Perrez, Anna-Carolina, Fremde Richter. Die Rechtsprechung im Fürstentum Liechtenstein unter dem Einfluss schweizerischer und deutsch-österreichischer Richter 1938-1945. Chronos, Zürich, 2015. 404 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Das als sechstkleinster Staat der Welt in der Gegenwart 37000 Einwohner mit einem Ausländeranteil von gut einem Drittel zählende Liechtenstein war sehr lange stark landwirtschaftlich geprägt, weshalb seit 1922 Richter aus Österreich und der Schweiz zur Durchführung der Rechtsprechung ins Land geholt wurden. Sie waren jeweils in ihrem Herkunftsland und im Fürstentum tätig. Während sich dadurch in Friedenszeiten keine besonderen Schwierigkeiten ergaben, stellte sich für die Verfasserin die Fragen, ob in Kriegszeiten die Richter immanente Träger der jeweiligen nationalen Interessen wurden und wie bejahendenfalls diese Ausländer die liechtensteinische Rechtsprechung beeinflussten.
Die diesbezügliche Untersuchung ergab sich nach dem kurzen Vorwort der Verfasserin daraus, dass das Liechtenstein-Institut in dem Jahre 2008 in Zusammenhang mit der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte des Landes das Forschungsprojekt Rechtsprechung in Liechtenstein unter dem Einfluss von deutschen und schweizerischen Richtern in den Jahren 1938-1945 ausschrieb. Urs Altermatt von der Universität Freiburg im Üchtland erklärte sich zur wissenschaftlichen Betreuung der im Projektrahmen angesiedelten Dissertation bereit. Das vorliegende, mit Unterstützung des schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Liechtenstein-Instituts veröffentlichte Werk ist das erfreuliche Ergebnis des abgeschlossenen Promotionsvorhabens.
Gegliedert ist die Studie nach einer Einleitung über das Untersuchungsthema, den Forschungsstand, die Fragestellungen und den Aufbau in acht Abschnitte über das Fürstentum in den 1930er und 1940er Jahren (1930 9948 Einwohner, 1939 herrschten einfachste Verhältnisse mit Armut und kleinbäuerlicher Landwirtschaft sowie dörflichem Handwerk), das Rechtssystem und die Richterwahl, die Schweiz und Österreich in den 1930er und 1940er Jahren, die liechtensteinische Gesetzgebung einschließlich der Frage eines möglichen, aber nicht vorhandenen nationalsozialistischen Einflusses, die Biographien der ausländischen Richter (Landrichter und Stellvertreter, Kriminalrichter, ausländische Richter an dem Obergericht, ausländische Richter an dem Obersten Gerichtshof, ausländische Richter an dem Staatsgerichtshof, ausländische Richter an der Verwaltungsbeschwerdekammer, vorgeschlagene nicht gewählte Richter, außerordentlicher Staatsanwalt Karl Eberle), Herkunft und Vernetzung, Rechtsprechung und Zusammenfassung. Im Ergebnis kann die Verfasserin die Hypothese widerlegen, dass die liechtensteinischen Behörden nur Richter wählten, die nicht nationalsozialistisch gesinnt waren, und gleichzeitig feststellen, dass bei insgesamt etwas mehr als 50 Richtern und Ersatzrichtern aus Liechtenstein (36), der Schweiz (8) und Deutschland (9) in den 774 untersuchten Fällen des Landgerichts, den 90 Fällen des Obergerichts und den 12 Verfahren des Obersten Gerichtshofs kein Urteil gefällt wurde, im dem nationalsozialistisches Gedankengut oder persönliche Interessen eines Richters klar hervortreten, so dass insgesamt nach der auf 29 Biographien beruhenden ansprechenden Ansicht der Verfasserin die liechtensteinischen Gerichte zwar eine Bühne auch für internationale Akteure waren, diese aber von den Nachbarstaaten nicht missbraucht oder institutionalisiert werden konnte, weil sie in ihrem Handlungsspielraum durch das Recht und die institutionalisierten Spielregeln des liechtensteinischen Kollegialgerichts eingeschränkt waren.
Innsbruck Gerhard Köbler