Pyta, Wolfram, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Siedler, München 2015. 846 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der in Braunau am Inn am 20. April 1889 als Sohn eines unehelich geborenen Zollamtsoberoffizials (Alois Schickelgruber, 1876 wegen einer erwarteten Erbschaft umbenannt) geborene, sich in Berlin am 30. April 1945 tötende Adolf Hitler ist wegen der von ihm zu verantwortenden zahlreichen Tötungen weltweit einer der bekanntesten Deutschen. Über sein Leben und dessen rechtswidrige Folgen sind bereits viele Abhandlungen erschienen. Dessenungeachtet sind immer noch zusätzliche Erklärungsversuche möglich, von denen der vorliegende von Hitler als Künstler ausgeht.

 

Sein in Dortmund 1960 geborener Verfasser war nach dem Studium in Bonn und Köln und der 1987 unter dem Titel Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der nationalsozialistischen Bewegung in der Weimarer Republik vorgelegten Dissertation Assistent bei Eberhard Kolb an der Universität Köln und wurde 1994 mit einer Schrift über Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933 habilitiert. Nach Lehraufträgen in Tübingen und Bonn und einer Förderung als Heisenbergstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde er als Professor für neuere Geschichte an das historische Institut der Universität Stuttgart berufen. Seit 2001 ist der auch durch eine Biographie Paul von Hindenburgs (Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler) sowie Studien zum Siegeszug der Bundesliga in Deutschland und zur Geschichte des Fußballs in Deutschland und Europa seit 1954 hervorgetretene Gelehrte Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg, die zusammen mit der Außenstelle Ludwigsburg des Bundesarchivs die Unterlagen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen zur Verfügung halten, sichern und für die Forschung erschließen soll.

 

Nach der abschließenden Danksagung ist das vorliegende Werk die Frucht einer siebenjährigen, immer wieder unterbrochenen Forschungstätigkeit in selbstgewählter Einsamkeit einer Arbeitshöhle ohne Zuarbeiten drittmittelfinanzierter Projektmitarbeiter. Nach den Worten des Autors gewann es durch freundschaftlichen Zuspruch vieler Freunde und Kollegen aus einem breiten geisteswissenschaftlichen Umfeld. Gewidmet ist es den seit den allerersten Anfängen begleitenden Inspiratoren Hans-Ulrich Wehler und Horst Thomé, denen es nicht bedauerlicherweise nicht mehr vergönnt war, das gewichtige Ergebnis in den Händen zu halten.

 

Gegliedert ist es in zwei Teile mit insgesamt 24 Kapiteln. Davon legt der erste Teil den Grund für die These des Verfassers, dass Hitler zunächst als Künstler heranwuchs und sein Verhalten als Politiker und Feldherr in erster Linie auf Grund dieser ursprünglichen Sozialisation zu verstehen ist. Der zweite Teil verfolgt danach Hitlers Handeln von der Erringung der Feldherrnschaft bis zum Vergleich Hitlers mit dem Schattenmann Friedrich der Große am Ende.

 

Im ersten Teil behandelt der Verfasser in neun Kapiteln Hitlers Kunstverständnis, Wagners Werk als Vorlage, den Theaterarchitekten, Hitlers Künstlerexistenz ohne jede bis dahin erkennbare antisemitische Neigung, den Übergang zum Politiker, den Redekünstler, die Genese und Funktion des ziemlich isolierten Schriftwerks Mein Kampf sowie das Verhältnis von Charisma und ergänzendem Genie. Dabei findet der Verfasser zwar keine unmittelbaren und unverfälschten Äußerungen Hitlers aus der frühen Zeit, die belegen, dass er schon damals den politischen Transfer seiner durch performativen Mitvollzug gewonnenen Erkenntnisse plante, geht aber ansprechend doch davon aus, dass ein in Wien bild- und raumkünstlerisch derart sensibilisierter Zwanzigjähriger bei dem Betreten der politischen Bühne in München als Dreißigjähriger günstige politische Startbedingungen in einer Zeit vorfand, in der es mehr als je darauf ankam, das Volk (?) auf performative Weise zu umwerben und politische Veranstaltungen in einen atmosphärisch aufgeladenen Erlebnisraum zu transferieren, weshalb er in der Entscheidung Hitlers für die Architektur auch keinen politisch unschuldigen Akt sieht, sondern einen Vorgriff auf die Aktivierung eines schlummernden politischen Potenzials. Umgekehrt findet er nach nüchternem Studium der wenigen verlässlichen Quellen im Gegensatz zu den  für das Wiener Männerwohnheim nachweisbaren Vorbehalten Hitlers gegen den politischen Katholizismus und gegen die Sozialdemokratie keinerlei Hinweis auf eine geschlossene antisemitische Weltanschauung während der ersten 24 Lebensjahre (vor der Zugriffsmöglichkeit auf das väterliche Erbe) oder eine unter anderen Deutsch-Österreichern verbreitete judenkritische Haltung, so dass er mit Thomas Weber davon ausgeht, dass Hitler ohne eine feste politische Orientierung in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg entlassen wurde, in der er allerdings auf Anforderung des ihm vorgesetzten Hauptmanns Karl Mayr  im Lager Lechfeld auf der Grundlage einer von einem Reichswehroffizier kurz vorher autorisierten Sprachregelung nach dem 12. September 1919 binnen sechser Tage (Antwort Mayrs an den Fragesteller vom 17. September 1919) eine vierseitige Ausarbeitung zu einer Frage eines in den Juden eine nationale Gefahr sehenden Schulungsteilnehmers (Adolf Gemlich) erstellte, die sich (möglicherweise aus Opportunismus) im Arsenal des Antisemitismus umfänglich bediente, keine abträgliche Qualifizierung des Judentums ausließ und im Ergebnis die Entfernung der Juden überhaupt empfahl..

 

In der Folge fiel Hitler nicht so sehr durch das, was er sagte, auf, sondern vor allem durch die Art wie er es sagte, wobei der Verfasser davon ausgeht, dass die Stimme Hitlers wichtigstes Alleinstellungsmerkmal war, das nicht übertüncht und kosmetische verändert werden konnte, weil es gewissermaßen der vokale Fingerabdruck des Stimmproduzenten ist oder sein soll. Dementsprechend war es nach dem Verfasser zunächst Hitlers nackte Stimme, die große Versammlungsräume füllen musste. Mit ihr brachte er seinen Körper performativ zur Geltung. ohne seinen Körper wie Mussolini oder Mao darzubieten.

 

Wenig später geht der Verfasser allerdings davon aus, dass Hitler die Wirkung seiner Stimme immer stärker durch eine hier und da aus dem Ruder zu laufende Gestik zu unterstreichen suchte. Zusätzlich weist er darauf hin, dass von April bis November 1932 der Sänger Paul Stieber-Walter (Paul Devrient) als Sprecherzieher Hitlers tätig wurde. Im Ergebnis konnte dabei der Lehrer feststellen, dass das Wort und das Spiel Hitlers durch die altbewährten Regeln des Theaters in ihrer Wirkung ungemein gesteigert wurden.

 

Auf dieser Grundlage beschreibt der Verfasser Genese und Funktion von Hitlers einzigem großem Text Mein Kampf. Im Anschluss hieran widmet er sich dem Charisma. Dabei ordnet er Genie als Ergänzung zu Charisma ein.

 

Der zweite Teil beginnt mit dem Weg zur Feldherrschaft, in die Hitler nach Ansicht des Verfassers erst allmählich hineinwuchs. in der aber nach der Gewinnung der militärische Genieanspruch etabliert werden konnte. In seinem, bei nüchterner Betrachtung der Größe aller allmählich gesammelten Gegner nie zu gewinnenden Krieg setzt Hitler dann auf entkörperlichte Kriegsführung und lässt sich durch den Raum zur Absage an den Bewegungskrieg verführen, obwohl ihm Napoleons Niederlage deutlich vor Augen stand. Im Halten um jeden Preis widersetzt er sich der Generalstabsexpertise und erzwingt die Niederlage von Stalingrad.

 

Danach verdrängt der Krieg die Politik, versteht sich Hitler als Architekt der Festung Europa, kann aber trotz kleinerer zwischenzeitlicher Erfolge den Verfall seiner bisherigen Genialität nicht mehr aufhalten. Immer rascher ersetzt er früher anerkannte Fachleute durch fanatische Kämpfer um jeden Preis. Am Ende bleibt dem mehr und mehr schwächelnden und kränkelnden, die Öffentlichkeit meidenden „größten Führer aller Zeiten“ nur noch die Flucht in den Tod.

 

Insgesamt bietet der Verfasser auf diesem langen Weg nicht nur eine gekonnte Zusammenschau der umfangreichen bisherigen, durch zahlreiche Fußnoten am Ende sowie Bibliographie abgesicherten Forschungsergebnisse, sondern auch eine durchaus neue eigenständige, mittels eines Personenregisters von Adenauer bis Zoller aufgeschlossene Sicht. Dabei kommt dem Künstler gegenüber dem die große Mehrzahl deutscher Männer und Frauen lange Zeit hinter sich bringenden Massenmörder sehr großes Gewicht zu. Dessenungeachtet sind dem spannend geschriebenen, Vernichtung und Kunst zu verbinden versuchenden, „Subordiantion“ und „Damöniekonzept“ einschließenden Werk viele Leser zu wünschen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler