Willms, Johannes, Waterloo. Napoleons letzte Schlacht. Beck, München 2015. 288 S. Abb. Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Neben dem an dieser Stelle unlängst vorgestellten Paperback Marian Füssels „Waterloo 1815“ hat C. H. Beck mit Johannes Willms‘ „Waterloo. Napoleons letzte Schlacht“ eine weitere aktuelle, nun fest gebundene Monographie zu dieser sich heuer zum 200sten Mal jährenden, vielleicht bekanntesten Schlacht der europäischen Geschichte in seinem Verlagsprogramm. Es bietet sich daher an, die Besprechung des vorliegenden Bandes vergleichend an Füssels Arbeit auszurichten.

 

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass beide Studien, was die militärischen Aspekte der Schlacht angeht, ungeachtet ihrer jeweiligen Akzentuierung in ihrem Informationsgehalt als gleichwertig einzustufen sind und sich im Wesentlichen auf das bekannte, verfügbare Korpus an Quellen und Darstellungen stützen. Dass der Publizist Johannes Willms annähernd den doppelten Umfang an Druckraum zur Verfügung hat, ermöglicht es ihm, den politischen Implikationen abseits des eigentlichen Schlachtgeschehens mehr Raum einzuräumen. Von seinen insgesamt neun Kapiteln (gegenüber acht bei Füssel) beschäftigen sich die ersten vier mit Napoleons Verbannung nach Elba, seiner Rückkehr nach Frankreich, den Aktivitäten zur Neuausrichtung seiner Herrschaft und der Reaktion der verbündeten Mächte auf diese Entwicklungen. Das fünfte Kapitel setzt mit der Überschreitung der belgisch-niederländischen Grenze durch napoleonische Truppen in den Morgenstunden des 15. Juni 1815 ein und widmet sich der Analyse der Gliederung und Aufstellung der Kontrahenten sowie der Stärken und Schwächen der Armeen und ihrer Heerführer. Die den Gesamtausgang der Schlacht wesentlich beeinflussenden Waffengänge von Quatre Bras und Ligny am 16. Juni nehmen die Kapitel sechs und sieben ins Blickfeld, während das achte Kapitel die Hauptschlacht am 18. Juni zum Gegenstand hat, deren Erfassen neben zwei kleineren Gefechtsskizzen (Lage um 10.00 und um 16.00 Uhr) vor allem das dem Band beiliegende, mehrfach gefaltete, großformatige Faksimile eines „Plan(s) der Schlacht bei Belle-Alliance“ im Maßstab 1 : 25.000 mit farblich differenzierter Dislokation der Kräfte (alliierte Verteidiger: blau, angreifende Franzosen: rot) deutlich erleichtert. Das abschließende, neunte Kapitel zieht Bilanz hinsichtlich der politischen Konsequenzen dieser militärischen Entscheidung.

 

Der Verfasser stellt dar, dass der nach dem Abfall der Armee unvermeidbare Thronverzicht Napoleons diesem dank der Fürsprache des russischen Zaren Alexander gegen massive Bedenken der Verbündeten ein „Zaunkönigtum“ in Elba bescherte, von wo aus er, nicht zuletzt aufgrund diverser Einflüsterungen, falsche, von Wunschvorstellungen geleitete Schlüsse über das politische Klima in Frankreich zog. Dort hatte mittlerweile der schwache Bourbonenkönig Ludwig XVIII. auf Wunsch der Alliierten eine Verfassung gebilligt, die sich dem Buchstaben nach „durch geradezu mustergültige Liberalität“ auszeichnete (S. 33), in der Praxis aber viele enttäuschte und die Veteranen verprellte. Nachdem auch die ihm garantierte Apanage ausblieb, entschied sich Napoleon zur Rückkehr nach Frankreich, wo er am 1. März 1815 im Süden landete, über Grenoble und Lyon nach Paris marschierte und nach der Flucht der Bourbonen die Regierungsgewalt übernahm. Dabei habe er sich auf „die revolutionäre Legitimation der Volkssouveränität“ (S. 52) berufen, die ihn aber auch zwang, sich von einer Wiedererrichtung des Empire zugunsten der Idee eines - niemanden wirklich und am wenigsten ihn selbst überzeugenden - Empire libéral zu verabschieden. In Paris wurde dem Kaiser klar, dass er keineswegs allgemein erwünscht war, sondern bestenfalls in den Unterschichten noch breitere Popularität besaß; dies realisierten auch viele ehemalige Mitstreiter, die sich nun weigerten, Ministerämter zu übernehmen. Denn „trotz aller Ungeschicklichkeiten“ ihres Regimes konnten sich die Bourbonen „auf soliden Zuspruch in gut zwei Dritteln des Landes stützen“ (S. 84), und „sowohl das Ergebnis der Kammerwahl wie das des Plebiszits [über den ‚Acte additionnel‘ zur Revision der Verfassung; WA] hatten dem Herrschaftsanspruch Napoleons deutlich die Legitimation durch die Bürger verweigert“ (S. 106). Als sich Napoleons Hoffnungen, einen Keil zwischen die Alliierten treiben zu können, die aber auf dem Wiener Kongress beste Kommunikationsmöglichkeiten besaßen und dem Usurpator ihrerseits die Kommunikation verweigerten, ebenfalls als Illusion erwiesen, blieb ihm als letzter Weg nur mehr der Versuch, seine Herrschaft durch einen deutlichen militärischen Erfolg über die Koalition zu legitimieren.

 

In der Aufarbeitung des folgenden Geschehens fällt immer wieder ins Auge, wie sehr sich Johannes Willms bei der Beurteilung der Feldherrnqualitäten der führenden Akteure des in Rede stehenden Feldzuges, Napoleon und Wellington, als kritischer Zensor betätigt. Ersterer habe „bis ans Ende seines Lebens stets andere, Grouchy, Ney oder Soult, um nur diese zu nennen, für die Niederlage in der Schlacht bei Waterloo verantwortlich gemacht“ und „übersah dabei geflissentlich, dass er selber die Hauptverantwortung an diesem Ausgang trug“ (S. 233). Als er am 16. Juni Ney bei Quatre-Bras ansetzte, hatte er nicht nur die „eminente strategische Bedeutung der Straßenkreuzung“ selbst gar noch nicht realisiert, sondern diesem auch „das Kommando über den linken Flügel mit höchst summarischen Instruktionen übertragen“ und es „sträflich verabsäumt, [ihn] in seine strategischen Überlegungen einzuweihen“, sodass folgenreiche Fehlentscheidungen gleichsam präjudiziert waren. Als die Preußen bei Ligny bereits geschlagen waren, „vertrödelte Napoleon unfassbar viel Zeit, den […] Gegner zu verfolgen und aufzureiben. Schließlich beging er den fatalen Fehler, die eigene Armee zu teilen und Grouchy mit einem Corps von 30.000 Mann viel zu spät auf die Verfolgung Blüchers anzusetzen“. Dies sollte sich bei Waterloo, wo im Einzelnen weitere Fehler hinzukamen – so verweigerte der Kaiser Ney, der in Wellingtons Zentrum eindringen konnte, die für den entscheidenden Durchbruch unabdingbaren Infanterieverstärkungen (vgl. S. 225) - , bitter rächen: „Mit denselben Waffen, mit denen sonst Napoleon seine Feinde schlug, nämlich: seine Streitkräfte auf den entscheidenden Punkten eher vereinigt zu haben, wie seine Gegner, wurde er jetzt selbst bekämpft, und zwar auf eine so kräftige Weise, dass sein Untergang die unmittelbare Folge davon wurde“ (S. 235f.).

 

Doch auch die Führungsentscheidungen des Siegers Wellington seien von krassen Fehleinschätzungen gekennzeichnet gewesen. Der Verfasser betont: „In militärisch operativer Hinsicht waren die britisch-niederländische und die preußische Armee […] völlig unabhängig voneinander; ebenso waren ihre jeweiligen Oberbefehlshaber, Wellington und Blücher, gleichgestellt. Damit stand es ihnen frei zu entscheiden, wo, wie und wann sie es für richtig befanden, im Interesse des verabredeten Kriegsziels miteinander zu kooperieren. Diese operative Entscheidungsfreiheit hatte Gneisenau […] preisgegeben, sobald Wellington erstmals seinen Führungsanspruch anmeldete. Damit war von vorneherein gewährleistet, dass der unschwer vorhersehbare Erfolg der Alliierten über Napoleon, gestützt auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit, ein Triumph war, der in erster Linie den britischen Fahnen zufiele“ (S. 137). Nachdem Wellington seine Truppen infolge einer unrichtigen Beurteilung des erwarteten französischen Hauptstoßes so weiträumig disloziert hatte, dass sie seinen eigenen Rückzug an die Küste im Falle einer Niederlage decken würden, aber für eine Unterstützung der Preußen nicht zur Verfügung standen, täuschte er wider besseres Wissen dennoch Blücher und Gneisenau durch seine Unterstützungszusage so, dass diese sich in Erwartung der britischen Waffenhilfe mit unterlegenen Kräften bei Ligny den Franzosen entgegenstellten und – nach Ausbleiben der Briten – die Schlacht verloren. Trotzdem zogen die geschlagenen Preußen sich nicht, wie vom Feind erwartet, nach Osten zurück, sondern versammelten ihre Armee bei Wavre so, dass sie im entscheidenden Augenblick Wellington bei Waterloo unterstützen und durch ihr rechtzeitiges, beherztes Eingreifen den alliierten Erfolg sicherstellen konnten. Hier sei im Auge zu behalten, dass Wellington „nicht nur Militär, sondern auch Politiker und Diplomat war“ und „ihn schon längst der Ehrgeiz plagte, seine bisherige militärische Karriere mit der Laufbahn eines erfolgreichen Politikers zu krönen. […] Allein von seiner Fortüne als Kriegführer gegen Napoleon würde die Erfüllung seines Ehrgeizes unmittelbar abhängen. […] Für die preußischen Zeitgenossen Wellingtons waren solche Überlegungen ein Buch mit sieben Siegeln“ (S. 175f.). In Konsequenz dieses Denkens ließ Wellington, um die Optik des alleinigen Siegers zu zementieren, bei Waterloo seine während der Schlacht in der Verteidigung verharrenden, stark dezimierten Linien imageträchtig gegen die Franzosen vorrücken, als diese, bereits geschlagen, sich zur Flucht gewendet hatten. Seine Botschaft lautete im Kern: „Ich, Wellington, habe allein mit meiner Armee die Schlacht gewonnen“ (S. 241), was natürlich den Tatsachen widerspreche.

 

Zur Kritik des Verfassers an beiden Feldherrn muss einschränkend bemerkt werden, dass die Annahme, die militärischen Entscheidungen exzellenter Heerführer könnten stets frei von Irrtum sein, die menschliche Natur ebenso verkennen würde wie den komplexen Charakter militärischer Operationen. Die Entscheidungssituation auf dem Gefechtsfeld ist stets von Unwägbarkeiten bestimmt, denen das formalisierte Führungsverfahren der Lagebeurteilung wie auch der taktische Instinkt des militärischen Führers nur bedingt Rechnung tragen können, sodass letzten Endes bei gleichen Voraussetzungen neben der solideren Stabsarbeit auch das vielzitierte Schlachtenglück über Erfolg oder Misserfolg befindet. Zu bedenken ist ferner, dass der Betrachter in der Rückschau von einem feststehenden Ergebnis ausgehen kann, das aber für den in den Ablauf des Geschehens involvierten Zeitgenossen nur als eine zukünftige Möglichkeit unter mehreren präsent war. Auch im Fall des unter dem Signum Waterloo firmierenden Feldzuges wäre durchaus ein ganz anderer Verlauf denkbar, etwa wenn sich Napoleon nicht zuerst gegen die Preußen, sondern gegen Wellingtons Streitmacht gewendet hätte.

 

In unterschiedlichen Traditionssträngen habe Wellingtons Lesart aber politische Wirkmächtigkeit entfaltet, denn der Sieg bei Waterloo habe „die unangefochtene Weltmachtrolle Großbritanniens und seine Dominanz des europäischen Mächtekonzerts für das folgende Jahrhundert gewissermaßen formell beglaubigt“ (S. 242). Hingegen erhelle „das Scheitern der zugunsten ‚der deutschen Fürsten‘ erhobenen Annexionsforderungen [gegenüber Frankreich; WA], warum Waterloo für das preußisch-deutsche Nationalbewusstsein keine Bedeutung erlangte“ (S. 248). In den Niederlanden und dem mit ihnen zunächst 1815 zwangsvereinigten, 1830 wieder abgespalteten Belgien konkurrierten verschiedene Erinnerungsstränge, und „im ausgeprägten nationalen Selbstgefühl Frankreichs“ blieb „Waterloo eine offene Wunde“ (S. 246), die zugleich eine Historisierung Napoleons dort bis zur Gegenwart verhindere. Mit diesen Reflexionen arbeitet Johannes Willms vor allem die wichtigen politischen Aspekte der Erinnerung an die Schlacht heraus; die weiteren, vielfältigen Formen der mit ihr verbundenen Memorialkultur, die Marian Füssel so ausführlich darstellt, klingen hier nur kurz im Vorwort an.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic