Parzinger, Hermann, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. Beck, München 2014. 848 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Erst beim Versuch, die Geschichte der Menschheit graphisch in einer maßstabgerechten chronologischen Linie von einem Meter darzustellen, wird dem Betrachter anschaulich bewusst, wie winzig klein - nämlich etwa im Bereich eines Millimeters - sich der letzte, von der Entwicklung sogenannter Hoch- und dann Schriftkulturen geprägte Abschnitt gegenüber jenen in ihrer Dimension kaum vorstellbaren, weiter zurückliegenden Perioden ausmacht, während derer bereits Spezies der Gattung Homo unseren Planeten bevölkert haben. Die aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld heraustretenden Australopithecinen (= „Südaffen“, WA) begannen, dem gegenwärtigen Stand der Forschung zufolge, schon vor 7 Millionen Jahren Afrika zu bevölkern, das ihnen zuzurechnende, weltberühmte äthiopische „Lucy“-Skelett ist etwa 3,5 Millionen Jahre, das älteste bislang bekannte Steingerät 2,7 Millionen Jahre alt. So nimmt allein schon das bis 300.000 angesetzte Altpaläolithikum mehr als 90 Prozent der Menschheitsgeschichte ein, während sich die ältesten bislang bekannten komplexen urbanen, aber noch schriftlosen Gesellschaften vor bescheidenen 8000 Jahren in Mesopotamien entwickelt haben dürften.

 

Für Hermann Parzinger, einen der renommiertesten Prähistoriker weltweit, Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts von 2003 bis 2008, seit 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und seit 2012 auch Träger des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, wäre es „verfehlt, dem Leben und der Zeit unserer frühesten Vorfahren den Status der Geschichtlichkeit abzusprechen und sie als Vor-Geschichte abzutun“ (Kursivsetzung im Original). Vor allem dank verfeinerter naturwissenschaftlicher Methoden werde es zunehmend möglich, den Hinterlassenschaften der materiellen Kultur dieser Menschen immer mehr ihrer Geheimnisse zu entlocken, wenn man auch in Anbetracht der Zufälligkeit und Selektivität der Funde in den Schlussfolgerungen oft auf plausible Vermutungen beschränkt bleibe. Wolle man sich dennoch „den anthropologischen Grundkonstanten des Menschen annähern, so führt kein Weg an einem Vergleich sehr unterschiedlicher Gebiete auf allen Kontinenten vorbei, ob sie nun zueinander in Beziehung standen oder nicht. […] Mit dem Versuch aber, alle Teile dieser einen Welt zu berücksichtigen und daraus ein schlüssiges Gesamtbild des – nach Jahrtausenden gezählt – größten Teils der Menschheitsgeschichte zu formen“, sei „die Weltgeschichte nun auch in der Vorzeit angekommen“ (S. 12f.).

 

So durchstreift der Leser durch 16 Kapitel die Jahrmillionen bis in die Anfänge der ersten Schriftkulturen im späten 4. Jahrtausend vor Christus und kann dabei die Entwicklung des Menschen vom Vegetarier über den Aasfresser und den späteren Wildbeuter hin zum sesshaften, produzierenden, also „modernen“ Wesen nachvollziehen. Die einzelnen Abschnitte des Buches folgen zunächst der Ausbreitung des Menschen von seiner wahrscheinlichen Wiege Afrika aus in die Kontinente bis in die entlegensten Winkel der Welt; sodann werden die relevanten Hinterlassenschaften und Kulturen in ihren spezifischen Räumen in den Fokus genommen: Vorderasien, Europa, Ägypten, Sahara und Sahelzone, das subsaharische Afrika, die Steppen- und Waldgebiete Eurasiens, Transkaukasien, Iran, Zentralasien, Indien, Ostasien, Ozeanien und Australien, Nordamerika, Mittelamerika und Südamerika. Die notwendige Zusammenschau leisten die „Vergleichende(n) Schlussbetrachtungen“.

 

Eines der wesentlichen Anliegen des Verfassers besteht dabei im Aufzeigen der großen Variationsbreite der Kulturentwicklung, die sich monokausalen und deterministischen Erklärungsmustern entzieht und die einer breiten Palette von Einflussfaktoren unterliegt, deren Interpretation durch die jeweils individuell betroffenen Menschengruppen jeweils zu unterschiedlichen Prozessen und Ergebnissen geführt hat. Hermann Parzinger: „Neben allen identifizierbaren Gesetzmäßigkeiten und Zwangsläufigkeiten besticht aber stets sein Ingenium, das die Vielfalt der von ihm erdachten Lösungswege offenbart […]. Auf seinem langen Weg sammelte der Mensch Erfahrungswissen, hat experimentieren müssen und ist immer wieder auch gescheitert, ehe er zum Erfolg gelangte. Die wenigsten Neuerungen hat er gleichsam ‚über Nacht‘ ersonnen […]. Manch ein Grundstein für eine viel spätere Entwicklung wurde bereits Hunderttausende von Jahren zuvor gelegt. Deshalb ist es müßig, darüber zu spekulieren, welche nun die entscheidende Zäsur in der frühen Geschichte des Menschen war“ (S. 731, Kursivsetzung im Original).

 

Gordon Childe – ihn erwähnt der Verfasser in seiner Widmung, zusammen mit Georg Kossack und Hermann Müller-Karpe, namentlich stellvertretend für alle verflossenen Größen des Fachs – hat einst mit dem Begriff der „Neolithischen Revolution“ Furore gemacht und darunter den jungsteinzeitlichen Übergang zur sesshaften Lebensweise durch den Durchbruch zum Ackerbau, zur Viehzucht und zur Produktion von Keramik subsumiert. Auf der Grundlage seiner globalgeschichtlichen Betrachtung weist der Verfasser diesen Terminus zurück und streicht stattdessen das Evolutionäre des Vorgangs hervor. Er kann zeigen, dass die genannten Kulturmerkmale zunächst keineswegs synchron, sondern in Etappen auftraten: „Die Weltregion, in der sich sesshaftes Leben und produzierendes Wirtschaften schrittweise und noch vor der Erfindung von Keramik entwickelte, blieb also auf den Fruchtbaren Halbmond zwischen dem westlichen Zagros-Gebirge und der Levante begrenzt. Von diesem Gebiet aus haben sich dann nach dem Ende der präkeramischen Zeit sesshaftes Leben und Landwirtschaft in alle Himmelsrichtungen flächendeckend ausgebreitet. Dieser Prozess aber vollzog sich nicht mehr als zögerliches Herantasten; vielmehr wurde das […] neolithische Bündel komplett übernommen“ (S. 708). Spektakuläre Funde aus Ostasien belegen neuerdings, dass nicht, wie lange behauptet, die ersten Ackerbauern des Neolithikums, sondern Wildbeuter noch in der späten Altsteinzeit die älteste Keramik der Menschheit herstellten. Im gesamten präkolumbischen Amerika wiederum hatte die Domestikation von Tieren als Nahrungsquelle praktisch keine Relevanz; erst die neuzeitliche Einwanderung der Europäer führte den dortigen Ackerbaukulturen entsprechende Nutztiere zu. An der amerikanischen Nordwestküste hielten sich Wildbeuterkulturen, weil wegen der Reichhaltigkeit der natürlichen Ressourcen problemlos Überschüsse erzielt werden konnten und einfach keine Notwendigkeit für ein produzierendes Wirtschaften bestand – ein Phänomen, das unter dem Begriff der „ökologischen Bremse“ bekannt ist. Diese Ausführungen deuten nur an, wie komplex und differenziert sich das aus prozessualer Sicht mit Childes Begriff nur unzureichend erfasste Phänomen dieses Wandels in einer globalen Perspektive darstellt.

 

Unbestritten ist, dass „bäuerliches Leben überall dort, wo es sich durchsetzte […], zu einem rapiden Bevölkerungswachstum (führte)“, das einen entsprechenden Regelungsbedarf schuf, und dass in den potamischen Zivilisationen der Alten Welt der direkte Schritt vom Dorf zur Urbanisierung erfolgte, während sich wiederum in den übrigen Weltregionen anders geartete Entwicklungen belegen lassen. Von der mesopotamischen Hassuna-Kultur des späten 7. Jahrtausends v. Chr. weiß der Verfasser von Knochenritzungen zu berichten, die vermutlich administrative Rechenoperationen darstellen, sowie von Stempelsiegeln, die Eigentum kennzeichneten und sicherten. „All diese Elemente zeugen schon Jahrtausende vor der Erfindung der Schrift von einem ausgeprägten Rechtsverständnis sowie von Normen und Konventionen“ (S. 720). Solche Hinweise schärfen den Blick dafür, dass die Verschriftlichung des Rechts zwar später für die allgemeine Rechtssicherheit unverzichtbar geworden ist, dass aber dessen Ursprünge immer auf die Lebenswirklichkeit des Menschen zurückzuführen sind und jedes (positive) Recht dementsprechend an den elementaren Erfordernissen dieser Lebenswirklichkeit gemessen werden sollte.

 

Der Titel des vorliegenden Bandes nimmt Bezug auf den antiken Prometheus-Mythos und hebt den enormen Stellenwert der Zähmung des Feuers, die einem Beleg zufolge schon vor mehr als einer Million Jahren erfolgt sein dürfte, für die Entwicklung der Menschheit hervor. Neben dem Spenden von Schutz, Licht und Wärme kam der Feuerstelle noch eine weitere entscheidende Funktion zu: „ Wenn wir nach einem Ort suchen, wo Sprache in grauer Vorzeit entstanden sein mag, dann ist es genau dieser Ort, wo Erfahrungen, Erlebnisse und Kenntnisse nicht ohne den Einsatz von Sprache ausgetauscht worden sein können. Die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der Beherrschung des Feuers kann deshalb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden“ (S. 32). Demzufolge wird schon „Homo erectus schwerlich ohne Sprache ausgekommen sein“ (S. 40); der vor etwa 160.000 Jahren erstmals nachgewiesene Neandertaler, „Europas genuiner Beitrag zur Humanevolution“ (S. 43), besaß dann jedenfalls nach heutigem Wissen sowohl die anatomischen (Zungenbein) als auch die genetischen („Sprachgen“ FOXP2) Voraussetzungen der Sprechfähigkeit eines modernen Menschen, ohne die seine Leistungen wie koordinierte Jagden, die Weitergabe des Wissens zur Herstellung komplexer Artefakte und eine entwickelte soziale Kommunikation kaum denkmöglich wären.

 

Insgesamt besticht der vorliegende Band durch mehrere Vorzüge. Während die vergleichsweise wenigen Frühmenschenfunde in einer Art Wettbewerb um unseren ältesten Vorfahren schon immer auf den Vergleich im globalen Rahmen angewiesen waren, ist es Hermann Parzingers Verdienst, nun die vielen durch archäologische Funde dokumentierten, auf uns gekommenen Äußerungen früher Kulturen in einer kompakten, für jedermann gut lesbaren Darstellung unter diesem Blickwinkel zusammengeführt zu haben. Dabei bietet er schlüssige Thesen und Erklärungsmodelle an, bleibt aber dort, wo die Belege keine eindeutigen Aussagen zulassen, stets zurückhaltend und seriös in der Interpretation. Bedingt durch die sorgfältige Bearbeitung sind der Arbeit kaum Fehler anzulasten; zu dem wenigen, was dem Rezensenten in dieser Hinsicht auffallen musste, gehört die wohl versehentliche Übersetzung des Mittelpaläolithikums als „Mittelsteinzeit“ (S. 47; dieser Terminus entspricht aber dem sehr viel späteren Mesolithikum; richtig ist „mittlere Altsteinzeit“). Auch formal ist die Gestaltung des Bandes gelungen, abgesehen davon, dass die Papierqualität durch eine etwas filigrane Haptik gekennzeichnet ist. Häufige Zusammenfassungen und den Inhalt komprimierende Marginalvermerke erleichtern dem Leser die laufende Orientierung, die zum Teil polychromen Illustrationen (Abbildungen, Karten, Skizzen) sind zahlreich, anschaulich und informativ. Letzteres gilt vor allem auch für den Anhang, der neben dem Bildnachweis zwei Register (geographische Begriffe, archäologische Kulturen) und ein Literaturverzeichnis enthält, das für jedes Kapitel gesondert das relevante Schrifttum auf insgesamt 85 eng bedruckten Seiten erfasst. Auf dem Schutzumschlag und den Innenseiten des Einbandes prangt die Darstellung eines metallenen neolithischen „Denkers“ aus dem rumänischen Cernavodȧ; dass der Verfasser korrespondierend dazu Auguste Rodins weltberühmte, in ihrer Pose nahezu identische Plastik als Kapitelaufmacher für seine integrativen Schlussbetrachtungen (S. 695) gewählt hat, will sich zweifelsfrei als komprimierter, ikonographisch manifester Beleg unserer anthropologisch geprägten kulturellen Kontinuität und Identität verstanden wissen.

 

Kapfenberg                                                                           Werner Augustinovic