Praus, Angelika, Das Ende einer Ausnahme. Frankreich und die Zeitenwende 1989/1990. Tectum Verlag, Marburg 2014. 556 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Die am Niederrhein 258 n. Chr. erstmals sichtbaren Franken haben seit der Völkerwanderung vor allem unter Chlodwig und Karl dem Großen zwischen Atlantik, Elbe, Nordsee und Italien allmählich ein großes Reich errichtet, das sie im neunten Jahrhundert in einen westlichen, zunehmend französischen Teil und einen östlichen deutschsprachigen Teil gliederten. Insofern ist nicht nur Karl der Große zugleich Charlemagne, sondern entstammen Deutschland und Frankreich der gleichen früheren politischen Einheit. Wie in einer Familie unter Geschwistern entwickeln auch verwandte Völker oder Staaten vielfach unterschiedliche Interessen und Zielsetzungen.
Mit dem bedeutenden und interessanten Teilbereich der Deutschlandpolitik des französischen Staatspräsidenten François Mitterand in den Jahren 1989 und 1990 beschäftigt sich die vorliegende, 2013 von der Universität Bonn als Dissertation angenommene, keine neuen Quellen auswertende, aber neue Sichtweisen bietende umfangreiche Untersuchung der Verfasserin. In ihrem Mittelpunkt steht der in Jarnac/Charente 1916 als fünftes von sieben Kindern eines Eisenbahnbediensteten und späteren Fabrikanten geborene, in Angoulême schulisch und in Paris an der Sorbonne bis 1939 in Recht und Literaturwissenschaft ausgebildete Mitterand, der anfangs nationalistischen Ansichten zuneigte. Nach Verwundung im Mai 1940, Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Flucht, Arbeit für das Vichy-Regime, Widerstand, Flucht nach London, Zusammenarbeit mit Charles de Gaulle, erneuter Gefangennahme in Deutschland und Befreiung wurde er 1946 sozialistischer Abgeordneter, danach Minister und 1981 vierter, 1988 wiedergewählter Präsident der fünften Republik Frankreichs.
Wenn er Deutscher wäre, so versicherte er Bundeskanzler Helmut Kohl am 4. Januar 1990, wäre er für die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik, aber er sei Franzose. Nach sorgfältiger Durchmusterung der weit zurückreichenden Vorstellung von der französischen Ausnahme in er europäischen und globalen Geschichte stuft die Verfasserin Mitterand als rückwärtsgewandten Fatalisten ein, der sich erst nach den Wahlen zur Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik im März 1990 in das den weiteren Schwund einer Ausnahmestellung verstärkende Ungewollte fügte. Dies war zwar nach der Vorgeschichte kaum wirklich überraschend, aber dem Abbau mentaler Vorbehalte in Europa auch nicht sehr dienlich, wie sich dies selbst in Familien eben immer wieder ereignet.
Innsbruck Gerhard Köbler