Schyga, Peter, Über die Volksgemeinschaft der Deutschen. Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiografischer Gegenwartsmoden. Nomos, Baden-Baden 2015. 197 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Volksgemeinschaft hat Konjunktur. Es gibt heute kaum eine empirische Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftsrealität, in der dieser Begriff nicht in der einen oder anderen Form auftaucht. Als beispielsweise unlängst Christine Schoenmakers eine Arbeit zum Bremer Sondergericht vorgelegt hat [Christine Schoenmakers, ‚Die Belange der Volksgemeinschaft erfordern…‘. Rechtspraxis und Rechtsverständnis von Bremer Juristen im ‚Dritten Reich‘ (2015)], hat sie den Begriff nicht nur in den Titel aufgenommen, sondern auch die drei großen inhaltlichen Abschnitte „‘Volksgemeinschaft‘ und Recht“, „‘Volksgemeinschaft‘ und Juristen“ sowie „‘Volksgemeinschaft‘ und Verbrechen“ unter dessen Rubrum gestellt. Die verwendeten Anführungszeichen mögen allgemeiner Ausdruck der bewussten Distanzierung von NS-Vokabular sein, könnten aber auch signalisieren, dass die sogenannte NS-Volksgemeinschaft ja real nie eine freiwillige Gemeinschaft des ganzen Volkes gewesen ist, sondern in der Hauptsache ein ideologisch-propagandistisches Vehikel zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaftsinteressen. Wesentlich ist, dass Schoenmakers das Volksgemeinschaftsmodell methodisch instrumentalisiert, um damit, wie sie sagt, „gängige Klischees, Kategorien und (Vor-)Urteile über menschliches Handeln im Nationalsozialismus überprüfen, und, wo es mir notwendig erscheint, verwerfen bzw. korrigieren“ zu können (Schoenmakers, Bremer Juristen S. 56).
Hier hakt der Politikwissenschaftler und freie Historiker Peter Schyga ein, ein ambitionierter Schüler des Neumann-Übersetzers Gert Schäfer, dessen Denkschule er sich verpflichtet fühlt und dessen Vorlesungszyklen er durch seine Edition dem Vergessen entrissen hat [Peter Schyga (Hg.), Gewalt und Politik. Studien zu Nationalsozialismus und totaler Herrschaft. Edition Gert Schäfer (2014)]. Der intensiven Beschäftigung mit der Theorie politischer Systeme (Marxismus, Sozialismus, Faschismus) in der Tradition Schäfers entspringt seine Forderung nach Schärfe in der Analyse zentraler Begriffe; für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft sieht Peter Schyga die auf das Wesentliche zielenden Erkenntnisfortschritte eher in der Vergangenheit denn im gegenwärtigen Forschungsbetrieb angesiedelt, wenn er feststellt, dass „etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler[] sich nun seit längerem und gegenwärtig oft in ihren Qualifikationsarbeiten auf(machen), die Volksgemeinschaft zu finden, ihre Akteure in ihren jeweiligen Handlungszusammenhängen sichtbar zu machen und deren Zustimmungsbereitschaft zum System Hitler beschreibend zu betonen. Dabei werden eigentlich bekannte Praktiken von Herrschaftssicherung und Zustimmungsorganisierung empirisch mit neuen Einzelheiten aufgefüllt, eine wissenschaftliche Praxis, welche die Nachfrage erlaubt, welche Erkenntnis neu gewonnen werden soll. Es stellt sich allerdings analytisch eine doppelte Frage: Kann mit solchen Verfahren tatsächlich der Sinn dessen erfasst werden, was zum Kern der spezifischen NS-Zustimmungsgemeinschaft führte? Oder muss nicht vielmehr im nicht so Offensichtlichen geschürft werden, um den tiefliegenden Gründen und Motiven, die der Floskel von der NS-Wesensgemeinschaft Auftrieb gegeben haben, sie populär haben werden lassen, auf die Spur zu kommen“ (S. 15f.). Wolle man sich der sozialpsychologischen Verfasstheit der NS-Volksgemeinschaft heute retrospektiv tatsächlich nähern, solle man sich „auf die Beobachtungen, Aussagen und auch wissenschaftlichen Untersuchungen der Zeitgenossen verlassen. […] Denn selbstverständlich handelt die Zeitgeschichtsforschung insbesondere der Zeitgenossen, handelt auch bedeutende zeitgenössische Literatur in hohem Maße von der Psychologie und Sozialpsychologie dessen, was Volksgemeinschaft genannt wird. Generationen von Forschern haben schon vieles ausgegraben und damit historische Wirklichkeit rekonstruiert, ohne das Wort Volksgemeinschaft meinen strapazieren zu müssen“ (S. 18). Analytisch decodiert, ergebe der Volksgemeinschaftsbegriff einen Kern, der zu definieren sei als „der völkisch- imperiale Zusammenschluss um eine gefühlte Rassengemeinschaft der als zugehörig definierten oder sich selbst definierenden Deutschen in Gegnerschaft zu einer Gesellschaft, wie sie in der Moderne als Zusammenschluss Gleicher zum Aufbau und der Pflege eines Gemeinwesens in diskursiver Auseinandersetzung entwickelt worden ist“ (S. 21).
Dieser Antagonismus zwischen dem Begriff der Gesellschaft und jenem der Gemeinschaft taucht in den Ausführungen des Verfassers, die sich insgesamt über drei thematische Einheiten erstrecken, immer wieder auf. Deren erste analysiert die lange Vorgeschichte der NS-Volksgemeinschaft, die zweite kreist um den Begriff der Arbeit, die dritte schließlich um Glaube und Opfer. Peter Schyga konstatiert für die Weimarer Republik einen eklatanten Mangel an gemeingesellschaftlichem Bewusstsein; selbst die SPD verinnerlichte im Zuge ihrer Volksparteiwerdung einen - zwar inhaltlich anders besetzten - Volksgemeinschaftsbegriff, ohne „die negativen, gesellschaftszerstörenden Potenziale und Dimensionen der Vorstellungen hinter diesem Begriff“ wahrzunehmen (S. 54). So bestand „Deutschland in Weimar aus einem Gemeinwesen der unterschiedlichen Gemeinschaften, ein Begriff, eine Vorstellung von Gesellschaft war höchst unterentwickelt. […] Die größte Vergemeinschaftung bildete, wenn man so will, die Arbeiterklasse. Diese hatte ihrer Vergemeinschaftung in Parteien, in Gewerkschaften, in Vereinen, in Genossenschaften fürs tägliche Leben von der Wiege bis zur Bahre materiellen und kulturellen Ausdruck verliehen. Und gerade diese Vergemeinschaftung, dieses – wenn auch politisch tief gespaltene – Auftreten als Klasse zog den Hass, den Neid der in der Weltwirtschaftskrise existentiell bedrohten oder sich bedroht fühlenden Mittelschichten auf sich“ (S. 59). Diese wiederum reagierten auf Veränderungen, indem sie solche „in aufplusternder Selbsterhöhung negiert(en)“ und sich Bewegungen zuwandten, „die dieser negativen Selbsterhöhung Selbstermächtigung verspr(a)chen. Die Verkleidung dieser Herrschaftsanmaßung nannte man in diesen Kreisen Volksgemeinschaft“ (S. 78). Was diese dem in einem „Dasein der Anomie“ gefangenen, desorientierten Massenmenschen versprach, war ein „Sehnsuchtsort“, dem die NS-Bewegung „Kontur (gab), indem sie Bindungen anbot und herstellte“ (S. 81) und die gemeinschaftliche Bestätigung von Ressentiments gewährleistete. Nach der Machtübernahme blieb angesichts der „überwältigenden Gewalt der sichtbaren und spürbaren Mehrheit“ für die meisten als Option nur mehr die Unterwerfung; um nicht als Gemeinschaftsfremder ausgeschlossen zu werden, war man „angehalten, die Pose, das Gehabe, das Gerede und Handeln der NS-Bewegung nachzuahmen“ (S. 91). Aus dem „Dazugehören-Wollen (war) nun ein Dazugehören-Müssen geworden, wollte man weiter in seiner Gewöhnlichkeit existieren.“ Ein durch Befehl und Gehorsam strukturiertes Alltagsleben gewährleistete moralische Entlastung auch für die schlimmsten Verbrechen: „Wenn man dann für das Verbrechen öffentliche Belobigung und Anerkennung erfährt, sich zudem allmählich ins Bewusstsein einredet, man tue alles für einen großen, guten und für die Gemeinschaft notwendigen Zweck, für ein außergewöhnliches Ziel im Sinne eines imaginierten, aber durch Rasse- und Geschichtsgesetze vorgegebenen und vom Führer exekutier[t]en Weltenplanes, dann bleibt von Schuldgefühl und Angst nicht mehr viel übrig. Diese permanente Selbstüberredung mündet im Glauben an ein weltenplangerechtes Tun, einem Glauben, der dann jede Tat unwidersprochen rechtfertigt“ (S. 172f.).
Die Ausführungen mögen an dieser Stelle genügen, um deutlich zu machen, wie der Verfasser, der unter seinen Gewährsleuten Max Weber, Franz Neumann und Hannah Arendt anführt, sich dem Volksgemeinschaftsbegriff annähert, der in den weiteren Kapiteln anhand der nationalsozialistischen Interpretation des Phänomens der Arbeit (in kritischer Distanz zu Hans-Ulrich Wehlers Vorstellung einer „Leistungsvolksgemeinschaft) und der ideologischen Verformung der religiösen Glaubens- und Opfertradition weiter eingekreist wird. Die Ingredienzien, die seine Studie zutage fördert, sind wohlbekannt: Eine durch Modernisierungsphänomene sich von Entwurzelung bedroht fühlende Mittelschichtsmasse, die in der Vergemeinschaftung unter einer rassistischen, Gewalt bejahenden Ideologie das Heil sucht und sich in einer Herrschaftsrealität mehr oder minder komfortabel einrichtet, der man, einmal etabliert, sich in jedem Fall nur schwer entziehen konnte. Paradoxer Weise klingt dies alles nun wirklich wenig neu, und so läuft der Verfasser Gefahr, dass seiner Arbeit genau das vorgeworfen werden könnte, was er selbst vielen heutigen, unter der Flagge des Volksgemeinschaftsgedankens segelnden Forschern vorhält, nämlich im Grunde nicht mehr als more of the same zu liefern. Da Originalität aber gar nicht sein erklärtes Ziel ist, sondern es ihm in erster Linie darum geht, rückblickend einen Kontrapunkt zu den vorherrschenden „historiografischen Gegenwartsmoden“ zu setzen, also den Fokus von der Überprüfung des (im Ergebnis in aller Regel tatsächlich vorhersehbaren) Verhaltens der „Volksgenossen“ in ihren jeweiligen Funktionen in der Volksgemeinschaft abzuwenden und wieder verstärkt auf eine tradierte, theoretisch unterfütterte Analyse der Daseinsbedingungen und des Wesens dieser Gemeinschaft selbst zu lenken, wäre eine solche Kritik sicherlich überzogen. Es darf jedenfalls davon ausgegangen werden, dass in der Debatte um den biegsamen Begriff einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und seine heuristische Tragfähigkeit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Kapfenberg Werner Augustinovic