Scherer de Mello Aleixo, Pedro, Verantwortbares Richterrecht – Eine rechtstheoretische und methodenkritische Untersuchung. Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. XIII und 308 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Vor einigen Jahren hat in Deutschland die sogenannte „Pianisten-Debatte“ zu kontroversen Äußerungen über das Verhältnis der Richter zum Gesetzesrecht geführt. In seiner umfangreichen und tiefgehenden Untersuchung nimmt nun der brasilianische Rechtsgelehrte Pedro Scherer de Mello Aleixo zur Problematik der Normsetzungsmacht der Judikative und der richterlichen Bindung an das im Wege der Gesetzgebung entstandene Recht Stellung und fragt, ob und inwieweit Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat verantwortbar sei. Bezogen ist die Arbeit insofern auf die sogenannten „civil law“-Länder mit ihren umfangreichen Kodifikationen, insbesondere auf die deutsche Rechtstradition mit ihrem Gegenüber von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Trotz umfangreicher Auseinandersetzung mit angelsächsischen Autoren steht die eigentümliche Rolle des Richterrechts im Common Law eher im Hintergrund.

 

Die Untersuchung ist im Jahr 2012 von der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen worden. Betreut wurde die Arbeit von Jörg Neuner, an dessen Lehrstuhl Scherer de Mello Aleixo zwischen 2007 und 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) sowie durch das Promotionsförderprogramms der brasilianischen Regierung (CAPES) ist das Projekt gefördert worden.

 

Nach einer prägnanten Einleitung widmet sich Scherer de Mello Aleixo zunächst einer rechtstheoretische Standortbestimmung (S. 5ff.) und analysiert die grundlegenden Kennzeichen und Anforderungen an das Recht. Ausgehend vom Verständnis des Rechts als Institution und normative Ordnung, der ein Verbindlichkeits- und Geltungsanspruch zukommt, kann Scherer de Mello Aleixo auf zwei Spannungslagen hinweisen: erstens die Allgemeinheit des Rechts im Gegensatz zur Singularität gesellschaftlicher Konflikte und zweitens die Geschichtlichkeit des Rechts im Gegensatz zur Gegenwärtigkeit gesellschaftlicher Konflikte. Deutlich hebt Scherer de Mello Aleixo hervor, die Generalität des Rechts, aufgrund derer partikulare Interessen selten oder gar nicht berücksichtigt werden, habe eine wesentliche Begrenzungsfunktion bei der Ausübung staatlicher Macht. „rule of law“ statt „rule of man“ sei als notwendige Mäßigung möglicher Willkür eines Amtsträgers zu begreifen (S. 87, 153). Zu Recht weist Scherer de Mello Aleixo ebenfalls darauf hin, dass das Leben auch das am besten konzipierte und durchdachte Gesetzesrecht überholen kann, denn das Recht enthält Vorschriften für die Zukunft, basiert aber auf Erfahrungen und Kenntnissen, die in der Vergangenheit gemacht wurden (S. 34). Insofern charakterisiert Scherer de Mello Aleixo das Recht als suboptimal, weil es sowohl Übereinschließungs- als auch Untereinschließungsfehler aufweisen kann. Als spezifisches Ziel des Rechts sieht Scherer de Mello Aleixo die Förderung von Kooperation und Effizienz sowie die Kompensierung von Rationalitäts- und Informationsdefiziten (S. 45ff.).

 

Anschließend erörtert Scherer der Mello Aleixo die Frage nach der Rolle des Richterrechts im Stufenbau der Rechtsgewinnung (S. 79ff.). Sorgfältig wird zunächst der Ausgangspunkt begründet, das Richterrecht als Rechtsquelle zu betrachten (S. 94ff.). Nicht nur im Arbeitsrecht lässt das Gesetz dem Rechtsanwender noch manches zu sagen übrig (S. 101, unter Hinweis auf Adolf Julius Merkl). So kommt zwar dem parlamentarischen Gesetzgeber im Prozess der Rechtserzeugung die Führungsrolle bzw. die Rechtsetzungsprärogative zu, ihm steht aber kein Rechtsetzungsmonopol zu (S. 106). So stellt sich hier die Frage, wie man die Aufgabe des Richters bezeichnet: als Rechtsanwendung, als Rechtsfindung, als Rechtsfortbildung oder als Rechtsetzung?

 

Scherer der Mello Aleixo stellt in einem ersten Schritt für die richterliche Tätigkeit eine Ambivalenz von Rechtsetzung und Rechtsanwendung fest (S. 106). Unter Bezug auf Adolf Julius Merkl könne vom Richterrecht als Rechtsquelle nahezu in jedem gesetzesanwendenden Urteil gesprochen werden, weil in jedem Rechtsakt sowohl rechtsvollziehende als auch rechtserzeugende Elemente vorhanden seien (S. 107). In einem zweiten Schritt beginnt Scherer de Mello Aleixo mit der selbstgestellten Aufgabe, Grundzüge einer entmystifizierenden richterlichen Rechtsgewinnung(-smethodik) zu entwerfen (S. 169ff.). Während die große Mehrheit der Alltagsereignisse vom Recht beherrscht und reguliert werde, ohne dass ein Richter ein Urteil fällt, weil die Normen von den Rechtsunterworfenen verstanden und angewandt werden, ohne eine tiefgehende juristische Interpretation vorzunehmen, sind die Richter dagegen mit den schwierigen Fällen beschäftigt, in denen kein unmittelbar subsumtionsfähiges Recht vorliegt (S. 32). So unternimmt Scherer de Mello Aleixo den Versuch einer Trennung von Rechtserkenntnis und Rechtsetzung (S. 180), betont allerdings die Schwierigkeit dieser Aufgabe, weil die rechtsgewinnungsbezogene Tätigkeit des Richters nicht vollständig mit der Bindung an rechtliche Vorgaben erfasst werden könne …, sondern in stärkerem oder geringerem Maße … rechtsproduktive Momente beinhalte (Scherer, S. 184). In jedem Rechtsgewinnungsvorgang liegt also eine Rechtsetzung im weiteren Sinne (S. 190). Insofern hat die richterliche Entscheidung ein „doppeltes Antlitz“ (S. 188), das redlicherweise terminologisch sichtbar zu machen ist (S. 188f.): „Mit der Bezeichnung bzw. terminologischen Sichtbarmachung eines Wechsels der Entscheidungsbegründungsmodalität von der Erkenntnis zur Setzung des Rechts gewinnt man die Möglichkeit, dem Richter die entsprechenden Teile der Entscheidung möglichst genau zuzurechnen, die zum ,richterlichen Rechtsetzungsantlitz‘ gehören. Dies hat zur Folge, dass Verantwortung seitens der Dritten Gewalt übernommen wird und alle anderen diesbezüglich die entsprechende Kontrolle und Kritik üben können.“ (S. 189).

 

Der dritte Schritt widmet sich somit den Bausteinen einer dualistischen Methodik richterlicher Rechtsgewinnung (S. 192-272). Scherer de Mello Aleixo argumentiert überzeugend für die subjektive Auslegung, die von dem Sinn ausgeht, den der historische Rechtsetzer angestrebt hat (S. 212). Die kritische Untersuchung der historischen, systematischen und teleologischen Auslegungsmethoden (S. 217ff.) kommt zu dem Schluss, dass richterliche (Sach-)Entscheidung stets Auslegung und Setzung des Rechts sei, in dem der Richter auf der Grundlage rechtlicher Vorgaben eine vollständig konkretisierte Rechtsnorm zu erzeugen habe (S. 257). Jeder Richterspruch stellt insofern die weitere Verfestigung oder Weiterentwicklung des Rechts dar (S. 258). Angesichts des Rechtsverweigerungsverbots und der daraus folgenden prinzipiellen Zuständigkeit des Richters ist auch die richterliche Kompetenz zur Rechtsfortbildung begründet (S. 263).

Insgesamt ist das Buch ein überzeugendes Plädoyer für die Offenlegung der jeweils rechtsanwendenden und rechtserzeugenden richterlichen Tätigkeit im Prozess der Entscheidungsbegründung und damit zugleich für die Übernahme von Verantwortung für richterliches Handeln unter rechtstaatlichen Anforderungen. Dem Verfasser ist eine tiefsinnige und präzise Untersuchung auf hohem Niveau gelungen. Jeder Jurist, besonders aber jeder Richter wird das Buch mit großem Gewinn lesen und zur Reflektion über die Methode richterlicher Urteilsfindung angeregt werden.

Steffen Schlinker, Würzburg