Sürek, Tunay, Die Verfassungsbestrebungen der Tanzimât-Periode. Das Kanun-i Esasî – Die osmanische Verfassung von 1876 (= Rechtshistorische Reihe 462). Lang, Frankfurt am Main 2016. XXXI, 206 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Türken kamen nach den Hunnen und Awaren schon früh aus Ostasien bzw. aus der Mongolei in den Westen, traten seit dem Ende des 8. Jahrhunderts zum Islam über und drangen in dem elften Jahrhundert unter dem Geschlecht der Seldschuken nach Kleinasien ein, wo sie nach Zerschlagung des Seldschukenreichs durch die Mongolen unter dem Geschlecht der Osmanen von Nordwestanatolien aus geeint werden und am 29. 5. 1453 den Überrest des oströmischen Reiches in Konstantinopel/Byzanz/Istanbul erobern. Von dort aus nehmen sie nach Vorderasien auch Nordafrika und Südosteuropa ein, werden seit der zweiten Belagerung Wiens im Jahre 1683 wieder zurückgedrängt. Am 3. 11. 1839 verspricht der dadurch geschwächte Sultan im Erlass von Gülhane in freiwilliger Begrenzung seiner Gewalt die Vorbereitung neuer, den Bedürfnissen des Landes im internationalen Wettbewerb mit den europäischen Großmächten entsprechender Bestimmungen.
Mit der daran
anschließenden Frage, inwieweit die von 1839 bis 1876 reichende
Tanzimât-Periode (Periode der heilsamen Neuordnung) mit ihren gesetzlichen
Anordnungen eine Säkularisierung und Konstitutionalisierung des Rechtes im
osmanischen Reich vorangetrieben und beeinflusst hat, befasst sich die von
Michael Stolleis betreute, im Sommersemester 2015 von dem Fachbereich
Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main angenommene, noch 2015 im
Druck erschienene Dissertation des nach dem Studium in Frankfurt am Main mit
Auslandsaufenthalten in Paris und Los Angeles als Rechtsanwalt in einem Justitiariat
tätigen Verfassers. Sie gliedert sich nach einer Einführung über Fragestellung,
Begrifflichkeiten, Forschungsstand, Quellenlage, Zeitraum und Untersuchungsmethodik
in sechs Sachkapitel. Sie betreffen das vortanzimâtliche Rechtsverständnis, die
Verfassungswerdung und Motivlage, vergleichbare Reformen der Zeit in Europa, Um
Europa und im fernen Osten, die Sultanserlasse von 1839 und 1856 bis zur Einführung
einer Verfassung, die erste osmanische Verfassung vom 23. Dezember 1876,
mögliche Verfassungsvorbilder (Belgien 1831, Preußen 1850, Deutsches Reich 1871
und Millet-Verfassungen).
Im Ergebnis seiner ansprechenden, durch Textanhänge abgerundeten, eines Registers entbehrenden Untersuchung kann der Verfasser wegen der kurzen Lebensdauer des ersten osmanischen Grundgesetzes von nur etwa 14 Monaten nicht abschließend beurteilen, ob dieser Rechtstext durch Akzeptanz zu einem integralen Bestandteil der die gesellschaftlichen Verhältnisse regelnden Rechtsordnung geworden wäre. Er kann aber eine tendenzielle Verwestlichung und eine (leichte) Säkularisierung des Verfassungsrechts de jure feststellen, ohne dass dadurch die jahrhundertelang tatsächlich gelebte Herrschaftsweise durch den Text aufgehoben werden konnte. Dementsprechend war die erste osmanische Verfassung nicht ausreichend ausgewogen und modern, bildete aber dessenungeachtet „den Anfang zum ersten einschneidenden Schritt in Richtung Europa“.
Innsbruck Gerhard Köbler