„…die letzten Schranken fallen lassen“. Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus, hg. v. Alvermann, Dirk. Böhlau, Köln 2014. 407 S., Abb. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Der Greifswalder Universitätsarchivar Alvermann legt in dem anzuzeigenden Sammelband 15 Artikel vor, die in einem im Jahre 2011 vom Rektorat angeregten Forschungsprojekt ‚zur möglichst umfassenden und systematischen Erforschung und Darstellung der Geschichte der Universität während der Jahre 1933 bis 1945‘ entstanden. Im April 2013 wurden erste Ergebnisse vorgestellt und diskutiert, hieraus wurden dann die veröffentlichten Studien. Leider fehlt dem Sammelband der übliche Überblick zu den Autoren. Die teilweise unausgewogenen Formulierungen bei der Schilderung der agierenden Personen galten mal als einer historischen Arbeit nicht angemessen; sie können jedoch auch als ein Zeichen besonderer Betroffenheit gedeutet werden. Ein Verfasser erläutert seine bis heute andauernde Inspiration durch den historischen (und dialektischen) Materialismus (S. 20), ein bemerkenswertes Vorverständnis.

 

Wie es bei derartigen Sammelbänden selten vermieden wird, stehen viele Aussagen unverbunden nebeneinander und zum Verständnis erforderliche Informationen muss sich der Leser anderweitig selber verschaffen. Obwohl zwei Autoren den Mathematikprofessor Vahlen, der 1923 Rektor der Universität war, behandeln, erklärt keiner der Autoren, warum dieser Professor 1933 im Alter von 64 Jahren, nach Greifswald zurückberufen werden sollte. Eine ausführliche Studie zu Vahlen aus dem Jahre 2001 nutzt keiner der beiden Verfasser.

 

Diese Beobachtungen sind der Behandlung der einzelnen Artikel vorangestellt, da sie nicht untypisch für die Beiträge sind. Den Reigen der Artikel eröffnet Mathias Rautenberg mit einem Überblick zu ‚Politische Herrschaft – Resourcenkonstellation – Anspruch akademischer Freiheit‘, in dem das spezielle Greifswalder Umfeld an den allgemeinen Umständen deutscher Universitäten gespiegelt wird. Gabriel Försters ‚Bildung und Erziehung im Nationalsozialismus an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität‘ führt sie zu dem Schluss, nicht mehr das Individuum habe im Vordergrund der universitären Bildung und Erziehung gestanden, sondern ‚der Nutzen des Einzelnen für die Volksgemeinschaft‘. Hierzu seien die Politisierung der Studieninhalte, die studentische Selbsterziehung, der Reichsberufs-wettbewerb sowie die Leibeserziehung genutzt worden, ohne daß es im Bereich der Hochschulpolitik gelungen sei, ‚einen neuen Studententyp zu schaffen‘. Diese Aussage darf so nicht stehen bleiben. Glücklicherweise waren die Studenten der Jahre 1933 bis 1945 nicht in der Lage, auf dem Boden des Nationalsozialismus den Beweis zu führen, dass sie ein neuer Studententyp waren. Nicht wenige der Universitätsabsolventen konnten schon in der kurzen Zeit zwischen Universitätsabschluss und 1945, etwa als Ärzte oder Juristen, zeigen, wie sie vom Studium geprägt waren, wenn man ihnen Gelegenheiten eröffnete. Stephanie-Thalia Dietrich analysiert unter ‚Die Studierenden der Universität Greifswald im Nationalsozialismus – quantifizierende Analysen mit besonderer Berücksichtigung des Frauenstudiums‘ die Zahlen der Jahre 1927 bis 1950. Jegliche statistische Deutung von Studierendenzahlen setzt eine sorgfältige Kenntnis der Rahmenbedingungen voraus. Die Differenz zwischen Zahlen des Sommersemesters und des Wintersemesters allein mit ‚Segelstudenten‘ (S. 70) zu erklären, übersieht das Prüfungsverfahren und daraus folgend die Exmatrikulationspraxis an Universitäten. Hat eine Universität einen Jahreszyklus bei Neuaufnahme zum Wintersemester, so fallen im Sommersemester üblicherweise in großer Zahl Studienabschlüsse an. Bereits die Frage, ob Studierende im Prüfungssemester eingeschrieben sein müssen, beeinflusst eine Statistik erheblich. Wie weit die hohen Zahlen der Jahre 1932/1933 als Ausdruck der fehlenden beruflichen Perspektive zu sehen sind (Funktion der Universität als ‚Wärmehalle‘), hinterfragt die Autorin nicht. Die von der Autorin weiter zitierten Faktoren für den Rückgang in den Jahren 1933 bis 1939 können in ihrer Gewichtung überhaupt nicht festgestellt werden. Der Rückgang ist als allgemeines Phänomen zur Kenntnis zu nehmen. Einen ‚fast parallelen Entwicklungsverlauf von Zunahme und Abnahme für die erfassten Semester‘ festzustellen (S. 73), ist schlicht eine inhaltslose Plattitüde. Wo sollen Studierende herkommen, wenn sie nicht immatrikuliert werden? Wenn dann bei der Zahlenentwicklung eine Verteilung auf Fakultäten versucht wird, so fehlt für die Jahre 1942-1945 jeder Hinweis darauf, welche Praxis bestand, Studenten vom Kriegsdienst für ein Studium in Greifswald freizustellen; denn lediglich kriegsuntaugliche Studienanwärter konnten auf einen Studienplatz hoffen. Zu beachten ist auch, dass der Grad der Kriegszerstörung einer Universität ihre jährlichen Aufnahmezahlen beeinflusste. Bei der Rubrik der ‚sozialen Zugehörigkeit‘ (S. 79) sind die angewandten Zuordnungskriterien ‚Führungskräfte‘ ‚Funktionseliten‘ und ‚Beamte u. a.‘ in sich so wenig aussagekräftig, dass Zuordnungen sehr zufallsgesteuert sind. Erfreulich ist, dass auch die Autorin nach der umfangreichen Zahlendeutung dazu kam (S. 88), dass der typische Studienanfänger in Greifswald evangelisch war, aus Pommern oder der näheren Umgebung kam und dem Mittelstand entstammte; sämtliche Beobachtungen hätten schon bei ein wenig Nachdenken gemacht werden können. Jan Mittenzwei widmet sich den beiden Parteiorganisationen, die an Universitäten Einfluss hatten: der NSD Studentenbund und der NSD Dozentenbund. Die Personalangaben zu einigen der aktiven Greifswalder Studenten sind überaus informativ. Sie zeigen, dass es verschiedenen von ihnen gelang, schon in jungen Jahren maßgebliche Positionen zu erreichen. In dem Absatz zum Dozentenbund ist die Rivalität zwischen einer Hochschulkommission beim Stellvertreter des Führers, dem Reichserziehungsministerium und dem System der Vertrauensmänner beim Reichsgesundheitsführer gut herausgearbeitet. Diese systembedingten Rivalitäten führten zu ständigen Versuchungen, vermeintliche Vorteile durch Verleumdungen zu gewinnen. Bedauerlich ist, dass der Verfasser die (nur) ihm bekannten  Dozentenbundführer (S. 127) nicht mit ihren Amtszeiten benennt. Ulrike Michel hat ‚Zur Berufungspolitik der Greifswalder Medizinischen Fakultät zwischen 1933 und 1935‘ festgestellt, dass sich die Rolle der Universität von einem geachteten Partner des preußischen Kultusministeriums zu einem Berater des Preußischen und Reichserziehungsministeriums geändert hat. Nachdem aus Passagen der Untersuchung klar wird, dass –entgegen der Überschrift- schon der Zeitraum ab 1930 beachtet wurde, ist nicht erklärt, warum mit dem Jahre 1935 eine Zäsur gesetzt wurde. Ekkehard Henschke zeichnet in ‚Junge Akademiker, völkische Ideologie und was daraus wurde: Greifswalder Biographien‘ die Spur von sechs Germanisten und Volkskundlern nach, zu denen auch sein 1940 gefallener Vater gehörte. Die Studie ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil sie interessante Aspekte zu den Germanistikprofessoren Wolfgang Stammler und Lutz Mackensen aufzeigt. Ihr Weg zum ‚Amt Rosenberg‘ ist erfreulich detailreich dargestellt; sie sind Vertreter der Generation, die sich in einer Organisation der NSDAP der Arbeitslosigkeit unter den jungen Akademikern entzog und von denen viele im Kriegsdienst starben. Tina Kröger behandelt ‚Aspekte des Ausländerstudiums an der Universität Greifswald 1933 bis 1945‘, gelangt jedoch angesichts der geringen Fallzahlen und spärlichen Informationen nur dazu, festzustellen, dass weitere Forschungen notwendig seien (S. 201). ‚Das Stettiner Oder-Donau-Institut im Spannungsfeld von Wirtschaftsinteresse, Wissenschaft und Krieg‘ stellt Klemens Grube dar. Anlass für die Gründung des Instituts 1943/1944 war der Plan Oder und Donau durch einen Kanal zu verbinden, der durch Mähren führen sollte. Die Universität Greifswald war durch den Rektor im Vorstand vertreten. Als Institut an der Universität hätte es der Zustimmung durch das Reichserziehungsministerium bedurft; diese Mitwirkung war als Institut des Reichswirtschaftsministeriums zu umgehen. Die Studie zeigt, wie sich Einzelpersonen ohne Beachtung der zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen gegen Ende der nationalsozialistischen Zeit ihre individuelle Überlebenstätigkeit schaffen konnten. Erstaunlicherweise wurden diese Ideen in der frühen Bundesrepublik weiter beachtet. Der besonderen Beziehung Greifswalds zu den nordischen Staaten trägt Marco Nase in ‚Forscher-Diplomaten-Spione. Die Nordischen Auslandsinstitute der Ernst-Moritz-Arndt-Universität‘ Rechnung. Die Intrigen, die zur Bildung von fünf Instituten aus dem ehemaligen Nordischen Institut führten, und die Heranziehung zahlreicher Institutsmitglieder zu den unterschiedlichste Aufgaben während des Krieges sind hier, überwiegend nach den Akten des Universitätsarchivs, so präsentiert, wie es sich nach dem spärlich überlieferten Aktenbestand ergab. Der große, verpachtete landwirtschaftliche Güterbestand der Universität brachte es mit sich, dass für die dort anfallenden Arbeiten Zwangsarbeiter im Dienste der Universität tätig waren. Sascha Barz geht diesem Problem in ‚Zwangsarbeit an der Universität Greifswald und auf den Universitätsgütern 1939 bis 1945‘ nach. Zu den Leichenfunden in der Anatomie an der Universität Straßburg, welche die Grausamkeiten des aus Greifswald nach Straßburg gewechselte Anatomen August Hirt dokumentierten, sind durch Vladimir Vsevolodov ‚Unterlagen in russischen Archiven zur Untersuchung der sowjetischen Militärkommission im Anatomischen Institut der Universität Greifswald 1947‘ und Britta Holtz ‚Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung der im Keller des Anatomischen Instituts der Universität Greifswald vorgefundenen Leichen, 13.-15. November 1947‘ Unterlagen veröffentlicht, die zeigen, dass auch an einem anderen deutschen Universitätsinstitut in zweifelhafter Art und Weise mit Opfern des nationalsozialistischen Systems verfahren wurde. Kaum zu klären wird es sein, ob an weiteren Universitäten derartige skandalöse Vorgänge vertuscht werden konnten, bevor sie bekannt wurden. Dirk Alvermann zeigt in seinem Beitrag „Praktisch begraben“ – NS Opfer in der Greifswalder Anatomie 1935 bis 1947 wie schwierig für die Universität und die städtischen Friedhofsbehörden ein würdiger Umgang mit den Toten der Anatomie, insbesondere mit dem Gedächtnis an ihr Schicksal, ist. Von anderen Universitäten ist bekannt, dass die Medizinstudierenden des Semesters, in dem die praktische anatomische Ausbildung abgeschlossen wurde, eine Gedenkfeier ausrichten, in der an die Menschen erinnert wird, die erst die praktische Ausbildung möglich gemacht haben. In Greifswald könnte im Rahmen einer derartigen Feier dieser Toten gedacht werden. Nils Hansson zeigt in einer Kurzfassung seine Lunder Dissertation ‚Begeisterung – Skepsis - Distanz. Schwedisch-deutsche Verbindungen in der Medizin 1933 bis 1945‘ an. Andreas Pehnke und Ulrich Wiegmann behandeln in ‚Walther Schulze-Soelde (1888-1984) „Wüßten wir doch, was kommen muß“ Leben und Karriere des außerordentlichen Professors Schulze-Soelde, der zwischen 1919 und 1939 der Universität Greifswald angehörte. Zu den darin gemachten Angaben zu einem Lehrauftrag, den Schulze-Soelde 1950 an der Universität in München erhielt, ist anzumerken, dass Schulze-Soelde bereits 1952 in den Ruhestand versetzt wurde. Grundlage war das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 11. 5. 1951, das von allen im Bundestag vertretenen Parteien beschlossen worden war. Dieses Gesetz gab Schulze-Soelde als von seiner Professur in Innsbruck vertriebenem Professor einen Rechtsanspruch auf die Versetzung in den Ruhestand, auch wenn dies sicher schon damals vielen Angehörigen der Universität München, die als Emigranten oder in anderer Weise unter der NS-Diktatur gelitten hatten, als zweifelhaft erschienen ist. Sie nahmen jedoch die klare Rechtslage zur Kenntnis; eine Sympathie oder gar eine Billigung der wissenschaftlichen Thesen Schulze-Soeldes war damit keinesfalls verbunden.

 

Die Hinwendung des Interesses besonders der Enkelgeneration zu den Geschehnissen der NS-Zeit an der Universität Greifswald ist zu begrüßen, die damaligen Verhältnisse dürfen sich niemals wiederholen. Jedoch sollten darüber nicht die Geschehnisse an der Universität in den Jahren nach ihrer Wiedereröffnung aus dem Blickwinkel geraten. Anders als zur nationalsozialistischen Zeit leben heute noch agierende Personen, die nach 1945 die Universität prägten. Aus dieser Zeit verdienen die praktischen Auswirkungen der Repressionsmaßnahmen gegen Universitätsangehörige, das System der Reisekader und ihrer Pflichtberichte, die Zwangsrelegationen unangepasster Studierender, die Umstände, die Universitätsangehörige zur Flucht aus Greifswald zwangen, die vormilitärische Ausbildung in der GST, die Tätigkeit der FDJ-Hochschulgruppe „Hans Beimler“ mit ihren Jugendfreunden und ähnliche Themen sorgfältige Untersuchungen und sollten in gleicher Weise durch ein vom Rektorat anzuregendes Forschungsprojekt untersucht werden. Der Bericht zum Medizinerstreik 1955 ist erschienen, ähnliche Arbeiten zum Alltagsleben an der Universität blieben aus. Die oral history erlaubt sicher noch Gespräche mit Rentnern und Rentnerinnen in Greifswalds Straßen, die Beobachtungen aus überlieferten Akten gewinnbringend ergänzen können.

 

Neu-Ulm                                                                                                       Ulrich-Dieter Oppitz