischen Administration aufwartet, sucht man im Register vergeblich nach Zentralbegriffen wie Recht, Gesetz, Verfassung oder Verwaltung. Dabei bietet der laufende Text sehr wohl einschlägige Informationen. Als Beispiel sei hier die anschauliche Schilderung der Verhältnisse im osmanischen Thessaloniki am Anfang der 1820er-Jahre punktuell herausgegriffen: Dort lebten damals „60.000 bis 70.000 Menschen unterschiedlicher sprachlicher, ethnischer und religiöser Herkunft […,] etwa die Hälfte jüdisch. Die übrige Einwohnerschaft bestand überwiegend aus türkischen Muslimen und orthodoxen Griechen. Dazu kamen unzählige weitere Volksgruppen, wie Slawen, Albaner, Roma, Armenier, Walachen, Kaukasier, Afrikaner und westeuropäische ‚Franken‘. […] 1821 existierte noch keine einheitliche Stadtverwaltung mit entsprechenden kommunalen Diensten. Jedes der 14 Stadtviertel besaß seine eigene administrative Struktur. Zentral verwaltet wurden nur die Verteilung des Trinkwassers, die Überwachung der Märkte, die öffentliche Sicherheit, die Abfallbeseitigung und die Bautätigkeit. […] Wie überall im Reich mussten die Schutzbefohlenen, Juden und Christen, eine Kopfsteuer leisten. […] Wir wissen nicht warum, aber die Steuerpflichtigen wurden […] nach der Schnurrbartfarbe erfasst: schwarzer, schwarzbrauner, kastanienbrauner, blonder und grauer Schnauzer. Erwachsene Männer ohne Bartwuchs wurden extra gezählt. Nur Priester, Mönche und Greise trugen einen Vollbart und fielen in eine eigene Steuerklasse. Dazu existierte der übliche undurchschaubare Wirrwarr unterschiedlichster Steuern, Abgaben, Zölle und Zehnten, die von Pächtern verschiedener Rangstufen eingezogen wurden und nach Belieben erhöht werden konnten. Da die Städte im Osmanischen Reich keinen eigenen Rechtsstatus besaßen, wurde Thessaloniki direkt von den Gouverneuren des Sultans regiert. Die obersten Würdenträger der Stadt waren der Pascha, der die weltliche legislative und exekutive Macht repräsentierte, sowie der Molla, das geistliche Oberhaupt, dem die Strafgerichtsbarkeit sowie die Oberaufsicht über die Märkte, die Preise und den Export zufielen. Einflussreich waren auch der Aga der Janitscharen und der Polizeichef, die für die öffentliche Sicherheit zuständig waren, sowie die geistlichen Würdenträger der Ulema. […] Unterhalb und teils auch neben dem Pascha herrschte ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Rechts- und Abhängigkeitsverhältnisse, zwischen denen es keine klaren Hierarchien gab. […] In der Praxis dominierten informelle Beziehungen das öffentliche Leben: der Austausch von Vorteilen und Sanktionen, Patronage, Korruption, Klientelismus, Willkür und Gewalt. […] Eine nahezu unangreifbare Stellung besaß außerdem der Oberrabbiner, dem die Juden unterstanden. […] Wer aus dem engen sozialen Regelwerk ausscherte, wurde bestraft: […] Denn während das Strafrecht den osmanischen Richtern vorbehalten blieb, wurden zivilrechtliche Angelegenheiten durch die Oberhäupter der Religionsgemeinschaften verbindlich entschieden, wogegen es dann auch kein Widerspruchsrecht gab. […] Ebenso wie die Juden durften sich auch die Christen durch kirchliche und säkulare Institutionen selbst verwalten“ (S. 241ff.). Der durch biographische Verflechtungen (Demetrios Ypsilantis, Adamantios Korais, Theodoros Kolokotronis) nachweislich von den Ideen von Freiheit und Demokratie der atlantischen Revolutionen beeinflusste, antiosmanische griechische Aufstand 1821 wurde schließlich in Thessaloniki mit brutaler Gewalt unterdrückt und gerächt, „von der Terrorwelle konnte sich die Stadt jahrzehntelang nicht wieder erholen“ (S. 251).

 

Die Verfasserin spricht von dem „lang nachwirkenden Schicksal“ der Balkanvölker, „dass sie in einer für die Reiche und Großmächte wirtschaftlich und strategisch wichtigen Region lebten und deswegen jahrhundertelang unter fremder Herrschaft standen. […] Echte politische Teilhabe wurde ihnen bis zum Ersten Weltkrieg nirgends gewährt. Die Balkanprovinzen dienten vor allem als Kolonien, um Steuern, Rohstoffe, Menschen und Lebensmittel für die Reichszentren abzuschöpfen“ (S. 592f.). Seit den 1890er-Jahren seien die Länder Südosteuropas „durch den Aufstieg der Industriestaaten im globalen Wettbewerb weiter ins Hintertreffen“ geraten, sodass sie ihre staatliche Unabhängigkeit „gerade in dem Moment erreichten, als eine schlechte Weltkonjunktur die Agrarpreise drückte und die meisten Staaten zum Wirtschaftsnationalismus übergingen“ (S. 595f.). Globalisierung und Nationalisierung – häufig als Gegensatz wahrgenommen – bedingten sich so wechselseitig auf vielfache Weise.

 

Die sich gegen die Großreiche richtenden liberalen Revolutionäre Südosteuropas „wollten nicht nur Nationalstaaten schaffen, sondern auch eine demokratische Völkergemeinschaft“ (S. 598). So seien „die kleineren, ärmeren und jungen Nationalstaaten Südosteuropas mehr als die Großmächte an einer durch Völkerrecht und Multilateralismus geprägten Weltordnung interessiert“ gewesen, was nicht zuletzt ihr Engagement im Völkerbund bewiesen habe. Nach 1945 weiterhin ein Schauplatz von Rivalitäten der Großmächte, setzten sie sich im Rahmen der Vereinten Nationen „für die Demokratisierung der Weltorganisation und also mehr Mitsprache ein, die Dekolonialisierung der Dritten Welt, den Ausbau der Global Governance und des Völkerrechts sowie eine gerechte Weltwirtschafts- und Kommunikationsordnung – alles Anliegen, die einerseits in das System des sozialistischen Internationalismus passten, andererseits ganz generell die kleineren, ärmeren und abhängigen Staaten vor Großmachtdominanz und damit auch ihre nationalen Interessen schützen sollten“ (S. 602f.). Das immer noch anzutreffende, negativ konnotierte Balkanbild habe seine ersten Wurzeln in der Verlagerung der Weltwirtschaft vom Mittelmeer zum Atlantik, wodurch Südosteuropa auch kulturell an den Rand rückte; mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches sei zusätzlich das Stereotyp des despotischen Orients auf die Region übertragen worden und dient bis in die unmittelbare Gegenwart als willkommener Vorwand für das „ordnende“ Eingreifen der Großmächte unter zivilisatorischer Verbrämung. Wer heute äußert, der Balkan beginne in Österreich, hat üblicherweise Unzulänglichkeiten und Ineffizienz der hiesigen Verwaltung im Auge.

 

Die Vielzahl der Vernetzungen, die Marie-Janine Calic in ihrer jüngsten Arbeit aufzeigt, kann im Rahmen des Umfangs dieser Besprechung nur unvollkommen angedeutet werden. Jeder Interessierte wird daher dieses moderne, als „Weltgeschichte einer Region“ inspirierende und in einer allgemein gut verständlichen Sprache abgefasste Werk mit Gewinn lesen. Gelungen ist im Wesentlichen auch die Ausstattung des Bandes: Neben einer optisch ansprechenden historischen Portolankarte aus 1652 (Europa, Nordafrika, Kleinasien) auf Vorsatz und Nachsatz veranschaulichen fünf moderne Karten im Anhang die politische Entwicklung Südosteuropas: von der Zeit um 1200 über 1475, die osmanische Expansion bis 1683, den Zerfall des Osmanischen Reiches bis nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur staatlichen Gliederung der Region 1930. Vier Seiten Zeittafel informieren über die wichtigsten Daten vom zweiten Jahrtausend v. Chr. (Einwanderung indoeuropäischer Stämme nach Südosteuropa) bis 2013 (EU-Beitritt Kroatiens). Die Bibliographie umfasst mehr als 70 Seiten und verzeichnet keineswegs ausschließlich deutschsprachige, englische und französische, sondern auch viele Titel in den Sprachen Südosteuropas. Die für jeden Teil der Darstellung separat nummerierten Anmerkungen beschränken sich auf Literaturbelege und sind – einem allgemeinen Trend folgend, aber im Sinne der Benutzerfreundlichkeit nicht optimal – als Endnotenapparat angelegt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic