Butterweck, Hellmut, Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien. Österreichs Ringen um Gerechtigkeit 1945-1955 in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung. StudienVerlag, Innsbruck 2016. 800 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Bestreben um die Aufklärung des Vergangenen sind Geschichtsforschung und Justiz trotz ihres unterschiedlichen methodischen Instrumentariums eng miteinander verbunden. Ohne die Prozesse, die nach dem Niedergang der nationalsozialistischen Herrschaft geführt worden sind, wäre unser Wissen um dieses System unvollständiger, und ebenso waren die erhebenden Juristen bei der Vorbereitung und Durchführung von Verfahren auf historische Expertise angewiesen, um die zur Feststellung des Sachverhalts erforderlichen Kontexte überhaupt zu überblicken. Quelleneditionen sichern einen einfachen öffentlichen Zugang zu relevantem Material auch für kommende Forschergenerationen. Dabei stehen Editoren vornehmlich aus ökonomischen Gründen vor dem Problem, in der Gesamtheit der Quellen das Wesentliche und Aussagekräftige zu erkennen, auszuwählen und Irrelevantes beiseite zu lassen.

 

Die bedeutendste Quellenedition zur justiziellen Aufarbeitung des Nationalsozialismus stellt ohne Zweifel die vielbändige, seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts vom niederländischen Strafrechtsprofessor Christiaan Frederik Rüter angestoßene Sammlung dar, die systematisch und chronologisch fortschreitend die amtlichen Urteile deutscher Gerichte in NS-Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen im weiteren Sinn erfasst. Einen anderen Weg schlägt Hellmut Butterweck ein, der im vorliegenden Band die Spruchpraxis des Volksgerichts Wien über den gesamten Zeitraum seines Bestehens (1945 – 1955) dokumentiert. Der 1927 geborene, während des Dritten Reiches zur Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie herangezogene und danach engagiert gegen antidemokratische, antisemitische und neonazistische Strömungen auftretende Wissenschaftsjournalist (er leitete bis 1992 das Ressort Wissenschaft der kirchennahen österreichischen Wochenzeitschrift „Die Furche“) hat unter anderem im Czernin-Verlag bereits selbständige Publikationen zur Begnadigung nationalsozialistischer Straftäter (2003) und zum Nürnberger Prozess (2005) veröffentlicht. Bei seinem nun vorliegenden Werk handelt es sich um eine Auswahledition, deren relevantes Kriterium mit der öffentlichen Wahrnehmung eines Volksgerichtsverfahrens durch die Wiener Tagespresse definiert ist. Dargeboten wird somit nicht das offizielle Aktenmaterial der Gerichte (das im Fall des Falles dann in den Archiven ausgehoben werden müsste), sondern alle jene Notizen und Berichte, die Wiener Tageszeitungen unterschiedlicher Couleur zeitgenössisch über die jeweiligen Prozesse publiziert haben.

 

Der Herausgeber steht zu diesem seinem Verfahren und macht mehrere Vorzüge gegenüber der Dokumentation amtlichen Aktenmaterials geltend: Erstens könnten „die Berichte den Rang eines in der Zeit entstandenen und jeden späteren Auswahlverfahrens enthobenen historischen Dokumentes beanspruchen“. Zweitens könnten „Protokolle keineswegs immer jenes objektive Bild einer öffentlichen Hauptverhandlung vermitteln, das allzu vertrauensvoll von ihnen erwartet“ werde: „Die Voreingenommenheit eines Vorsitzenden, die einseitige Führung der Verhandlung, das Übergehen oder Einschüchtern von Zeugen […] ist aus dem Akt selten zu erkennen, wurde aber in der zeitgenössischen Berichterstattung über die NS-Prozesse immer wieder moniert“. Somit fänden sich in den Berichten der Presse „häufig im Protokoll nicht aufscheinende Details“. Drittens und last, but not least, ließen sie erkennen, „wie tief der Konflikt zwischen den Protagonisten des Vergessens und einer falschen Versöhnung auf der einen Seite und den NS-Gegnern auf der anderen die österreichische Gesellschaft in der Nachkriegszeit spaltete“ (S. 13f.).

 

Dieser im österreichischen Opferdiskurs gesellschaftspolitisch gewollte Prozess des Vergessens habe auch die Volksgerichtsverfahren bis heute weitgehend aus der kollektiven Erinnerung gelöscht und legitimiere zugleich die Notwendigkeit der vorliegenden Edition. Die 1945 in den vier Besatzungszonen in Wien, Graz (mit Außensenaten in Leoben und Klagenfurt), Linz (mit Ried im Innkreis) und Innsbruck geschaffenen Volksgerichte wickelten bis 1955 insgesamt 23.477 Verfahren in NS-Strafsachen in öffentlicher Verhandlung ab und fällten dabei 13.607 Schuldsprüche. 43 Todesurteile wurden ausgesprochen und 30 davon vollstreckt; dazu kommen 30 lebenslängliche und 650 Kerkerstrafen zwischen fünf und zwanzig Jahren. Die Volksgerichte waren Sondergerichte mit Senaten, die sich aus zwei Berufsrichtern, drei Schöffen und dem Protokollführer zusammensetzten und die in erster und letzter Instanz urteilten. Die Rechtsmittel waren eingeschränkt, die Strafen ohne Aufschub anzutreten. Es bestand allerdings die Möglichkeit, das Urteil vom Obersten Gerichtshof (OGH) überprüfen zu lassen, wobei nach Mutmaßung des Herausgebers „die Zahl der vom OGH aufgehobenen Urteile derzeit nicht abschätzbar (ist), aber in der Endphase der Volksgerichte hoch gewesen sein (dürfte)“ (S. 20). Zur Anwendung gelangten das am 7. Juni (sowjetische Besatzungszone) bzw. am 10. Oktober (ganz Österreich) 1945 in Kraft tretende, 1947 novellierte „Verbotsgesetz“ (VG) sowie das mit ihm verzahnte „Kriegsverbrechergesetz“ (KVG). Da das Verbotsgesetz „den Untersturmführer auf eine Stufe mit dem (stellte), der ‚den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechende Handlungen‘ begangen hatte“, sei ein Formalismus geschaffen worden, „der zwar zu haarsträubenden Ungerechtigkeiten führte, später aber die Handhabe bot, die gesamte Gesetzgebung in NS-Sachen zu desavouieren“ (S. 18).

 

Mit 11.230 Verfahren wickelte das Volksgericht Wien etwa die Hälfte aller Volksgerichtsverfahren in Österreich ab. Das in der Presse registrierte und damit im vorliegenden Band dokumentierte Sample von 1.137 Angeklagten umfasse „alle politisch bedeutsamen Hochverratsverfahren ebenso wie die in Wien verhandelten hervorstechenden Fälle von Massenmord“ und sei damit „statistisch nicht für das Gesamtgeschehen repräsentativ“. Denn „(d)er Alltag der Volksgerichte wurde nicht vom großen Ereignis bestimmt, […] sondern vom schier endlosen Vorbeimarsch der […] Politischen Leiter, der Blutordenträger und ‚Alten Kämpfer‘, der kleinen und kleinsten Funktionäre, die aber oft Macht über Leben oder Tod besessen, einen unmenschlichen Druck ausgeübt oder […] Angst und Schrecken verbreitet hatten“ in Form von „Repressionen, […] Denunziationen und Übergriffen aller Art“. So falle „Licht in einen Alltag, der von der Allgegenwart menschlicher Niedertracht gekennzeichnet war, in dem sich aber auch Anständigkeit, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit bei vielen Gelegenheiten und in mancherlei Formen bewährten“ (S. 13). Der Band erfasst die Verfahren jahrgangsweise, jedem Jahr ist eine kurze kommentierende Einleitung vorangestellt. Die einzelnen Fälle sind mit Signaturen versehen worden, die sich aus dem jeweiligen Jahr, dem Kennbuchstaben des zuständigen Volksgerichts und einer fortlaufenden Nummer zusammensetzen; so bezeichnet 45W1 den ersten, 1945 vor dem Volksgericht Wien verhandelten (und in der Presse wahrgenommenen) Prozess. Gelegentlich fügt der Herausgeber dem einen und anderen typischen Fall eine selbst formulierte, das Wesen des Falles erfassende Überschrift bei. Der Titelblock enthält ferner das jeweilige Datum der Verhandlung und im Optimalfall Name, Alter und Beruf des/der Angeklagten, die Namen des Vorsitzenden, des Staatsanwalts und des/der Verteidiger(s), die Anklagepunkte und das Urteil, bisweilen versehen mit zusätzlichen Informationen, im Minimalfall nur Name und Beruf des Angeklagten und das Urteil. Anschließend folgen die Zitate aus den jeweils berichtenden Wiener Tageszeitungen, wobei insgesamt zwölf Blätter herangezogen werden (3 unabhängige: Neues Österreich, Wiener Zeitung, Die Presse; 5 Parteiblätter: Arbeiter-Zeitung [SPÖ], Das Kleine Volksblatt [ÖVP], Wiener Tageszeitung [ÖVP], Volksstimme [KPÖ], Der Abend [KPÖ]; 4 Blätter der Besatzungsmächte: Österreichische Zeitung [sowj.], Wiener Kurier [amerik.], Weltpresse [brit.], Welt am Abend [franz.]). Zusätzlich zum üblichen Personenverzeichnis stehen im Anhang mit den alphabetischen Listen der Vorsitzenden, der Staatsanwälte und der Verteidiger, jeweils mit Zuordnung der von ihnen verhandelten Fälle, sehr nützliche Instrumente zur Verfügung.

 

Die Zahl der öffentlich wahrgenommenen Verfahren des Volksgerichts Wien erreichte 1947 mit 210 ihren Höhepunkt, brach im Gefolge der allgemein verbreiteten Schlussstrichmentalität 1949/1950 mit nur mehr 39 bzw. 45 Fällen deutlich ein und fiel bis 1955 auf zeitweilig unter 5 Fälle jährlich. Parallel zu dieser Entwicklung „(stieg) bei den Volksgerichten 1948 die Zahl der Freisprüche auf 52 Prozent, verglichen mit 26 Prozent für den Zeitraum 1945 – 1947“ (S. 10). Abhängig von der Bedeutung und der Komplexität der Fälle sowie der Prominenz der Angeklagten kann der Umfang der ein Verfahren dokumentierenden Pressezeugnisse zwischen zwei knappen Sätzen und 28 Druckseiten liegen. Erwähnenswert mag zudem sein, dass das Volksgericht Wien auch objektive Vermögensverfallsverfahren gegen namhafte Nationalsozialisten führte; am 5. September 1952 erklärte so, angestoßen durch einen Rückstellungsprozess um ein Vermeer-Gemälde, ein Senat den Vermögensverfall zugunsten der Republik Österreich gegen den verstorbenen Adolf Hitler (Fall 52W8, S. 699f.). Zur delikaten Thematik der ehemaligen Funktionsträger der nationalsozialistischen Justiz merkt der Band das Folgende an: „Oscar Bronner machte in seinem Essay Die Richter sind unter uns (Forum, 1. Sonderheft, Herbst 1965) als einer der ersten auf die ehemaligen NS-Staatsanwälte und –Richter aufmerksam, die nach der Befreiung ihre Karriere im österreichischen Justizapparat fortgesetzt hatten und zum Teil in den Obersten Gerichtshof und in die Generalprokuratur gelangt waren. Justizminister Christian Broda antwortete (Forum, Dezember 1965): ‚Es bestehen nach der geltenden Rechtslage keine Möglichkeiten, in den Jahren nach 1945 rechtswirksam abgeschlossene dienstrechtliche Verfahren … wieder aufzunehmen, soweit im Zeitpunkt der Wiedereinstellung die Umstände der früheren Tätigkeit bekannt oder offenkundig waren. … Was der Republik Österreich somit im Jahre 1945 recht war, muß ihr auch im Jahre 1965 billig sein“ (S. 730f., Anm. 16). In diesem Sachzusammenhang sei besonders auf den „Die mißglückte Reinwaschung der schrecklichen Juristen“ überschriebenen Fall 48W58 (S. 462ff.) hingewiesen, eines der am umfangreichsten dokumentierten Verfahren der Edition, das die gesamte Misere des damaligen Umgangs mit der nationalsozialistischen Justizvergangenheit offenbart. Verhandelt wurde vom 10. Mai bis zum 6. Juni 1948 wegen eines Standgerichtsurteils, dem am 13. April 1945 in Sankt Pölten nur 24 Stunden vor der Befreiung der Stadt 13 Widerstandskämpfer zum Opfer gefallen waren, gegen den Richter Dr. Viktor Reindl (Missbrauch der Amtsgewalt, Quälerei nach KVG, Hochverrat), den ehemaligen Generalstaatsanwalt Dr. Johann Stich (Mitschuld an den vorgenannten Delikten, Hochverrat) und einen Beisitzer. Der Angeklagte Stich soll dabei den amtierenden Sektionschef Dr. Hugo Suchomel mit den Worten kritisiert haben: „Derselbe Mann, der uns Generalstaatsanwälten aus Berlin die Weisung gegeben hat scharf, scharf, scharf – der gibt jetzt nach 45 die Weisung, mich anzuklagen!“. Über den in der Folge als Zeugen geladenen Suchomel wusste die Presse zu berichten, er „hatte 1938 das österreichische Justizministerium liquidiert und alle österreichischen Justizbehörden dem Berliner Reichsjustizministerium übergeben. Nach dieser Tätigkeit wurde Dr. Suchomel als Ministerialdirektor nach Berlin berufen und leitete die Justizangelegenheiten für die sogenannte ‚Ostmark‘, das annektierte Sudetenland und das ‚Protektorat‘ Böhmen-Mähren. Dr. Stich wurde ihm nach seiner Ernennung zum Generalstaatsanwalt direkt untergeordnet, von ihm empfing er Weisungen des Justizministers Dr. Thierack“. Nachdem sich Suchomel erst nach einer gerichtsärztlichen Untersuchung endlich dazu bewegen habe lassen, persönlich vor Gericht zu erscheinen (es ist die Rede von der „widerlichen Suchomel-Komödie, dessen Befragung hintertrieben werden sollte“), habe er laut Pressebericht zunächst vorgegeben, „er habe überhaupt keine Vorladung erhalten. Die Befragung des unerwünschten Zeugen erfolgte derart vorsichtig, daß er gar nicht in die Lage kam, etwas zu sagen, was dem Herrn Generalstaatsanwalt hätte unangenehm sein können“. Stich wurde schließlich zu acht, Reindl zu fünf Jahren Haft verurteilt. Da aber das Amtsblatt der „Wiener Zeitung“ vom 9. Dezember 1951 die Aufhebung des Vermögensverfalls gegen Reindl mit Beschluss vom 27. August 1951 verlautbart hat, schließt der Herausgeber: „Vermutlich wurde das Verfahren gegen Reindl wieder aufgenommen und eingestellt“ (S. 489). Hier wird noch ein weiterer zu beachtender Gesichtspunkt der Volksgerichtsbarkeit und der damaligen Justiz überhaupt angedeutet, nämlich „die für Begnadigungen zuständigen Instanzen und die Senate, die öffentlich verkündete Urteile in nichtöffentlichen Verhandlungen sang- und klanglos wieder aufhoben“ (S. 11). Dazu muss gesagt werden, dass es wohl der konkreten Quantifizierung bedürfte, um wirklich zu validen Schlussfolgerungen zu gelangen.

 

So illustriert nicht zuletzt dieser exponierte Fall das Potential, das in Hellmut Butterwecks verdienstvoller Auswahledition Wiener Volksgerichtsurteile im Licht der Presseberichterstattung in Bezug auf künftige Forschungsarbeiten schlummert. Besonders reizvoll erschiene die Konfrontation des Presseniederschlags mit den amtlichen Originalakten, wodurch sich die Möglichkeit ergäbe, die jeweiligen Intentionen plastisch herauszuarbeiten. Darüber hinaus kann der Band auch den Verfolgungseifer belegen, der unmittelbar nach Kriegsende zur Belangung zahlreicher Belasteter – in manchen Bagatellfällen wohl mit übertriebener Härte – geführt hat, der aber in der Folge rasch erlahmte und es dann auch hartgesottenen Tätern zunehmend leichter gemacht hat, sich einer angemessenen Bestrafung zu entziehen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic