Peter, Matthias, Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975-1983. Die Umkehrung der Diplomatie (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 105). De Gruyter, Berlin 2015. XII, 591 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Individualität des Menschen und der von ihm gebildeten Staaten hat im Ergebnis auch die Politik zur Folge. In ihr versucht jeder Teilnehmer die Verwirklichung der von ihm angestrebten Interessen. Dabei stehen sich vor allem die Gewalt einerseits und friedliche Mittel andererseits gegenüber, wobei die friedlichen Mittel grundsätzlich Kompromisse und Einverständnisse der Beteiligten voraussetzen, aber Blutvergießen vermeiden, wofür sich die nach längeren Vorbereitungen vom 30. Juli 1975 bis zum 1. August 1975 in Helsinki währende Konferenz der 35 Außenminister europäischer Staaten und der Vereinigten Staaten und Kanadas über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki mit ihren Nachfolgekonferenzen in Belgrad und Madrid sowie anderswo als anschauliches Beispiel anbietet.
Der sich mit ihr beschäftigende, 1958 geborene, nach dem Studium der Geschichtswissenschaft, Philosophie und Germanistik in Gießen 1992 promovierte, seit 1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München-Berlin in der Abteilung im Auswärtigen Amt tätige Verfasser untersucht diesen anfangs wenig Erfolg versprechenden, im Laufe der Zeit aber politisch wohl doch sehr bedeutsamen Vorgang in Bezug auf die Teilnahme der Bundesrepublik. Seine umfangreiche Untersuchung gliedert sich nach einer Einleitung über Forschungsstand, Methodik, Fragestellung, Periodisierung, Quellen und Begriffe und einem kurzen Prolog zum 9. Mai 1975 in sechs Abschnitte. Sie betreffen die Rahmenbedingungen (Akteure und Handlungsebenen, Abstimmungsprozess), den Weg von der europäischen Sicherheitskonferenz zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1954/1955-1975) einschließlich der Schlussakte, das Implementieren der Schlussakte zwischen 1975 und 1977, das Folgetreffen in Belgrad im Zeichen der Menschenrechte (1977/1978), den Primat der Sicherheit zwischen 1978 und 1980 und das zweite Folgetreffen in Madrid (1980-1983).
Inhaltlich beruht das Werk vor allem auf einer systematischen und möglichst vollständigen Auswertung der Akten des Auswärtigen Amts, die das Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Auswärtigen Amtes seit 1990 entlang der gesetzlichen Dreißigjahresfrist herausgibt, die durch andere Bestände und Interviews etwa mit Hans-Dietrich Genscher ergänzt sind. Obwohl die Schlussakte vom 1. August 1975 nur als bloße Absichtserklärung wirken sollte, entwickelte die Bundesrepublik Deutschland als Mittelmacht und geteilte Nation allmählich das größte Interesse aller Teilnehmer an dem Erhalt des eingeleiteten Prozesses, der auf eine Konferenzidee des Ostens zurückgeht und schon von der sozialliberalen Koalition seit 1969 genutzt wurde. Dabei zeigte sich, dass zwar nach der Schlussakte von Helsinki das öffentliche Interesse schnell nachließ, dass aber unter Hans-Dietrich Genscher der KSZE-Prozess zum Kernstück bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik werden konnte. Insgesamt kann der Verfasser am Ende seiner eindringlichen überzeugenden Betrachtung den KSZE-Prozess als einen nichtlinearen, von Rückschlägen begleiteten Lernprozess mit offenem Ausgang bezeichnen, der zwar das Konfliktverhalten der Teilnehmer in wachsendem Maße beeinflusste, aber Hans-Dietrich Genschers Hoffnungen, die Konferenz zu dem Modell für eine europäische Friedensordnung zu machen, nicht wirklich erfüllen konnte.
Innsbruck Gerhard Köbler