Steinbach, Peter, Nach Auschwitz. Die Konfrontation der Deutschen mit der Judenvernichtung. Dietz, Bonn 2015. 107 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Was hat uns Erinnerung zu bedeuten, und in welcher Form des Gedenkens kommt sie adäquat zum Ausdruck? An diese Grundfrage rührt mit Peter Steinbach ein Mann, der seit einem Vierteljahrhundert als wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Bendlerblock, wo einst die militärischen Verschwörer des 20. Juli 1944 ihr Hauptquartier hatten, Erfahrung mit diesem Thema sammeln durfte und - mit einigen Turbulenzen - bis 2013 Politikwissenschaft sowie Neuere und Neueste Geschichte an den Universitäten Berlin, Passau, Karlsruhe und Mannheim gelehrt hat. Am 27. Januar 2015 hat er im Landtag von Baden-Württemberg an die Befreiung von Auschwitz erinnert. Dieser Jahrestag war 1996 vom damaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ proklamiert worden und bildet den Ausgangspunkt für Peter Steinbachs Essay, in dem er eintritt für ein „integrales Gedenken und eine integrale Erinnerung [...], die sich nicht ideologisch vereinnahmen lässt“ (S. 93). Sein Maßstab sind die Grund- und Freiheitsrechte, die, wie sein Streifzug durch die Geschichte von der Weimarer Republik bis in die unmittelbare Gegenwart erkennen lässt, nicht nur in einer diktatorisch geprägten Vergangenheit, sondern auch in den zahlreichen Konflikten der Gegenwart laufend schwerwiegend verletzt und unterlaufen werden. Während es im politischen Alltagsgeschäft „in der Regel um Exklusion“ gehe und auch der vielzitierte Grundkonsens „Grenzen – und damit Ausgrenzungsmöglichkeiten“ biete, gehe es im kollektiven Gedenken „um gesellschaftliche Inklusion, um das Miteinander, um die Konfrontation mit dem Leid der Verfolgten […] und die Möglichkeit, über die Grundlagen politischen Zusammenlebens nachzudenken“ (S. 23f.). Die in Erinnerung und Gedenken getätigte Rückschau wird somit zum unverzichtbaren Motor der kritischen Auseinandersetzung mit den Befindlichkeiten unserer Gegenwart.
Mit der Preisgabe liberaler Werte sei in der Weimarer Republik eine Spirale in Gang gekommen, die den moralischen Grenzüberschreitungen der nachfolgenden Hitler-Diktatur den Weg geebnet habe. Der Staat von Weimar sei dabei „keineswegs eine von Beginn an zum Scheitern verurteilte Staatsgründung“ gewesen, sie machte „auch viele positive Verfassungsangebote“. Ihr Untergang offenbare „die Preisgabe einer menschenwürdigen Verfassungsordnung, die vorbildlich war, weil sie einen Grundrechtskanon enthielt, der in vielen Passagen dem Grundgesetz ebenbürtig war“ (S. 36f.). Im Nationalsozialismus wurde dann „durch den gewaltsamen Bruch von verfassungsrechtlichen Prinzipien wie Grundrechten, den Prinzipien des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung die Gesellschaft durchstaatlicht. […] Die umfassende Gleichschaltung vollzog sich innerhalb weniger Monate und schuf die Voraussetzungen für weitere eskalierende, ungebremste Gewaltanwendungen, die sich gegen Juden, ‚Ballastexistenzen‘ und alle richtete[n], deren Lebensrecht aus politischen und rassenideologischen Gründen nicht anerkannt wurde. Die geistige Gleichschaltung erklärt, weshalb große Teile der deutschen Gesellschaft sich dem politischen Anspruch der Nationalsozialisten unterwarfen“ (S. 39). Der Verfasser berichtet über die vorher nicht bekannt gemachte Deportation der deutschen Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland am 22. 10. 1940, bei der sich der Staat als „Räuber“ und viele Deutsche als „Hehler“ betätigt hätten (S. 83). Diese Aktion sei „eine Art Masterplan für künftige Vertreibungen der Juden aus Deutschland“ gewesen, eine Probe, die den Herrschenden zeigte: „Es würde keine Komplikationen geben, die Mehrheit der Deutschen würde das Unrecht akzeptieren“ (S. 86f.).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Belastete zunächst durch „Beschweigen der Vergangenheit“ bewusst nicht zur Verantwortung gezogen, man sprach vom „Gnadenfieber“, gegen das sich nur wenige engagierte Juristen wie Robert M. Kempner oder Fritz Bauer stellten. Schließlich erwies in den 1960er Jahren der Jerusalemer Eichmann-Prozess, „dass die NS-Führung keinen Verteidigungs- und keinen Hegemonial-, sondern einen Rassenkrieg führte“ (S. 65), und der Auschwitz-Prozess „veränderte die deutsche Gesellschaft nachhaltig und schuf die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als ‚Menschheitsverbrechen‘“; dennoch scheiterte ein weiterer Prozess gegen Personal der „Euthanasieaktionen“ – „dazu schien die deutsche Gesellschaft Ende der sechziger Jahre noch immer nicht bereit und fähig zu sein“ (S. 68f.),
Der Verfasser erwähnt verschiedene Gedenkeinrichtungen und bewertet diese differenziert. Die der von ihm wissenschaftlich geleiteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand assoziierten Berliner Gedenkstätten in der Blindenwerkstatt „Otto Weidt“ und „Stille Helden“ am Hackeschen Markt zählt er „zu den besonders wertvollen Schätzen deutscher Erinnerung an den Zivilisationsbruch“ (S. 87), und in Schwäbisch Hall sei mit der KZ-Gedenkstätte Hessental durch „bürgerschaftliches Engagement“ ein Ort geschaffen worden, „wo die Nachlebenden mit einfachen und eindringlichen Mitteln erkennen können, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, der das menschliche Zusammenleben schon immer unzureichend schützte und bedrohlich schwach war“. Die Präsentation von Zeugenaussagen aus Strafverfahren figuriere dort als eine Möglichkeit, auch nach dem Aussterben von Zeitzeugen „Zeitzeugenschaft in die Zukunft zu tragen“ (S. 79). Scharf lehnt Peter Steinbach hingegen eine Form des Gedenkens ab, wie sie sich im Berliner Stelenfeld materialisiert hat; dessen Schöpfer, der amerikanische Architekt Peter Eisenman, sei in einem Zeitungsinterview als „Stichwortgeber der Neuen Rechten“ aufgetreten und habe ausgeführt, „dass es sich bei diesem Werk angeblich um ein völlig beliebiges, mit einem beliebigen Sinn zu verknüpfendes Denkmal handele“, an dem die Deutschen tun sollten, „was ihnen gefällt“ (S. 96ff.). Eine solche Position sei nichts weniger als „verantwortungslos“, denn: „Gedenktage, Denkmäler, geschichtspolitische Diskussionen sollen die Sinne schärfen, nicht abstumpfen. Sie sollen eine Herausforderung, ein ‚Stachel im Fleisch der Nachlebenden‘ sein, aber nicht zur ‚Kranzabwurfstelle‘ […] werden“ (S. 102). Alternative Konzepte wie Salomon Korns Idee der Abtragung oder Zerstörung einer der Säulen des Brandenburger Tores, um die durch den Völkermord entstandene, unwiderrufliche Lücke zu symbolisieren, oder der Obelisk Richard Schröders mit der Inschrift „Du sollst nicht morden!“ hätten die Funktion eines solchen Stachels erfüllen können. Denn: „Wie sähe unsere Welt aus, wenn dieses Gebot immer beherzigt worden wäre? Diese Frage, dieser Appell, diese Hoffnung ist der Anspruch des Begriffs ‚Auschwitz‘ für alle, die sich das Gefühl für die Gefährdung des Menschen durch Mitmenschen bewahren wollen“ (S. 105).
Peter Steinbachs Ausführungen verdienen in mehrfacher Hinsicht Beachtung. Sein Kerngedanke, dass Erinnern und Gedenken in erster Linie der Gegenwart zu dienen hat und sich nicht in einem Akt ritualisierter Rückschau erschöpfen darf, wurde ja bereits festgehalten. Darüber hinaus betont er stets die ureigene Verantwortlichkeit des einzelnen Staatsbürgers, der zu leicht der „Neigung zur Anpassung“ nachgebe und seinerzeit „durch Selbstidentifikation und Selbstgleichschaltung“ zum eigentlichen Fundament des NS-Systems geworden sei, eine „geistige ‚Ausrichtung‘, die sich im Begriff der Volksgemeinschaft niederschlug und heute in Pegida-Massendemonstrationen, die von sich behaupten, das ‚Volk zu sein‘, neu ersteht“ (S. 43). Herauszulesen ist schließlich sein deutliches Plädoyer, in einem „integrale(n) Gedenken, das alle Opfer und deren ganz persönliche Leiderfahrungen in den Blick nehmen sollte“, Unrecht jeder Art als solches benennen zu dürfen, ohne sich damit dem Vorwurf einer Relativierung oder Aufrechnung auszusetzen. Demzufolge sei „keine Vergewaltigung durch Auschwitz und keine Verschleppung durch Zwangsarbeit zu rechtfertigen“ (S. 18), und wenn auch unbestreitbar „die ‚Endlösung‘ der Judenfrage auf einen Völkermord (zielte) und zum Ersatzkriegsziel einer Nation (wurde), das sich zum Exzess der Vernichtung in industriemäßig betriebenen, bürokratisch durchorganisierten Tötungsanlagen steigerte“, seien deshalb „andere Leidensgeschichten nicht von geringerer Bedeutung“ (S. 93). Gedenktage wie der 27. Januar könnten „das integrale Leidens- und Opferverständnis stärken und die Summe der vielen Leiden, die historisch miteinander verbunden, aber lebensgeschichtlich viel stärker isoliert sind, vor die Augen der Nachlebenden rücken“ (S. 56). Eigene Leiderfahrungen sollten dabei stets die Empathie für das Leiden anderer stärken; das gemeinsame Gedenken an Auschwitz werde so zur fruchtbaren „Grundlage dafür, dass man an den anderen denkt“ (S. 8).
Kapfenberg Werner Augustinovic