Wein, Susanne, Antisemitismus im Reichstag, Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik (= Zivilisationen & Geschichte 30). Lang, Frankfurt am Main 2014. XIV, 15-524 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Es wachse im deutschen Volk der Wunsch, die Gleichsetzung „des Juden mit dem Deutschen beseitigt zu sehen und an Stelle der unwahrhaftigen, widerwärtigen und entwürdigenden Gemeinsamkeit im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben die sichtbare, ausdrückliche Trennung […] treten zu lassen.“ Man fordere deshalb „neben der Kenntlichmachung des Juden in Deutschland […] seine Entfernung aus allen öffentlichen Ämtern[,] Stellungen und, bis diese erfolgt ist, das Vorsetzen seiner Volkszugehörigkeit zu seinem Namen, so z. B., damit Sie mich ganz richtig verstehen: der Jude Finanzminister Hilferding (Zuruf links: Unerhört!) - Sie finden das unerhört - , der Jude Ministerialrat Badt, der Jude Reichstagsabgeordneter Bernhard usw. (Zuruf links: Der Jude Reventlow! Der Psychopath Reventlow!) [Reventlow:] - Bravo! - Das wäre eine Etappe zu dem Ziel: die Entfernung des Kuckucks aus dem deutschen Nest!“ (S. 413f., Fußnoten 1821 u. 1822; Protokoll der Reichstagssitzung vom 26. 6. 1929, Schlussbeiträge zur Debatte über den Reichshaushaltsplan 1929, Verlesung eines judenhetzerischen Manifests durch den NSDAP-Abgeordneten Ernst Graf zu Reventlow). Die Verfasserin der vorliegenden Berliner Dissertation, die freie Historikerin Susanne Wein, merkt an, dass „keine von Reventlows Diffamierungen von Vizepräsident [des Reichstags] Siegfried von Kardorff (DVP) beanstandet (wurde)“, doch meldete sich stattdessen der Abgeordnete Wilhelm Külz (DDP) außerordentlich zu Wort und erteilte Reventlow eine „kurze und prägnante Zurückweisung“. Das sei nach ihrer Kenntnis „zum ersten und […] zum einzigen Mal“ gewesen, dass „ein Abgeordneter extra und ausschließlich deshalb das Wort (ergriff), um gegen eine antisemitische Provokation der Nationalsozialisten im Reichstag aufzutreten. Külz waren anscheinend angesichts der dreisten Rede Reventlows die herkömmlichen Reaktionen von Zwischenrufen und ironisierenden Äußerungen ‚von links‘, wie das Protokoll sie oftmals vermerkte, nicht mehr angemessen und ausreichend genug“ (S. 414f.). Nur wenige Jahre später waren in ganz Deutschland die 1929 noch ungeheuerlich anmutenden, als psychopathisch gebrandmarkten, diskriminierenden Forderungen Reventlows zur in weiterer Folge im Holocaust bis zur Extermination auf die Spitze getriebenen, grausamen alltäglichen Realität geworden. Viele „gewöhnliche Deutsche“ nahmen die antisemitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber ohne Widerspruch hin oder beteiligten sich an diesen. Offensichtlich war das aktions- und eskalationsfördernde Potential verbaler judenfeindlicher Ausfälle sträflich unterschätzt worden.

 

Festzustellen, in welchem Ausmaß offene oder auch subtile antisemitische Rhetorik im Reichstag der Weimarer Republik Einzug gehalten hatte und damit gleichsam salonfähig geworden war, welche Fraktionen sich in welcher Form ihrer bedienten oder nicht, auch, ob und wie dieser Agitation wirksam begegnet wurde, ist das Anliegen der Untersuchung Susanne Weins. Nach den üblichen Vorbemerkungen zum Forschungsstand, zu Quellen, Methoden und Fragestellung gliedert sich die Arbeit in drei Hauptabschnitte und mündet schließlich in ein Resümee. Ihr fast 280 Druckseiten umfassendes Kernstück bildet der dritte Abschnitt, die Untersuchung der Debatten im Reichstag. Die beiden kürzeren, vorausgeschickten Abschnitte enthalten Feststellungen zum Thema Weimarer Reichstag und Judenfeindschaft zwischen Kontinuität und Diskontinuität (Ort, Abgeordnete, Arbeitsalltag, Symbolcharakter, Presse, Gerichtsprozesse) sowie zur Positionierung des Parteienspektrums in der „jüdischen Frage“ in Theorie und Praxis (Deutschnationale Volkspartei DNVP, Deutschvölkische Freiheitspartei DvFP und Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei NSDAP, Deutsche Volkspartei DVP, Reichspartei des deutschen Mittelstandes oder Wirtschaftspartei, Zentrum und Bayerische Volkspartei BVP, Deutsche Demokratische Partei DDP/ Deutsche Staatspartei DStP, Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD und Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands USPD, Kommunistische Partei Deutschlands KPD). Die Verfasserin weist der NSDAP, aber auch der DNVP einen „latent vorhandenen (Welt-)Verschwörungsantisemitismus nach“, die DVP orientierte sich ebenfalls „zumeist nach rechts und (ließ) antisemitische Reden fast immer stillschweigend geschehen“. Die Zentrumspartei wiederum „verwendete in aller Regel keine antisemitische Sprache“, vertrat jedoch bisweilen Positionen, die „anschlussfähig an eine antisemitische Aufladung“ gewesen seien. BVP und die republikanische, selbst als „Judenpartei“ diffamierte DDP gaben sich ebenfalls national, doch war vor allem bei letzterer „die Kritik an antisemitischen Invektiven der Rechten (deutlich vorherrschend)“. SPD und USPD „stellten sich am deutlichsten gegen den Antisemitismus der Deutschvölkischen und Nationalsozialisten“, im Gegensatz zur KPD, deren Abgeordnete „offensichtlich kein Interesse (hatten), den Antisemitismus als solchen zu kritisieren, wenn sie ihn überhaupt bemerkten“ (S. 425ff.).

 

Susanne Wein expliziert das antisemitische Sprachhandeln im Reichstag der Weimarer Republik an Hand dafür besonders geeigneter Themenkomplexe, wie der Stereotypisierung „des Ostjuden“ im Zuge der Debatten um den sogenannten Barmat-Skandal, der Reparationsdebatten (Dawes-Plan, Young-Plan) und des Umgangs mit Parlamentariern jüdischer Herkunft. Mit Hilfe des Ansatzes der Kritischen Diskursanalyse nach Ruth Wodak arbeitet sie „eine in mehrere Stufen unterteilte Sprache der Judenfeindschaft“ (S. 433) heraus und erfasst diese mit den drei Kategorien manifest antisemitisch, verdeckt antisemitisch und codiert judenfeindlich. Die manifest antisemitische Sprache trete in den Ausprägungen des verbalen Radauantisemitismus (offen diffamierende Verwendung des Lexems „Jude“, z. B. „Ihr Judenbanditen“) und des durch Sprachfiguren vereindeutigten Antisemitismus (z. B. „Ostjuden wandern wie die Heuschrecken“) auf. Auch die verdeckt antisemitische Sprache existiere in zwei Varianten: als kaschiert antisemitische (Verwendung von bekannten Stigmawörtern, z. B. „internationales Weltkapital“) und als codiert antisemitische (Spiel mit Sprachfiguren, die eine „höhere Dechiffrierungsleistung“ verlangen, z. B. das [der jüdischen Presse zugerechnete] „Berliner Tageblatt“ stehe Herrn K. „nicht nur politisch, sondern auch genealogisch“ nahe). Codiert judenfeindliche Wendungen (z. B. „jüdische Hast“) bildeten „die subtilste Form judenfeindlicher Sprache“, wurden von Sprechern und Rezipienten oft gar nicht als antisemitisch erkannt, konnten aber bestehende Vorurteile verstärken und gehörten „aufgrund politisch-kultureller Sozialisation zu den selbstverständlichen Sprachmodi der politischen Kultur der 1920er Jahre“ (S. 434).

 

Bereits 1923/1924 sei es den antisemitischen Kräften gelungen, Judentum mit bestimmten Begriffen zu konnotieren, ein Prozess, den die Verfasserin mit dem Begriff des Laminierens beschreibt: „Als Laminieren wird […] das bewusste Zusammenbringen, Einfließen lassen und Verschweißen des als jüdisch Vorgestellten mit allen möglichen Wortzusammensetzungen des Internationalen, von kapitalistischen Vorgängen und von Weltverschwörungsphantasien bezeichnet. Zusätzlich fixierten die Nationalsozialisten den Gegensatz von deutsch versus international fest miteinander, so dass das Antonym-Paar undeutsch = jüdisch immer unausweichlicher wurde. Es entstanden festgefügte und untrennbare Verknüpfungen, die kaum mehr unzusammenhängend vorstellbar waren. Dieses Laminierungsprinzip war als Taktik der NSDAP und der völkischen Antisemiten äußerst erfolgreich. Die im Reichstag – trotz des dortigen Reglements – wenig behinderte Vorgehensweise […] lässt sich wie ein Versuchsfeld für diesen Laminierungsprozess betrachten“ (S. 293). Dadurch habe sich in der Gesellschaft ein „schleichender Wandel“ vollzogen, eine „Sedimentierung [der antisemitischen Deutungscodes] in der Soziokultur“ als eine höchstwahrscheinlich „entscheidende Voraussetzung […] für den Erfolg des nationalsozialistischen Antisemitismus und seine Umsetzung in der ‚Judenpolitik‘ nach 1933“ (S. 451).

 

Der Mechanismus der Prägung von sprachlichen, aber auch von ikonographischen Stereotypen (in diesem Zusammenhang sei auf die „Charakterköpfe des deutschen Reichstags“ überschriebene Broschüre der „Arbeitszentrale für völkische Aufklärung“ vom Dezember 1924 hingewiesen, in der 13 SPD-, 8 KPD-, 6 DDP-Abgeordnete und ein DVP-Abgeordneter als steckbriefähnlich gestaltete Karikaturen mit „typisch jüdischer“ Physiognomie – beispielsweise breiter Schädel, krauses Haar, übergroße unförmige Nase, wulstige Lippen etc. – erscheinen; vgl. dazu die Ausführungen S. 302ff. und die sechs exemplarisch abgedruckten Zeichnungen der Abgeordneten Eppstein, Hilferding, Scholem, Brodauf, Fischer und Sender, S. 304ff.) zur langfristigen Beeinflussung des kollektiven Bewusstseins ist als manipulativ-denunziatorische Technik keineswegs auf den antisemitischen Kontext beschränkt. Insofern erbringt die vorliegende Studie nicht nur eine Erklärungsleistung im Hinblick auf das behandelte historische Terrain, sondern liefert auch ein praktikables Interpretationsmuster zur Beobachtung der sprachlichen Codierung gegenwärtiger populistisch aufgeladener Konfliktfelder (Islamisierung, Migration etc.).

 

Für die Darstellung der zeitgenössischen rechtlichen Würdigung von Juden- und Republikfeindschaft wendet die Verfasserin lediglich sechs Druckseiten (S. 94ff.) auf und konstatiert dabei ein weitgehendes Versagen der Judikative wie auch der Legislative. Rechtskonservative personelle Kontinuitäten in Justiz und Verwaltung hätten eine Republikanisierung des Justizapparates blockiert, im Reichstag opponierten rechte wie linke Flügelparteien gegen das Republikschutzgesetz, was einmal mehr zeige, „dass sich die Republik in einer Gesellschaft weitgehend ohne Republikaner behaupten musste“ (S. 95). Explizite Schutznormen gegen Antisemitismus fanden weder Eingang ins Republikschutzgesetz (dessen Strafbestimmungen in den Kompetenzbereich des dafür geschaffenen Staatsgerichtshofs in Leipzig fielen) noch ins Reichsstrafgesetzbuch (RStGB). Angegriffene mussten sich daher auf § 130 RStGB (Aufreizung zum Klassenhass), § 166 RStGB (Religionsbeschimpfung) oder die Beleidigungsparagraphen §§ 185-187 RStGB stützen, doch führten entsprechende Prozesse – wie auch die Ahndung der pejorativ intendierten Anwendung des Begriffs „Judenrepublik“ auf den Weimarer Staat – nur selten zum Erfolg, da die Gerichte häufig mittels „gequälte(r) Konstruktionen“ (Ludwig Foerder) antisemitische Straftaten als Bagatellen einstuften. Am bedenklichsten sei zu werten, dass die Rechtsprechung zugleich die Vorstellung der wissenschaftlichen Haltbarkeit von Rassetheorien förderte, denn: „Entweder schlossen sich die Gerichte direkt einer rasseantisemitischen Auslegung an, die nur eigener deutschnationaler oder reaktionärer Ideologie entspringen konnte. Oder es wurde als mildernder Umstand gewertet, dass der Beklagte aus Überzeugung Juden lediglich als Rasse ablehne. Dies hebelte […] die Bezeichnung ‚Jude‘ als Beschimpfung aus, da eine ‚Tatsache‘ ja keine Diffamierung sein könne“ (S. 100). Der sekundäre, von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen determinierte Charakter der gesamten Rechtssphäre wird an diesem Beispiel wieder einmal deutlich in Erinnerung gerufen

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic