Rödder, Andreas, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Beck, München 2015. 494 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Die Gegenwart hat eine lange Geschichte, weil alles Geschehen von dem ersten Anfang bis zur eigentlich nur aus einem logischen Denkmoment bestehenden Gegenwart Geschichte (der Gegenwart) ist. In diesem Sinne sind bereits viele Geschichten zu unterschiedlichen Zeiten verfasst worden, die kein einzelner Mensch jemals insgesamt leben kann. Von daher ist für die meisten Gegenwärtigen eine kurze Geschichte ihrer Gegenwart besonders interessant, mit deren Hilfe sie sich und ihr Leben möglichst allgemein und überzeugend erklären können.

 

Der sie unter einem digital-markanten Zeichen versuchende, in Wissen an der Sieg 1967 geborene Verfasser wurde nach dem Studium von Geschichte und Germanistik in Bonn und Tübingen mit einer Dissertation über Stresemanns Erbe in Gestalt von Julius Curtius und der deutschen Außenpolitik zwischen 1929 und 1931 in Bonn 1995 promoviert. Bereits zuvor war er an die Universität >Stuttgart gewechselt, an der er sich im Jahre 2001  mit einer Schrift über die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846-1868) habilitierte. Seit 2005 ist er für neuste Geschichte mit dem Schwerpunkt internationale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Mainz tätig und hat dort eine bedeutende Darstellung mit dem Titel Deutschland einig Vaterland vorgelegt.

 

Das jetzige gewichtige Werk beginnt mit der rhetorischen Frage, ob eine Geschichte der Gegenwart möglich ist. Im Anschluss hieran behandelt der Verfasser in acht Abschnitten nacheinander die Welt 3.0 (digitale Revolution), die erste und zweite Globalisierung (Wirtschaft), das Ungenügen der Welt (Energiewende, Umweltbewegung, Klimawandel), die Ordnung der Dinge (Kulturschock 1973, marktradikale Modernisierungsparadigma, Gott und die Welt), zwei oder drei (Haben und Sein, Arm und reich, Migration und Integration, Alt und jung, Mann und Frau, Ost und West nach 1989), den Vater Staat (Modell Deutschland oder Problem Deutschland), Neues vom alten Europa (von Athen nach Brüssel? einschließlich der Euro-Schuldenkrise) sowie Weltpolitik und Weltgesellschaft mit der zugespitzten Frage, wer die Welt regiert. Im Ergebnis der vielfältigen, souverän vorgetragenen Überlegungen kommt es auch in der Geschichte der Gegenwart fast immer anders als gedacht und schafft, was immer der Mensch auch tut, unvorhergesehene Folgen.

 

Dessenungeachtet plädiert der Verfasser am Ende seines eigenen Abenteuers uneingeschränkt für Offenheit, weil nur der Mensch, der offen dafür ist, dass alles auch ganz anders sein mag als gedacht, die Chancen des Unvorhergesehenen nutzen kann. Weil nach dem Verfasser so Kolumbus nach Amerika gelangte und Teebeutel und Penicillin erfunden wurden, befreit in der Verbindung neuer Ideen mit dem Sinn für die Wirklichkeiten auch die Geschichte der Gegenwart vor Angst vor der Zukunft. Der Markt hat diese optimistische Zuversicht bereits durch den Absatz der ersten Auflage honoriert.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler