Perels, Joachim, Der Nationalsozialismus als Problem der Gegenwart (= Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft 3). Peter Lang Edition, Frankfurt am Main 2015. 291 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 wurde Friedrich Justus Perels, Jurist, Widerstandskämpfer und Vater des damals gerade dreijährigen Verfassers, nach dem Todesurteil des Volksgerichtshofs vom 2. Februar 1945 zusammen mit anderen Verschwörern des 20. Juli 1944 ohne Vollstreckungsbefehl von einem SS-Kommando erschossen. Ihm widmet er den vorliegenden Band, nicht ohne verbittert hinzuzufügen, dass „von Bischöfen der evangelischen Kirche und vom Bundesgerichtshof nach 1945 die Legitimität des Widerstandes gegen die NS-Diktatur in Abrede gestellt (wurde)“ (S. 5).

 

In solchen Tendenzen erblickt Joachim Perels, promovierter Jurist, Mitbegründer der „Kritische(n) Justiz“ und emeritierter Professor für Politische Wissenschaft der Leibniz Universität Hannover, ein grundlegendes Problem auch noch der Gegenwart, die vor allem der Kritik bedürfe an „Umdeutungen der despotischen Struktur [der] NS-Herrschaft: von der Relativierung des Antisemitismus über die Umwandlung des Hitlerregimes in einen Rechtsstaat bis zur Ausblendung der Auswirkungen der fast vollständigen Übernahme des Justizapparats des Dritten Reichs, durch den die Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien bei der Ahndung der Gewaltverbrechen, vor allem durch die systematische Auflösung des Täterbegriffs für nationalsozialistische Massenmörder, vielfach unterminiert wurde“. Derartigen Interpretationen sei das Grundgesetz als „die rechtliche Negation der NS-Herrschaft durch die Bindung des demokratischen Staates an die Achtung der Freiheitsrechte – vom Recht auf Leben bis zur Meinungsfreiheit“ (S. 7) als maßgebliche Richtschnur entgegenzuhalten. Insgesamt 26 Schriften aus eigener Feder aus den Jahren von 1978 bis 2014 (die überwiegende Zahl der Aufsätze stammt aus dem Zeitraum zwischen 2008 und 2011) hat der Verfasser zu diesem Zweck noch einmal zusammengestellt: 15 Aufsätze (gegliedert in die Gruppen „Der Nationalsozialismus und seine Überwindung“, „Verdrängung des NS-Systems“, „Rechtsstaat und Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen“), neun Rezensionen (zu maßgeblichen Werken Fritz Bauers, Ingeborg Maus‘, Ulrich Herberts, Norbert Freis, Henry Friedlanders, Harald Welzers, Horst Dreiers, Manfred Messerschmidts sowie der Neumann-Gruppe) und zwei Vorträge (der zweite, „Nach dem 20. Juli – Friedrich Justus Perels im Gefängnis Lehrterstraße in Berlin. Vortrag in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand am 25. Oktober 2012“, ist der einzige, bislang unveröffentlichte Text im vorliegenden Band) vergegenwärtigen die Positionen des Verfassers im Einzelnen.

 

Es sind zeitgenössische politikwissenschaftliche und juristische Klassiker, die in der Emigration die Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft früh analysiert und deren Charakter offengelegt haben, wie Ernst Fraenkels „Doppelstaat“ (1941), Franz Neumanns „Behemoth“ (1942/44) oder Otto Kirchheimers „Rechtsordnung des Nationalsozialismus“ (1941); immer wieder greift Joachim Perels auf diese Expertise zurück, würdigt die Konzeptionen des „Kreisauer Kreises“ um Helmut James Graf von Moltke, Eugen Kogons „geistige(n) Kampf für einen humanen Sozialismus“ („Kogon war seiner Zeit voraus. Er ist es bis heute geblieben.“ S. 39), das in der Ahndung von Staatsverbrechen den Vorrang völkerrechtlicher Maßstäbe zum Durchbruch bringende alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 oder Fritz Bauers Engagement in der Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Ihnen gegenüber stehen der nationalsozialistische Führer- und Maßnahmenstaat und seine Theoretiker, darunter immer wieder Carl Schmitt, und jene, die nach 1945 und vor allem seit der Ära Adenauer den Unrechtscharakter dieses Systems verdrängten und bagatellisierten, was nicht zuletzt mit einer „systematische(n) Aushöhlung des Verfassungsrechts und des Strafrechts im Umgang mit den NS-Verbrechen“ (S. 276) einhergegangen sei.

 

Die Durchsicht der einzelnen Beiträge macht deutlich, dass die Kritik des Verfassers in erster Linie auf Fehlentwicklungen in der Judikatur und im Normensystem abzielt, obwohl ebenso geschichtswissenschaftliche und sozialpsychologische Theoreme unter den oben genannten Prämissen in Frage gestellt werden. Zu Harald Welzers bahnbrechender Studie „Täter“ (2005) führt der Verfasser beispielsweise aus, das Buch stehe trotz zutreffender Beschreibung der „Routinisierung des Grauens im System des nationalsozialistischen Massenmords“ dennoch „für die Tendenz, die unverstellte Wahrnehmung des Dritten Reichs zu vereiteln: In Übereinstimmung mit Fest macht Welzer die Binnenperspektive der NS-Täter zum Referenzrahmen, der die moralisch[] und rechtlich[] begründete Negation des staatlichen Mordens ausschließt“ (S. 98). Unter dem Titel „Die Umdeutung des Naziregimes zu Lasten eines Verfolgten. Anmerkungen zum Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 4. Dezember 2008“ rügt Joachim Perels die Entscheidung dieses Gerichts, dem Grafen zu Solms Baruth „einen Vermögensanspruch nach § 1 Abs. 6 Vermögensgesetz (VermG) für die von der nationalsozialistischen Diktatur veranlasste Aufgabe der Verfügung über das Grundeigentum und das Inventar des Familiensitzes seines Großvaters Fürst zu Solms Baruth ab[zusprechen]. Der Fürst wurde im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 von der nationalsozialistischen Staatsführung sogleich nach dem Attentat als Mitwisser verhaftet und über sieben Monate dem Gewaltregiment der Geheimen Staatspolizei unterworfen“ (S. 118). Gegen die konträre Argumentation des Verwaltungsgerichts führt der Verfasser gutachterlich unter anderem den Umstand ins Treffen, „dass der Reichsführer SS Heinrich Himmler eine diktatorische Leitungsfunktion zur Bekämpfung der Verschwörer des 20. Juli innehat und damit auch die Gesamtverantwortung für die Aufhebung der Kernfunktionen des Eigentums des Fürsten hat, [was] zeigt, dass die Handlungen des NS-Staats gegen die Güter in Baruth und Klitschdorf-Wehrau nicht verfolgungsneutral waren“ (S. 128). Als Mittler all dessen, was dem Verfasser am Herzen liegt, fungiert vor allem die zunächst argwöhnisch beäugte „Kritische Justiz“, was seine Ausführungen anlässlich des Erscheinens des 47. Jahrganges (2009) erkennen lassen; die Schrift sei „mittlerweile ein respektierter, oppositioneller Teil des juristischen Diskurses. Sie ist in bestimmten Bereichen besonders präsent: wie der Aufarbeitung der NS-Herrschaft, der Kritik an rechtsstaatsgefährdenden Tendenzen in der Bundesrepublik, der Reflexion von gesellschaftstheoretischen, nicht zuletzt feministischen Alternativen zum Kapitalismus auf der Basis der Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaats und der Vergegenwärtigung der Traditionen aufklärerischen Rechtsdenkens insgesamt“ (S. 188). Mit Jürgen Habermas erreicht die Kapitalismuskritik des Verfassers auch die europäische Ebene, wo „der weitgehende Verzicht auf die politische Gestaltung der sozialen Verhältnisse und die Bereitschaft, normative Gesichtspunkte zugunsten der Anpassung an vermeintlich unausweichliche systemische Imperative des Weltmarkts einzuziehen, die öffentliche Arena der westlichen Welt (beherrschen)“ (S. 54) und die demokratischen Strukturen aushöhlten.

 

Man wird zustimmen können, dass die Wahrung des Rechtsstaates gegen vielerlei Anfechtungen - aktuelles Stichwort Vorratsdatenspeicherung - immer wieder eine Herausforderung nicht nur für die Rechtsexperten, sondern vor allem für eine mündige Zivilgesellschaft insgesamt darstellt und wacher Aufmerksamkeit bedarf. Die von Joachim Perels in dieser - leider an nicht wenigen Stellen mit lästigen Fehlern behafteten - Sammelschrift beschworene Gefahr der Verkennung oder bewussten Verschleierung des Wesens der NS-Diktatur beurteilt der Rezensent hingegen mehr als historisches Phänomen denn als akutes Problem der Gegenwart. Praktisch alle relevanten Forschungsarbeiten zu einzelnen Elementen des Herrschaftsapparates des Dritten Reichs belegen immer wieder aufs Neue das mehr oder minder reibungslose Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen des NS-Staates und der Partei zum Zwecke eines gemeinsamen, ideologisch-rassistisch motivierten Ganzen im Sinne der Absichten der nationalsozialistischen Führung. Über zahlreiche dokumentarische, aber auch fiktionale Medienproduktionen rezipiert ein breites Publikum diese Forschungsergebnisse in popularisierter Form. Und unter dem Eindruck dieser Erkenntnisse ist, wie der Münchener Demjanjuk-Prozess gezeigt hat, auch die deutsche Strafjustiz unter Abkehr von der früheren, vom Verfasser angeprangerten Gehilfenjudikatur (vgl. dazu vor allem seine „Die Ausschaltung des Justizapparats der NS-Diktatur. Voraussetzung des rechtsstaatlichen Neubeginns“, S. 159ff.,  und „Täter als Marionetten? Zur Einschränkung der Verantwortung für die Untaten des Dritten Reichs“, S. 191ff., überschriebenen Ausführungen) mittlerweile zur Einsicht gelangt, dass das aktive Mitwirken an einem - gemessen an rechtsstaatlichen Normen - System offensichtlichen Unrechts Schuld begründet, ohne dass es eines Einzeltatnachweises bedarf.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic