Piketty, Thomas, Die Schlacht um den Euro. Interventionen. Beck, München 2015. 175 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit Thomas Piketty haben die Wirtschaftswissenschaften wieder so etwas wie einen Star. Die Übersetzungen seiner 2013 in französischer Sprache erschienenen, gewichtigen Schrift „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2014), deren Titel sich nicht von ungefähr an das Hauptwerk von Karl Marx anlehnt, konnten höchstes Lob – so von Nobelpreisträger Paul Krugman – ernten und binnen kürzester Zeit den Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten schaffen. Daraus können zumindest zwei Schlüsse gezogen werden: Erstens scheint die Frage einer gerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen das Lesepublikum, also vor allem die breite Schicht des gebildeten Mittelstandes, verstärkt zu beschäftigen, und zweitens dürfte es dem Verfasser gelungen sein, seine Thesen so zu kleiden, dass auch Laien in Sachen Wirtschaft ihnen gedanklich zu folgen vermögen. Der 1971 geborene, eigenwillige Franzose (er soll unlängst seine Nominierung für die Ehrenlegion abgelehnt haben), der früh promoviert wurde und heute sowohl an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) als auch an der Paris School of Economics lehrt, interpretiert die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft, sein Ansatz wurde als „sozialdemokratisch-popperianische Anthropologie des Kapitals“ beschrieben. Gestützt auf empirisches Datenmaterial (seit 2011 ist seine „World Top Income Database“ online unter www.paris-schoolofeconomics.eu/topincomes/ abrufbar), beschreibt sein „Kapital im 21. Jahrhundert“ den Trend zu einer weiter zunehmenden Konzentration der Vermögen, sodass das Wirtschaftswachstum und die Einkommen nicht mehr mit den Kapitalrenditen Schritt zu halten imstande seien. Damit zeichne sich auch der Übergang von einer leistungsorientierten zu einer erborientierten Gesellschaft ab. Die Politik sei gefragt, den mit dieser Entwicklung verbundenen Gefahren einer stagnierenden Wirtschaft und der Bedrohung der Demokratie mit geeigneten Maßnahmen – etwa durch progressivere Besteuerung der höchsten Einkommen und die Einführung globaler Vermögenssteuern – beizukommen.

 

Wer intensiver in die Gedankenwelt des Thomas Piketty eintauchen möchte, dem gibt die nun vorliegende „Schlacht um den Euro“ geeignetes Material an die Hand. Das Buch versammelt nach einer zusammenfassenden Einleitung unredigiert insgesamt vierzig sogenannte Interventionen im durchschnittlichen Umfang von drei Druckseiten, die der Verfasser in den Jahren der Finanz- und Eurokrise zwischen 2008 und 2015 in der Zeitung „Libération“ zu tagesaktuellen Themen veröffentlicht hat. Darin trete vor allem eine Frage in den Vordergrund: „Wird die Europäische Union den Hoffnungen gerecht werden, die so viele von uns in sie gesetzt haben? Wird es ihr gelingen, zu jener Macht und zu jenem Raum demokratischer Souveränität zu werden, die es braucht, um die Kontrolle über einen außer Rand und Band geratenen Kapitalismus zurückzugewinnen? Oder wird sie einmal mehr nur das technokratische Instrument der Deregulierung sein, des verallgemeinerten Wettbewerbs und des Kniefalls der Staaten vor den Märkten?“ (S. 9f.). Das Rezept, das der Verfasser zur Bewältigung der aktuellen Probleme anbietet, ist unmissverständlich: „Wir müssen auf dem Weg zu einer politischen Union und den Vereinigten Staaten von Europa einen gewaltigen Schritt nach vorn tun. Andernfalls wird man früher oder später mit einem gewaltigen Schritt zurück liebäugeln, nämlich mit der Abschaffung des Euro. Die einfachste Lösung wäre es, dem Europäischen Parlament endlich wirkliche Haushaltsbefugnisse einzuräumen. […] Eine andere Lösung […] bestünde darin, eine Art ‚Europäischen Haushaltssenat‘ zu schaffen, in dem Abgeordnete der Finanz- und Sozialausschüsse derjenigen nationalen Parlamente vertreten sein müssten, deren Länder zu einer Vergemeinschaftung ihrer Schulden bereit wären [, und der] seine Beschlüsse durch Mehrheitsentscheidung träfe – in öffentlichen, transparenten und demokratischen Debatten. Darin liegt die große Differenz zum Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, das zur Erhaltung des Status quo und zur Tatenlosigkeit neigt“ (S. 20). Eine solche demokratische Reform würde die Europäische Union stärken und die Einführung von Eurobonds ermöglichen, um der unheilvollen Spekulation auf die 17 Zinssätze der Eurozone endlich die Grundlage zu entziehen.

 

Die Interventionen des Thomas Piketty lesen sich flüssig und hängen sich an Fragen und Feststellungen auf, die einer Alltagskonversation über aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklungen entnommen sein könnten. „Soll man die Banker retten?“ (S. 25ff.), Soll man die Mehrwertsteuer senken? (S. 33ff.), „Wer wird von der Krise profitieren?“ (S. 58ff.) oder „Kann Wachstum uns retten?“ (S. 149ff.) lauten einige seiner plakativen Fragestellungen, und beschwörend appelliert er an anderer Stelle unter „Jetzt handeln!“ (S. 129ff.) für die umgehende Einführung einer progressiven Allgemeinen Sozialabgabe in Frankreich und in „An die Urnen, Bürger! (S. 161ff.) für eine rege Teilnahme an den Europawahlen, um den Sozialdemokraten Martin Schulz gegen den Konservativen Jean-Claude Juncker in das Amt des Kommissionspräsidenten zu bringen – was, wie wir mittlerweile wissen, nicht gelungen ist. Der Beitrag „Nein, die Griechen sind nicht faul“ (S. 66ff.) widerspricht gängigen Klischees und erklärt dem Leser das griechische Debakel aus funktionalen Mechanismen des Kapitalismus. Viele Artikel sprechen die Mittel an, die nach Pikettys Ansicht eine Reduktion der ungesunden Wirkungen des Kapitalismus versprechen, so „Die Rolle der Zentralbanken überdenken“ (S. 72ff.), „Bausteine einer unaufgeregten Debatte über die Vermögenssteuer“ (S. 78ff.) und „Für eine europäische Vermögenssteuer“ (S. 141ff.), „Für eine (schnelle) Neubestimmung des europäischen Projekts“ (S. 103ff.) und „Die Krise überwinden – in einem anderen Europa“ (S. 145ff.), „Die einzige Lösung: Der Föderalismus“ sowie „Welcher Föderalismus – und wozu?“ (S. 121ff.). Auch wenn man die Positionen Thomas Pikettys nicht oder nicht in allen Einzelheiten teilt, vermittelt die Lektüre seiner Texte einen allgemein verständlichen und vielsagenden Einblick in die Funktionsweise des modernen Kapitalismus und in das Ringen um den Primat zwischen einer entgrenzten liberalen Finanzwirtschaft und einer ihrer Kontrollfunktion weitgehend entkleideten, sich den lebensnotwendigen inneren demokratischen Reformen widersetzenden und zunehmend handlungsunfähigen europäischen Politik.

 

Der letzte Beitrag des Bandes stammt vom Jahreswechsel 2014/15 und fragt in seinem Titel prophetisch: „Was muss noch passieren, damit sich Europa bewegt?“ (S. 172ff.). Als bedrückendstes Element der europäischen Krise benennt der Verfasser nämlich „die Verbohrtheit, mit der die Führung Europas ihre Politik als die einzig mögliche darstellt“. Er erinnert daran, dass Deutschland und Frankreich 1945 jeweils Staatsschulden von 200 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) auswiesen, deren Abbau sie zum einen der Inflation, zum anderen aber schlichtweg der Nichterfüllung ihrer Verbindlichkeiten verdanken. „Hätten sie versucht, Jahr für Jahr Haushaltsüberschüsse von 1-2 % zu erzielen, säßen sie nicht allein heute noch auf ihren Schulden, sondern es wäre […] auch sehr viel schwerer gefallen, in Wachstum zu investieren“. Nun seien es „just diese beiden Länder, die seit 2010/11 den südeuropäischen Ländern erklären, ihre Schulden müssten bis auf den letzten Euro beglichen werden“ – laut Piketty ein „kurzsichtig(er) Egoismus“ (vergleiche dazu auch seine Intervention S. 133ff.: „Merkollande und die Eurozone – ein kurzsichtiger Egoismus“). 2015 könnte diese starre Front durch drei mögliche Erschütterungen aufgebrochen werden: durch eine neue Finanzkrise oder einen entweder von der Linken oder der Rechten ausgehenden politischen Schock. Da die politischen Bewegungen am linken Rand im Gegensatz zur Rechten „zutiefst internationalistisch und proeuropäisch“ seien, sei von den genannten Optionen die Zusammenarbeit mit ihnen die „mit Abstand beste (Möglichkeit)“, um eine Demokratisierung der Europäischen Union voranzutreiben. Im Licht der Tatsache, dass das erste Halbjahr 2015 in Kürze bereits wieder Vergangenheit sein wird, ohne dass bislang in der Griechenland-Krise substantielle Fortschritte sichtbar werden, steht leider zu vermuten, dass einer Verwirklichung dieser Wunschoption des Verfassers weit weniger Wahrscheinlichkeit zukommen dürfte als dem Eintreten einer der beiden als durchaus bedrohlich eingestuften Alternativen.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic