Ostjuden – Geschichte und Mythos, hg. v. Mettauer, Philipp/Staudinger, Barbara (= Schriftenreihe des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs 1). StudienVerlag, Innsbruck 2015. 232 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Der Mensch hat seine Welt entsprechend seinen unterschiedlichen Wahrnehmungsformen in Himmelsrichtungen geteilt und seine vielfältigen Einzelnen entsprechend ihrer genetischen Herkunft oder zivilisatorischen Sozialisation in Horden, Völker, Religionen, Rassen und andere Gruppierungen gegliedert. Dabei ist der Osten der Ort, an dem für den Menschen die Sonne täglich am ehesten sichtbar wird, der Westen der Platz, an dem er sie jeden Tag zu verlieren scheint und sind die Juden eine zwar kleine, aber bedeutende Gesamtheit von Menschen, die an einen göttlichen Vater und einen eines Tages von ihm kommenden Erlöser glaubt. Sie verbreitet sich von einem im Vorderen Orient gelegenen Ausgangspunkt in Auseinandersetzungen mit meist stärkeren Mitbewerbern über die gesamte Welt, von der aus sie die Möglichkeit ihrer Rückführung an den Herkunftsort im 20. Jahrhundert trotz aller damit verbundenen Mühen und Verluste entschieden aufgegriffen hat.
Mit den mit diesen Entwicklungen lose verbundenen Fragen befasste sich die internationale Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs im Jahre 2011. Der vorliegende Tagungsband vereint ausgewählte Vorträge und eröffnet mit einem Artikel Anna Lipphardts über die Standortbestimmung des relativen geographischen Begriffs des Ostens (Wo liegt der Osten). Dem folgen neun weitere Beiträge über ganz unterschiedliche Einzelfragen.
Sie betreffen etwa die galizischen Juden in Wien, Ostjudentum und Mizrekh-Yidishkeyt, galizische Judenedikte im Kontext der josephinischen Toleranzpolitik, die Metamorphose des Elimelech von Lezajsk (1717-1787) vom Kabbalisten alter Schule zum Taddik von Galizien, eine aufstrebende Erdölindustrie in einer postfeudalen Gesellschaft, den Mädchenhandel in der Habsburgermonarchie, Geheimnisse und Enthüllungen von Biarritz zu den Protokollen der Weisen von Zion, die Ostjuden im Palästina der 1920er Jahre oder jüdische Familiengeschichten zwischen New York und Osteuropa. Im Mittelpunkt steht die Verschiedenheit zwischen den konservativeren Juden im Osten und den progressiveren Juden im Westen, die allein in der Habsburgermonarchie zwischen 1880 und 1910 etwa 850000 Emigranten betrifft. Insgesamt werden in dem eines Sachregisters entbehrenden Sammelband unter der Herausgeberschaft des in Linz 1976 geborenen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für jüdische Geschichte Österreichs tätigen Historikers Mettauer und der in Wien in Geschichte, Theaterwissenschaften und Judaistik ausgebildeten, von 1998 bis 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Geschichte in Österreich wirkenden, seitdem als freie Kuratorin in Wien lebenden Barbara Staudinger jüdische Lebenswelten zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung in ihren weltweiten Auswirkungen eindringlich erörtert und stereotype Mythen kritisch hinterfragt.
Innsbruck Gerhard Köbler