Ziemann, Benjamin, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern. Klartext, Essen 2013. 276 S., 5 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die traditionelle Kriegsgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft hat sich lange vorwiegend mit Feldzügen, genialen oder weniger geglückten Schlachtplänen, mit erfolgreichen und erfolglosen Feldherren beschäftigt. Bei dieser funktionalen Art der Betrachtung des Krieges erscheint dieser häufig als ein nüchternes Phänomen wie viele andere auch, das es zu untersuchen, zu klassifizieren, zu beschreiben und zu beurteilen gilt. Für jene Menschen aber, welche die Ungunst des Schicksals tatsächlich in kriegerische Kampfeinsätze gezwungen hat oder zwingt, bedeutet ein solcher Einsatz nichts weniger als die plötzlich hereinbrechende Infragestellung ihrer physischen Existenz. Die Drohungen dauerhafter körperlicher und psychischer Versehrung sowie des Todes sind integrale und stets gegenwärtige Bestandteile des militärischen Dienstes im Bereich der Front. Folgerichtig wurde ab Mitte der 1990er-Jahre, angestoßen durch die Auseinandersetzung um die und mit den Verbrechen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, verstärkt die Forderung erhoben, Kriegsgeschichte auch als eine „Geschichte organisierter Tötungsgewalt“ zu schreiben. In dieser Tradition sieht sich die vorliegende, 2013 erschienene Publikation Benjamin Ziemanns, der in Großbritannien als Professor Neuere Deutsche Geschichte an der Universität Sheffield lehrt und unter anderem 2008 als Mitherausgeber einer Auswahl von über 200 Zeitdokumenten zum Frontalltag im Ersten Weltkrieg an die Öffentlichkeit getreten ist.
Solcherart ausgewiesen, hat sich der Verfasser an eine Untersuchung des damaligen Gewaltphänomens gewagt. Dabei betrachtet er den Ersten Weltkrieg als ein „Laboratorium der Gewalt“, in dem „die Armeen aller beteiligten Nationen versuchten […], sich auf die Bedingungen des industrialisierten Krieges einzustellen“ (S. 15). Neben den Bedingungen des Tötens müssten komplementär aber auch die des Überlebens Berücksichtigung finden, denn „die Chance des Überlebens gehörte zu jenen Bedingungen, welche die Praxis des Tötens determinierten“ (S. 17). Dies gilt nicht nur für die im Infanteriekampf übliche Duellsituation mit ihrer Alternative töten oder getötet werden (die, wie an späterer Stelle zu erfahren ist, im Ersten Weltkrieg nicht die Mehrzahl der Ausfälle verantwortete), sondern bereits für den Dienst der zahlreichen „Kriegsunfreiwilligen“, die sich nur unwillig am Tötungsgeschehen beteiligten und sich diesem nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten zu entziehen suchten.
Im ersten der drei, gleichmäßig jeweils etwa 65 Druckseiten umfassenden Großabschnitte werden zunächst Gewaltpraktiken in Augenschein genommen. Der Verfasser konstatiert, dass in den beiden ersten Kriegsmonaten, bedingt wohl durch den Hurra-Patriotismus und die mangelnde Erfahrung mit der Vernichtungskapazität moderner Waffensysteme, die Verlustquote beim deutschen Westheer mit 12% bis 17% außerordentlich hoch war, dann auf 3,5% zurückging, um erst mit der Frühjahrsoffensive 1918 wieder deutlich auf 6% und mehr anzusteigen; wegen des Waffenstillstands mit Russland lag die Rate an der Ostfront hier nur noch bei einem Zehntel des letztgenannten Wertes. „Von der Dynamik des Tötens her“ sei daher „der meist anzutreffende Fokus auf die Westfront […] durchaus berechtigt“ (S. 27). Von Ausfällen am meisten betroffen sei die Alterskohorte der jungen, noch unverheirateten, in vorderster Linie eingesetzten Soldaten gewesen. Als größte Bedrohung erwies sich, mit zunehmender Dauer des Krieges ansteigend, die Artillerie, der bis zu drei Viertel aller Verwundungen zuzurechnen sind. Dass, wie eine deutsche Frontdivision 1916 errechnet hat, in ihrem Bereich 329 Artilleriegeschosse nötig waren, um einen einzigen ihrer Soldaten zu verwunden oder zu töten, zeige, dass es „nicht in erster Linie die Präzision des Schützen (war), sondern der Durchsatz von Material, der die Maschinerie des Tötens in Schwung hielt“. Durch die räumliche Distanz „(überstieg) die Intensität der technisch gesteigerten Tötungshandlungen des Artilleristen seine moralische Wahrnehmung bei weitem“ (S. 29f.), seine Opfer erlebten den Beschuss als Ausgeliefertsein an eine nicht beeinflussbare Gewalt mit den bekannten physischen und psychischen Folgewirkungen. Eine nicht unbedeutende Zahl an ausgelaugten Kämpfern in den Armeen der Alliierten wie der Mittelmächte wurde von Krankheiten dahingerafft.
Überleben war vor allem dort garantiert, wo man dem Feuer der Artillerie entzogen war: Vorübergehend in den Erholungsphasen oder im Urlaub, dauerhaft legal in den „zahllose(n) Nischen und Zonen der Desorganisation, funktional nutzlose(n) Verbänden, Dienststellen und Verrichtungen, in denen sich Soldaten, oftmals mit der stillschweigenden Zustimmung ihrer unmittelbaren Vorgesetzten, ungefährdet bewegen konnten“ (S. 34), oder illegal durch Fahnenflucht. Ein Blick auf die Kriegsbereitschaft deutscher Soldaten 1914 zeigt anhand der exemplarischen Stimmen dreier deutscher Soldaten die verheerende Wirkung des Schocks plötzlichen Feuers und eigener Verluste, traumatische Erfahrungen, die vermutlich Auslöser der bekannten deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich waren. Die Kämpfe an der Ostfront wiederum ließen „deutliche Ansätze eines Perzeptionsmusters“ erkennen, „das den Krieg […] als ein Projekt zur Reform der als extrem rückständig und verkommen, ja als ‚barbarisch‘ wahrgenommenen russischen Gesellschaft“ begriff (S. 62) und damit Einstellungen des Ostfeldzugs von 1941 gleichsam vorwegnahm. Von den von ihm analysierten authentischen, von den literarischen Stilisierungen seiner späteren, daraus schöpfenden Publikationen (etwa „In Stahlgewittern“) noch freien Kriegstagebüchern des Kriegsfreiwilligen und hoch dekorierten Frontoffiziers Ernst Jünger, des namhaftesten „Praktikers und Beobachters des Tötens“ im Ersten Weltkrieg, schreibt der Verfasser, dass uns deren Autor hier „weder als protofaschistische Kampfmaschine noch als Vordenker einer Amalgamierung von Mensch und Kriegstechnik (begegnet)“; das dort zutage tretende „Wissen um die Verflochtenheit von Gewalt und Normalität“ mache diese Schriften „zu einem ebenso bedeutenden wie für das Verständnis der Gewaltpraxis des Ersten Weltkrieges aufschlussreichen Dokument“ (S. 90).
Der zweite Abschnitt des Bandes geht der Frage der Gewaltverweigerung und in diesem Kontext zunächst dem Phänomen der Fahnenflucht im deutschen Heer nach, wobei Zonen des Überlebens, das Ausmaß der Desertion, die Motive der Deserteure und die Spezifika jener Fälle, die Angehörige von Minderheiten (Elsass-Lothringer, Polen) betrafen, erörtert werden. Die Gesamtzahl der Fahnenflüchtigen, die sich im deutschen Heer während des Ersten Weltkriegs – wiederum 1918 enorm ansteigend - in die Etappe, ins Heimatgebiet oder zum Feind absetzten, beziffert Benjamin Ziemann bei aller Vorsicht, die solchen Schätzungen gegenüber angebracht ist, mit etwa 90.000 bis 100.000. Unwägbarkeiten ergeben sich schon aus den militärgerichtlichen Verfahren, in denen bei Fahnenflucht die Absicht der dauerhaften Entziehung im Einzelfall nachzuweisen war, sodass vermutlich in nicht wenigen Fällen, in denen tatsächlich Fahnenflucht vorlag, nur eine Verurteilung wegen unerlaubter Entfernung ausgesprochen werden konnte. 1918 führte die Überlastung der Militärgerichte dazu, dass von den Verfahren „nur noch ein Bruchteil zum Abschluss kam“ (S. 104). Die relativ hohe Bereitschaft der den nationalen Minderheiten entstammenden Soldaten zur Fahnenflucht sei der „aggressiven Nationalitäten- und Sprachenpolitik des deutschen Reiches“ zu schulden, die es geschafft habe, „womöglich aufkeimende Loyalitätsgefühle gegenüber dem preußisch-deutschen Nationalstaat systematisch zu zerstören“ (S. 115).
Die im Spätsommer 1918 einsetzenden, massenhaften Absetzbewegungen von der Truppe haben den Militärhistoriker Wilhelm Deist 1986 dazu bewogen, den einen Zusammenbruch des Westheers nahelegenden und daher mit einiger Sprengkraft versehenen Begriff eines „verdeckten Militärstreiks“ zu prägen, da „der Ablauf der Ereignisse […] auf der aktiven kollektiven Handlungsfähigkeit der Soldaten“ beruht habe (S. 153). Obwohl der Streikbegriff einen Grad von Organisation nahelegt, der den damaligen - im Einzelnen noch genauer zu erforschenden - Geschehnissen nicht angemessen erscheint, bleibt die Tatsache einer massiven Auflösungstendenz, getragen vom nachvollziehbaren Wunsch vieler Soldaten, den sich merklich seinem Ende zuneigenden Krieg heil zu überstehen. Vergeblich versuchten die Militärbehörden daher unter anderem neben vermehrten Kontrollen und Razzien, die sogenannte „Drückebergerei“ durch Verfügungen wirksam einzudämmen. Der Begriff des Versprengten wurde „möglichst eng umschrieben“ als „nur für die Leute zu[treffend], die beim Rückkehr vom Urlaub oder von Kommandos ihren inzwischen verschobenen Truppenteil nicht mehr an alter Stelle vorfinden“, während „Leute, die ohne Ausweis von der Front bis zu einer Auskunftsstelle gelangen, […] grundsätzlich als ‚Drückeberger‘ zu betrachten und zu behandeln“ seien. An anderer Stelle forderte man unter Auflistung aller unter diesem Ausdruck zu subsumierenden Straftatbestände „die schärfsten Maßnahmen gegen die sogenannte Drückebergerei (unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht, Feigheit, Selbstverstümmelung, Gefährdung der Kriegsmacht im Felde, Gehorsamsverweigerung, um sich dem Kampfe zu entziehen)“ (S. 140f.).
Dass nach 1918 die Gewalterfahrungen des Krieges nicht einfach abgeschaltet werden konnten, sondern in der Gesellschaft weiterwirken mussten, steht außer Zweifel; mit der Frage, wie dies geschah, beschäftigt sich das dritte, letzte Kapitel des Bandes. Hier kommt der Verfasser zum Schluss, dass es zu kurz greife, „die Frage der Brutalisierung in der Weimarer Republik […] nur mit dem Hinweis auf die mörderischen Aktivitäten der Freikorps und die aus diesen folgenden Kontinuitäten zum Nationalsozialismus“ zu beantworten, da dabei außer Acht gelassen werde, „in welcher Form soziale Zäsuren nach 1918 erst jene Dynamiken schufen, die dann im Rückblick oft dem Weltkrieg zugeschrieben wurden“ (S. 172). Auch der Berufsoffizier Hermann Schützinger (1888 – 1962), der nach dem Ersten Weltkrieg als Sozialdemokrat die Wandlung zum Pazifisten vollzog, fand erstaunlicher Weise nicht „im Erlebnis des Sterbens und Überlebens an der Westfront eine direkte Motivation“ für seinen Schritt, wie „sein bis in den November 1918 reichender Diensteifer im Weltkriegsheer“ beweise, sondern erst dann, „als ihm mit dem Kapp-Putsch die destruktive politische Wirkung des alten kaiserlichen Offizierkorps klar geworden war“ (S. 196f.). Mit Wilhelm Appens‘ (1877 – 1947) „Charleville“ und Heinrich Wandts (1890 -1965) „Etappe Gent“ zeichnet Benjamin Ziemann abschließend den Werdegang zweier mit einer Verkaufszahl von zusammen bis zu 500.000 Exemplaren beim Publikum höchst erfolgreicher literarischer Werke als „wichtige Beispiele für die Zensur kriegskritisch-pazifistischer Literatur in der Weimarer Republik bzw. für Repressionsmaßnahmen gegen deren Autoren“ nach (S. 199).
Ruft man sich die dargestellten Inhalte noch einmal in ihrer Gesamtheit ins Gedächtnis, wird eine gewisse Heterogenität deutlich, die wohl daher rührt, dass der als Monographie auftretende Band sich aus (inklusive der Einleitung) zehn Einzelstudien zusammensetzt, von denen sechs in ihrer Ursprungsfassung zwischen 1996 und 2012 bereits an anderen Orten publiziert worden sind. Gegen eine solche Vorgangsweise ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn das daraus hervorgehende Ergebnis den Erfordernissen der Themenstellung optimal gerecht wird. Nach dem Dafürhalten des Rezensenten hätte man den vorhandenen Eindruck eines – nur von einem einzigen Verfasser geschriebenen – Sammelbandes durch eine stärkere inhaltliche Stringenz innerhalb der drei großen Themenblöcke vermeiden können. Vielleicht hätte man besser den letzten, wirkungsgeschichtlichen Abschnitt weglassen und einer eigenen Publikation vorbehalten sollen, welche die Möglichkeit bieten würde, nicht nur exemplarisch, sondern systematisch in diese Materie einzudringen. Auch für die beiden verbleibenden Abschnitte gilt, dass sie einer Erweiterung und Verdichtung (etwa durch Quellenmaterial zu den Geschehnissen an der Ostfront) bedürften, um durchgehend Repräsentativität beanspruchen zu können. Nichtsdestotrotz liefert diese Studie, die leider auf jegliches Register verzichtet, wertvolle Ansatzpunkte zur Aufarbeitung nicht nur des Ersten Weltkriegs, sondern auch kriegerischer Auseinandersetzungen allgemein aus dem Titel der ihnen inhärenten Prozesse der Gewaltausübung und des Tötens.
Kapfenberg Werner Augustinovic