Taschwer, Klaus, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Czernin Verlag, Wien 2015. 311 S., Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Die auf keltisch-römischer Grundlage ruhende Stadt Wien erhält unter dem Habsburger Rudolf IV. von Österreich am 12. März 1365 die (nach Prag) älteste deutschsprachige Universität des Heiligen römischen Reiches, die nach eindrucksvollen bescheidenen Anfängen früh zurückfällt und erst am Ende des 15. Jahrhunderts das Studium auch des römischen Rechtes ermöglicht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird dabei in der Rechtswissenschaft das Schwergewicht auf das Studium des österreichischen Rechtes gelegt. Mit der anschließenden jüngeren Vergangenheit befasst sich das vorliegende Werk.

 

Sein Autor ist der in Judenburg 1967 geborene, in Wien in Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie ausgebildete, seit 1995 als Journalist bei dem Stadtmagazin Falter und danach als Herausgeber des Wissenschaftsmagazin heureka sowie an verschiedenen Stellen in Wien, Klagenfurt, Eisenstadt, Berlin und zuletzt als Wissenschaftsredakteur bei der Tageszeitung Der Standard tätige Verfasser, der sich etwa 2001 bereits mit Konrad Lorenz und dem Nationalsozialismus beschäftigte. Sein vorliegendes Werk gliedert sich nach einer Einleitung über die vier Adressen der Universität Wien (1884 Eröffnung des neuen Hauptgebäudes am Franzensring, 1919 Ring des 12. November, 1934 Dr. Karl-Lueger-Ring, 2012 Universitätsring) in acht Kapitel und einen Epilog für das Jahr 1965. Dabei werden ausgehend von Jahren des Glanzes (weltweit zweitgrößte Universitätsbibliothek, nach Paris, Berlin und Moskau 1913 viertgrößte Studentenzahl von 8784 Studierenden, Ludwig Boltzmann, Ernst Mach, Eduard Suess - jüdische Mutter, liberal -, Sigmund Freud, dazu Ernst Wilhelm von Brücke, Carl von Rokitansky, Josef Skoda, Theodor Billroth - deutschnational, antisemitisch -, Adolf Lorenz, Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Alois Riegl, Max Dvořak, Josef Strzygowski, Julius von Schlosser, Julius Hann, Eduard Brückner, Adolf Lieben, Josef Loschmidt, Josef Stefan, Ernst Mach oder Fritz Hasenöhrl, aber auch mit Kratzern und beginnender Zerstörung wissenschaftlicher Exzellenz in den 1920er Jahren) in grundsätzlich chronologischer Ordnung der erste Weltkrieg, die Gewalt gegen jüdische Studierende, geheime antisemitische Netzwerke, eine Brutstätte des Nationalsozialismus, fünf fatale Jahre unter dem Kruckenkreuz, die große Vertreibung von mehr als 250 Lehrenden) und schwarz-braune Kontinuitäten (z. B. Richard Meister, Heinrich Drimmel) betrachtet.

 

Nach dem Verfasser radikalisierte sich durch die Zuwanderung Studierender aus Galizien und der Bukowina nach dem Ende des ersten Weltkriegs (Wien wuchs zwischen 1850 und 1920 von  rund 550000 Bewohnern auf rund 2,1 Millionen Bewohner, darunter 1860 6200 Einwohner jüdischer Konfession, nach Gleichstellung durch das Staatsgrundgesetz des Jahres 1867 1870 40000, 1884/1885 2085 jüdische Hörer an der Universität = 36,4 Prozent, später rund 25 Prozent, 1890 58 Prozent der Anwälte Juden, 1881 rund 61 Prozent der Ärzte, um 1909 etwa die Hälfte der Journalisten, 1907/1908 4 von 15 Ordinarien der juristischen Fakultät jüdisch, 1 von sieben Extraordinarien, 14 von 31 Privatdozenten) gerade auf akademischem Boden der bereits (z. B.  1895 Rücktritt des Rechtswissenschaftlers Carl Samuel Grünhut von der Wahl zum Rektor zwecks Vermeidung angedrohter antisemitischer Ausschreitungen) vorhandene Antisemitismus. An der philosophischen Fakultät zog wohl seit 1922 ein geheimes, 2012 aufgedecktes Netzwerk 18er Professoren der Geisteswissenschaften mit Nähe zu den Deutschnationalen, Christlichsozialen oder Katholischnationalen (Deckname Bärenhöhle, z. B. Othenio Abel nationalsozialistisch und antisemitisch, Heinrich Srbik, Wilhelm Bauer, Hans Uebersberger, Oswald Menghin, Viktor Christian, Carl Ludwig Patsch, Rudolf Geyer, Hermann Junker, Friedrich von Kraelitz, Dietrich Kralik, Rudolf Much, Rovert Lach, Anton Pfalz, Robert Reininger, später Wilhelm Czermak, Richard Meister) die Fäden, verhinderte spätestens ab 1923 erfolgreich Habilitationen jüdischer und linker Forscher und degradierrte wissenschaftliche Qualität nach Ansicht des Verfassers zur Nebensache. In der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät sorgte ein Kreis um den 1919 aus Brünn nach Wien berufenen Nationalökonomen, Soziologen und Philosophen Othmar Spann für antisemitische Verhältnisse und „dürften die Antisemiten ähnlich gut durchorganisiert gewesen sein wie an der philosophischen Fakultät“, weshalb in der Zwischenkriegszeit kein Ordinarius jüdischer Herkunft mehr ernannt, mit dem Nationalökonomen Franz Xaver Weiß ein letzter Nachwuchsforscher jüdischer Herkunft 1926 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in der ersten Republik habilitiert und Stephan Brasloff mittels eines Disziplinarverfahrens von dem frei gewordenen Ordinariat für römisches Recht ferngehalten wurde.

 

Ab dem Rektorat des Strafrechtlers Wenzel Gleispach (Graz 1876-Wien 1944, 01. 09. 1933 Zwangspensionierung wegen „Verstoßes gegen den Diensteid“) in dem Studienjahr 1928/1929 verstärkte sich für einige Jahre der Nationalsozialismus an der Universität. Gleispach setzte mit Billigung durch den Unterrichtsminister Heinrich Srbik (ordentlicher Professor für Geschichte, Teilnehmer der Bärenhöhle) eine Studienordnung durch, „die auf eine rassistische Diskriminierung von jüdischen Studierenden hinauslief“. Bei den nach dieser Studienordnung durchgeführten Studentenschaftswahlen gewannen die nationalsozialistischen Studenten erstmals die Stimmenmehrheit.

 

„Auf Grund dreister Machtdemonstrationen der Nazi-Studenten zerbrach am Ende des Jahres 1932 die bis dahin gut funktionierende Koalition zwischen Schwarz und Braun auf universitärem Boden“. Dollfuß und nach dessen Tod Schuschnigg wollten die Hochschulen zurückerobern. „Vor allem sozialistische und nationalsozialistische Studierende wurden relegiert, bei den Professoren waren insbesondere Nationalsozialisten betroffen, da linke und liberale Lehrende meist schon vor Jahren weggemobbt worden waren“.

 

Die zugleich einem harten Spardiktat folgenden Eingriffe wurden meist als Pensionierungen getarnt. Von ihnen waren „auffällig viele jüdische Professoren betroffen“. Insgesamt kam es bei den Ordinariaten nach 1934 zu einer Kürzung um fast ein Viertel (1. 11. 1932 107 besetzte Ordinariate, 76 Extraordinariate, um 1934 13 politische Pensionierungen wie z. B. Julius Tandler, Othenio Abel, Viktor Christian, Fritz Machatschek, Karl Gottfried Hugelmann, Heinrich Gomperz, Max Layer, insgesamt elf von 19 jüdischer Herkunft, 1. 11. 1937 92 Ordinariate, 46 Extraordinariate, 1944 infolge Nachbesetzungen mit regimetreuen und arischen Professoren 92 besetzte Ordinariate und 32 Extraordinariate).

 

Nach dem Anschluss an das Deutsche Reich unter Adolf Hitler wurden bereits bis 23. April 1938 252 Lehrpersonen aus rassistischen und politischen Gründen von der Universität Wien entfernt. Von einer ersten „Säuberungswelle“ waren  52 Professoren, 195 Privatdozenten und fünf Lektoren betroffen, bis 1945 insgesamt einschließlich von Emeritierungen 84 Professoren, 232 Dozenten und sechs Lektoren, wobei die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät 44 von 80 Lehrenden (55 Prozent) verlor. Bei 236 der 322 Lehrpersonen (73 Prozent) waren wohl rassistische Gründe ausschlaggebend (jüdisch, Mischling, jüdisch verheiratet).

 

Im Sommersemester 1944 waren von 124 Professoren 92 Mitglieder oder Anwärter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (12 von 17 in der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät). Von ihnen konnten  letztlich 56 ihre Karriere fortsetzen (z. B. Dietrich Kralik 1948), während 35 in den Ruhestand versetzt wurden. Anfangs 1950 gab es 74 ordentliche und 17 außerordentliche Professoren. Nach der Ansicht des Verfassers blieben bei den personellen Veränderungen (Säuberungen) der Jahre 1934, 1938 und 1945 vor allem die Professoren übrig, die sich dem politischen Wind beugten oder ihr politisches Mäntelchen rechtzeitig nach ihm hängten, wobei Mittelmäßige und Schmiegsamse am ehesten überlebten.

 

Nach einer von dem Verfasser an das Ende gestellten Ausführung des schon in den 1920er Jahren emigrierten Philosophen Karl Popper aus dem Jahre 1969 war der Antisemitismus in Österreich zu dieser Zeit noch immer stark. Deswegen vertrat er den Standpunkt, dass Leute jüdischer Herkunft dem Land fernbleiben sollten, damit dieses Gefühl aussterben könne. Letztlich entschied er sich wegen des Antisemitismus dementsprechend gegen eine Rückkehr nach Österreich.

 

Insgesamt bietet der Verfasser ein eindrucksvolles, faktengesättigtes Bild der Universität Wien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Grunde zeigt es vor allem die Menschlichkeit des Menschen aus einem spezifischen Blickwinkel. Wo immer er mit Gesinnungsgenossen Gesinnungsfremden zwecks eigener Absicherung und persönlichen Vorteils schaden kann, nimmt er Gelegenheiten und Entscheidungsbefugnisse nicht zuletzt in Wien auch unter Scheinbegründungen sowie Missachtung von Freiheit, Wahrheit, Recht und Wissenschaftlichkeit nicht ungerne wahr.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler