Rechtshandschriften des deutschen Mittelalters – Produktionsorte und Importwege, hg. v. Carmassi, Patrizia/Drossbach, Gisela (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 29). Harrassowitz, Wiesbaden 2015. 415 S., 39 Abb. schwarz-weiß, 1 Tab. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Schon lange geht die rechtshistorische und kodikologische Untersuchung von in Handschriften überlieferten Textzeugnissen aus. Die durch neue technische Entwicklung ermöglichten Speichertechniken und Recherchetechniken eröffnen neue Horizonte, so dass Fragen der Produktion, Distribution und Rezeption mittelalterlicher, besonders juristischer Handschriften mit der Erwartung neuer Erkenntnisse bearbeitet werden können. Der Tagungsband über ein Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel vom 27. bis 29. Juni 2011 zu diesen Aspekten bei vorwiegend lateinischen Handschriften versammelt 15 Vorträge, die während der Tagung gehalten worden sind. Die Tagung war in vier Sektionen gegliedert, dieser Gliederung folgt der Band.

 

Sektion 1 behandelte die Rechtskultur im Hoch- und Spätmittelalter. Gero Dolezalek (S. 21-38) präsentierte neben einer Bestandsgeschichte der einzelnen Sammlungen Statistiken, die er aus Arbeiten in der Biblioteca Apostolica Vaticana, die er als Lieferant europäischer Durchschnittswerte betrachtet, in der Universitätsbibliothek Leipzig, die er als Lieferant regionaler sächsischer Durchschnittswerte ansieht, und in der Universitätsbibliothek Halle, wo sich heute viele Handschriften befinden, die ehemals in Halberstadt oder in Magdeburg waren, gewonnen hat. Aus seiner seit gut 40 Jahren gesammelten Erfahrung gibt er wertvolle Hinweise zur Vorgehensweise bei Zählungen und Auswertungen, die einzelne Überlieferungszeugen, nicht komplette Handschriften, beachten müssen. Schwierig ist es, die gefundenen Anteile des kanonischen Rechts, des zivilen (römischen) Rechts, der Texte aus verschiedenen Rechtsgebieten und des einheimischen Rechts zu gewichten. Den größten Anteil haben Texte des kanonischen Rechts, seltener sind die römisch-kanonisch gemischten Texte und am geringsten sind die einheimischen Rechte vertreten. Alle diese Angaben müssen vor dem Hintergrund der Bestandsentwicklung gesehen werden, der sehr zufallsbestimmt war. Michael Embach (S. 39-69) stellte als regionales Vergleichsgebiet das Erzbistum Trier vor, in dem es verschiedene Bibliotheken mit reicher juristischer Literatur gab. Erhalten sind besonders Handschriften der Benediktinerabtei St. Mathias, dem Stift St. Simeon und der alten Universität, von denen nicht wenige durch Kanoniker von ihren Studien in Oberitalien mitgebracht worden waren. Bertram Lesser (S. 71-105) widmet sich der Bücher- und Handschriftensammlung des Braunschweiger Stadtschreibers Gerwin von Hameln, der seine reichhaltige Sammlung der Stadt Braunschweig hinterließ, in der sie leider nur noch zu geringen Teilen erhalten ist. Für die eingetretenen Verluste war zu einem geringen Teil die Stadt verantwortlich, im Übrigen wohl eher eine Klausel der Stiftungsregel, die Verwandten Entleihungen ermöglichte. Die Einzelheiten der Handschriftenwanderung nach Braunschweig kann der Verfasser leider mangels Anhaltspunkten in den codices nicht nachweisen. Vincenzo Colli (S. 107-134) betrachtet die juristischen Inkunabeln, die aus der Bibliothek des Domstifts Halberstadt nach 1827 an die Universitätsbibliothek Halle kamen. Unter Heranziehung einer Übergabeliste, die um 1811 erstellt wurde, kann für 65 Hallenser Exemplare die Herkunft aus Halberstadt belegt werden. Der Beitrag belegt, dass schon bei der Erstellung des Inkunabelkatalogs in der Universitätsbibliothek Halle die Ermittlung etwaiger Belege zu der Herkunft zu wenig Aufmerksamkeit erfuhr. Im angeblichen Interesse einer kostengünstigen Erfassung von Beständen wird eine aufwendige Doppelarbeit verursacht. Die Druckorte liegen für 36 Inkunabeln in Italien und für 29 Exemplare in Deutschland, während ein Werk aus Frankreich kam. Abgesehen von einigen Ausgaben der Corpora iuris aus Venedig handelte es sich vorwiegend um kanonistische Kommentarwerke verschiedener Epochen. Ohne größere Schwierigkeiten wäre es dem Verfasser wohl möglich gewesen, auch die Nummern des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke neben der ISTC-Nummer anzugeben, die zu einer qualifizierten Informationsquelle geführt hätten. Colli belegt an Beispielen, dass zahlreiche Autoren und Werke aus früheren Jahrhunderten nicht gedruckt wurden, so dass sie vom Buchmarkt der Moderne (etwa ab 1480) ausgeschlossen waren.

 

Sektion 2, Transferbewegungen und Schulen, wird eröffnet mit einem Beitrag von Peter Landaus (S. 137-146). Anhand der aus Halberstadt stammenden Hallenser Handschrift Ye 2° 52 zeigt er auf, dass Johannes Teutonicus, der wahrscheinlich mit dem Halberstädter Domprobst Johannes Zemeke identifiziert werden kann, sich während seiner Halberstädter Jahre ab 1220 aus Paris Werke der französischen Dekretistik kommen ließ. Die kleine Studie ist ein interessanter Beleg für den mittelalterlichen Wissenstransfer in die „Provinz“. Ebendieser Handschrift gilt Tatsushi Genkas (S. 147-165) Beitrag zur örtlichen Herkunft und Analyse der Summa Permissio quedam. Diese beiden sehr spezialisierten Studien zeigen mögliche Wege für Handschriften nach Halberstadt auf, sind jedoch mit nicht geringen Unsicherheiten verbunden. Patrizia Carmassi (S. 167-188) bringt aus verschiedenen Handschriften Belege zur Personenidentität von Johannes Teutonicus und Johannes Zemeke. Die detaillierte Auswertung einzelner Handschriften des Halberstädter Domschatzes, der Staatsbibliothek zu Berlin und des Historischen Archivs der Stadt Köln zeigt, dass eine eingehende Berücksichtigung des theologischen Inhaltes der Werke Zemekes und der Werke, mit denen er sicher in Kontakt gekommen ist, zu überaus wichtigen Erkenntnissen führt. Gisela Drossbach (S. 189-208) wendet sich zwei Dekretalensammlungen zu (Halle ULB Ye 2° 80 und München BSB Clm 8302), die eine weitgehend ähnliche Vorlage haben, jedoch keinesfalls dieselbe. Die Entstehung zeigt, dass sich die Sammlung auf bei ihrer Zusammenstellung bislang nicht zugängliche Dekretalen und das damals aktuellste Dekretalenmaterial stützen konnte. Unrichtig ist es, das Wettiner Zisterzienserkloster Altzelle für die Jahre um 1200 als ein Thüringer Kloster (S. 202) zu bezeichnen. So bedeutsam die Arbeiten dieser Sektion für die kanonistische Textgeschichte sein mögen, so schwer ist ein Zusammenhang zum Leitthema des Arbeitsgesprächs zu finden.

 

In der Sektion 3 ,Autoren, Werke und Überlieferungen‘ beschreibt Abigail Firey (S. 211-243) die Wolfenbütteler Handschrift Cod. Guelf. 1062 Helmst., die römisches Recht enthält und vor 994/996 geschrieben wurde. Die sorgfältige Analyse zeigt, dass es im 10. Jahrhundert, entgegen mancherorts geäußerter Ansichten, eine qualifizierte juristische Kultur gab. Eine sorgfältige Beschreibung des Inhalts (S. 228-243) beschließt den Beitrag. Zur Bibliotheksheimat der Handschrift, etwa der Harzgegend, sind keine Angaben ersichtlich. Danica Summerlin (S. 245-260) untersucht die Aufnahme der Beschlüsse des Konzils von 1179 (III. Laterankonzil) in zeitgenössische Handschriften, die sie zwar nicht einzeln nennt, die aber wohl den Sachkennern geläufig sind. Dadurch sind auch hier keine besonderen Bezüge zum Thema des Arbeitsgespräches ersichtlich. Susanne Lepsius (S. 261-283) wendet sich den Bartolus-Handschriften aus Halberstädter Besitz als exemplarischen Beispielen für juristische Leserinteressen im Spätmittelalter zu. Dazu wertet sie die Hallenser Handschriften Ye 2° 68 und Ye 4° 4 aus, die aus dem Halberstädter Kollegiatstift Unserer Lieben Frauen an die Bibliothek kamen. Die zweite Handschrift ist möglicherweise in Rostock entstanden und wurde nicht, wie viele andere Handschriften mit Bartolus-Texten, aus Italien von einem Studienaufenthalt mitgebracht. Die Handschriften sind typisch für die Überlieferungswege und Überlieferungskontexte von Bartolus-Texten im Spätmittelalter nördlich der Alpen. Erfrischend aufrichtig behandelt Martin Bertram (S. 285-302) Aspekte der Handschriftenbeschreibung hinsichtlich der angegebenen Datierungen, der Klassifizierung von Schriftarten und den Versuchen zur Lokalisierung. Seine ‚Überlegungen zu einem qualifizierten Überlieferungsbild der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra)‘ zeigen die Schwierigkeiten auf, die sich bei der Bearbeitung eines größeren Textbestandes von Handschriften ergibt, die über zahlreiche Bibliotheken verteilt sind. Der Autor macht deutlich, dass über die Unterscheidung nach vollständigen Handschriften, Teilabschriften, Fragmenten und verlorenen Handschriften der Versuch zu machen ist, größere Bestände eines überlieferten Textes in einer Bibliothek auszuwerten. Schon bei 700 vollständigen Dekretalenhandschriften sind die Arbeiten zu einem Bestandsüberblick erheblich. Erst dann ist der Versuch zu wagen, von der Überlieferung zur Produktion zu kommen.

 

In der Sektion 4 ‚Mediale Aspekte der Überlieferung‘ handelt Susan L’Engle (S. 305-319) von dem Handschriftenerwerb von Studenten der juristischen Fakultäten in Padua und Bologna vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Grundlage ihrer Arbeit sind acht Handschriften in Halle und einige Handschriften in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Universitätsbibliothek in Basel und aus dem ehemals Peutingerschen Besitz, die heute im Bestand Harley der British Library in London aufbewahrt werden. Anhand dieser relativ geringen Anzahl von Handschriften beschränkt die Verfasserin ihre Aussagen zum Handschriftenhandel und der Handschriftenwanderung. Ein Konzept zu einem weitergehenden Projekt entwirft die Autorin nicht. Susanne Wittekind (S. 321-362) stellt in ihrer Untersuchung zu ‚Besitz und Überlieferung illustrierter Rechtshandschriften in Katalonien‘ einige Illustrationen aus diesen Handschriften vor. Für die Region Katalonien sind der Untersuchung interessante Ergebnisse zu entnehmen. Ein Bezug zum Thema des Arbeitsgespräches ist nicht zu erkennen. Letzter Beitrag der Sektion ist John C. Weis Studie über ‚Gratian’s Decretum in France and Halberstadt‘ (S. 363-383), die den Weg zweier Hallenser Handschriften von Paris nach Halberstadt nachzeichnet. Sieben Farbabbildungen zu einzelnen Vorträgen runden die Beiträge ab (S. 385-391).

 

Der Band wird durch Personen-, Orts- und Handschriftenregister erschlossen, wobei im Handschriftenregister leider nicht alle Handschriftenabbildungen (z. B. S. 76, 347) berück-sichtigt sind. Die gesonderten Bezeichnungen (S. 410) der Berliner Handschriften ‚Staatsbibliothek lat. q. 193‘ und ‚West lat. 2° 170‘ stammen aus der Zeit vor 1991 und hätten im Text und Register eine aktualisierende Anpassung verdient. Die früher in Halle befindlichen Handschriften der Stolberg-Wernigerodischen Sammlung (S. 411) wurden im November 2013 restituiert und sind jetzt als Familienbesitz der Fürsten von Stolberg-Wernigerode in Hirzenhain (Hessen) zu betrachten.

 

Neu-Ulm                                                                                                       Ulrich-Dieter Oppitz