Olechowski, Thomas/Ehs, Tamara/Staudigl-Ciechowicz, Kamila, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918-1938 (= Schriften des Archivs der Universität Wien 19). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 837 S., Ill., Graph. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Nach dem kurzen Vorwort der Herausgeber ist das vorliegende umfangreiche, durch Forschungen Thomas Olechowskis und Tamara Ehs‘ zu Leben und Werk Hans Kelsens angestoßene Werk das Hauptergebnis des von dem österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts P 21280, das zwischen dem 1. 2. 2009 und dem 31. 10. 2013 an dem Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien durchgeführt wurde („www.univie.ac.at/restawi“). Das Projekt entstand in enger Kooperation und personeller Vernetzung mit den FWF-Forschungsprojekten Biographische Untersuchungen zu Hans Kelsen in den Jahren 1881-1940 und Hans Kelsens Leben in Amerika (1940-1973). und die weltweite Verbreitung seiner Schriften. Der FWF übernahm nach der Projektunterstützung auch die Kosten der Publikation.

 

Das Ergebnis fand unmittelbar nach seinem Erscheinen das große Interesse des wohl besten rechtshistorischen Rezensenten. Allerdings konnte der Verlag kein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellen. Deswegen muss es an dieser Stelle genügen, dass der Herausgeber mit wenigen Sätzen auf das gewichtige Werk hinweist.

 

Gegliedert ist es nach Vorwort, Einleitung und Hinweisen in insgesamt vier Kapitel. Sie betreffen das von Kamila Staudigl-Ciechowicz im Rahmen einer Dissertation bearbeitete Organisations- und Dienstrecht der Universität Wien, die Studien an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät (Rechtswissenschaften, Staatswissenschaften einschließlich Politikwissenschaft), die einzelnen Fächer (z. B. die rechtshistorischen Fächer, die judiziellen Fächer) und das Umfeld der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät (die österreichische Universitätslandschaft um 1918, juristische Lehrstühle an anderen Wiener Hochschulen, die Akademie der Wissenschaften in Wien, Vereine, Gesellschaften, Kreise und Volksbildung). Am Ende folgt eine Zusammenfassung und Schlussbetrachtung.

 

Insgesamt umfasste die Wiener rechtswissenschaftliche (und staatswissenschaftliche) Fakultät an der 1365 gegründeten und damit nach Prag und Krakau drittältesten Universität Mitteleuropas (im Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs 18 ordentliche und sieben außerordentliche Professoren bzw.) 1918 14 ordentliche Professoren, neun außerordentliche Professoren, vier emeritierte Professoren, drei Honorarprofessoren, 42 Privatdozenten und einen Honorardozenten sowie 2376 ordentliche Hörer und 281 außerordentliche Hörer einschließlich 28 weiblicher Hospitanten. Mit Beginn des Sommersemesters 1919 wurde neben dem hergebrachten Studium der Rechtswissenschaft das Studium der Staatswissenschaft eingeführt. Außerdem sollten beide Studienrichtungen nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen belegt und absolviert werden können.

 

Bei den Neuberufungen ab 1918 erfolgen großteils Hausberufungen im Sinne von Berufungen von Personen, die schon zuvor als Dozenten oder außerordentliche Professoren an der Fakultät gelehrt hatten. Die Verfasser sehen dies als Indiz dafür an, dass die Universität nur mehr wenige Anreize für auswärtige Wissenschaftler bot. Als besonders verhängnisvoll bezeichnen sie die Entwicklung in der Nationalökonomie, in der nach der Emeritierung Friedrich Wiesers 1922 zwar dessen Lieblingsschüler Hans Mayer die Tradition der österreichischen Schule fortsetzte, jedoch an Bedeutung hinter dem eigentlichen Haupt der Schule (Ludwig Mises) zurückblieb, der an der Universität nur als Privatdozent lehrte.

 

Leitidee der Untersuchung der 39 Semester zwischen dem Zerfall der Monarchie im Wintersemester 1918/1919 und der Machtergreifung der Nationalsozialisten  (Wintersemester 1937/1938) ist, dass die Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät einen organisatorischen und gesellschaftlich-intellektuellen Rahmen für eine Vielzahl von Wissenschaftlern darstellte, die untereinander in vielfältiger Weise vernetzt waren, zwischen denen aber zum Teil auch aus persönlichen, politischen oder sonstigen Gründen tiefe Feindschaften bestanden. In diesem Rahmen spielte auch der bereits in einer Forderung des zweiten allgemeinen österreichischen Katholikentags 1889 sichtbare universitäre Antisemitismus eine beachtliche Rolle. Daher kam es bei der Besetzung der beiden völkerrechtlichen Lehrstühle 1922 und der beiden zivilrechtlichen Lehrstühle 1924 weniger auf dem wissenschaftstheoretischen Standpunkt des zu Ernennenden an, sondern mehr darauf, dass der eine als Jude galt, der andere als Nichtjude.

 

Dabei waren neben persönlichen Feindschaften (etwa Othmar Spanns 1924  gegen Hans Mayer nach einem vergeblichen Versuch der Überredung zum Wechsel von der österreichischen Schule auf seine Seite) nach Ansicht der Verfasser Disziplinarverfahren ein besonders oft eingesetztes Mittel in fakultätsinternen Auseinandersetzungen. Während der 39 untersuchten Semester wurden 17 Disziplinarverfahren eingeleitet. Sie endeten freilich (wie viele andere Disziplinarverfahren wegen der Dürftigkeit der Vorwürfe leistungsschwacher Gegner?) meist mit Zurücklegungen. Im Falle des gegen den Römischrechtler Stephan Braßloff unter stark antisemitisch geführten Disziplinarverfahrens kam es allerding zu einer Verurteilung und Erteilung einer Rüge, was das Ende seiner akademischen Karriere bedeutete.

 

Die in der Öffentlichkeit angesehenste Gelehrtengesellschaft war die Akademie der Wissenschaften mit Mitgliedern der Fakultät. Herkömmlicherweise bestand dort ein starkes Übergewicht der Rechtshistoriker gegenüber den Rechtsdogmatikern, obwohl die rechtshistorische Forschung an der Akademie quantitativ eher unbedeutend war. Anhand der Wahlakten konnten Netzwerke ermittelt werden, die mit anderen so korrespondierten, dass von 38 in der Untersuchungszeit in die philosophisch-historische Klasse der Akademie gewählten Juristen 13 auch Mitglieder des antisemitischen Deutschen Klubs waren.

 

Einen Einbruch brachte der in der Gliederung nicht als entscheidend behandelte Staatsstreich 1933/1934, in dessen Gefolge drei Ordinarien (Max Layer, Wenzeslaus Gleispach und Karl G. Hugelmann) aus politischen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurden und eine Reihe angesehener Privatdozenten von sich aus Österreich verließ (Ludwig Mises, Gottfried Haberler u. a.).bzw. nach einem Auslandsaufenthalt nicht wiederkehrte (Friedrich Hayek, Josef Laurenz Kunz) und die Verlängerung der Lehrbefugnis des Kommunisten Walter Schiff, gegen den 1933 eine Disziplinaruntersuchung geführt wurde, über das 70. Lebensjahr hinaus abgelehnt wurde. In der Folge kam es nur mehr zu wenigen Nachbesetzungen und die Vakanzen häuften sich. 1935 wurde eine neue juristische Studienordnung für ein neunsemestriges Studium geschaffen, in dem die christliche Rechtsphilosophie ausdrücklich verankert wurde.

 

1938 wurden im Gefolge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich unter Adolf Hitler zehn der insgesamt 19 Professoren (die sieben ordentlichen Professoren Josef Hupka - 1943  in Theresienstadt ums Leben gekommen - , Othmar Spann, Oskar Pisko, Ferdinand Degenfeld-Schonburg, Adolf J. Merkl, Ludwig Adamovich, Heinrich Mitteis und die drei außerordentlichen Professoren Emil Goldmann, Wilhelm Winkler und Stephan Braßloff – 1944 in Theresienstadt ums Leben gekommen -) und mehr als 30 Dozenten aus politischen Gründen aus ihren Ämtern entfernt bzw. in den vorzeitigen Ruhestand versetzt oder sonst in der Ausübung des Lehramts gehindert und verloren mehr als 30 Dozenten ihre Lehrbefugnis an der Wiener Fakultät. Jüdischen Studierenden wurde der Zugang durch eine Beschränkung auf zwei Prozent erschwert und schließlich ganz unmöglich gemacht. Zahlreichen jüdischen Absolventen wurde der Doktorgrad aberkannt.

 

Ein Überblick über die Forschungstätigkeit der Fakultätsmitglieder zwischen 1918 und 1938 erscheint den Verfassern auf Grund der Vielfalt der Fächer schwierig. Dennoch können sie beispielsweise zeigen, dass die Vertreter des deutschen Rechtes (Hans Voltelini und Ernst Schwind) sich ich editorische Großprojekte stürzten, denen der angestrebte Erfolg versagt blieb. Die Kollegen des römischen Rechtes (vor allem Leopold Wenger) widmeten sich insbesondere der juristischen Papyrusforschung. Mit der Zuwendung  zu fremden Elementen erklären sie im Übrigen allgemein die Bemühungen Hans Kelsens um eine Purifizierung der Rechtswissenschaften.

 

Nach 1938 konnte die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät bis zu ihrer Aufteilung im Jahre 1975 nicht mehr an ihren vorherigen Ruhm anknüpfen, den sie genossen hatte, als bei ihr die österreichische Schule der Nationalökonomie (Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk u. a.) und die 1911 gegründete, nach 1918 zu voller Blüte gelangende Wiener rechtstheoretische Schule (Hans Kelsen) in Blüte standen und Professoren von Weltruf an ihr lehrten. Von den 15 ordentlichen und vier außerordentlichen Professoren des Studienjahrs 1937/1928 hatten im Studienjahr 1949/1950 nur noch fünf ihre Stellung noch (Hans Mayer, Alfred Verdroß) oder wieder (Adolf J. Merkl, Ludwig Adamovich sen., Ferdinand Degenfeld-Schonburg) inne, der emeritierte Rudolf Köstler wirkte als Honorarprofessor und der außerordentliche Professor Wilhelm Winkler war zum ordentlichen Professor aufgerückt, während die anderen zwölf Professoren aus Altersgründen oder aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt worden, eines natürlichen Todes gestorben oder von Anhängern des nationalsozialistischen Regimes ermordet worden waren.

 

Bei den beiden Honorarprofessoren, den 52 Privatdozenten und den beiden Honorardozenten des Jahres 1937/1938 waren drei (Hans Schima, Roland Graßberger, Willibald M. Plöchl) ordentliche Professoren und einer (August M. Knoll) außerordentlicher Professor. Zwölf wirkten noch oder wieder als Privatdozenten (Gál, Leifer, Karl Schmidt bzw. Charles Smith, Bombiero, Neidl, Walter Heinrich, Mahr, Melicher, Westphalen, Braunias, Lagler, Blühdorn). Drei Gelehrte , denen 1938 aus politischen Gründen die Lehrbefugnis entzogen worden war, erhielten eine Honorarprofessur, die übrigen 37 Personen scheinen 1949/1950 nicht mehr auf.

 

Zwischen 1945 und 1949 erfolgten 17 Habilitationen. Ob alle diese frischgebackenen Privatdozenten das hohe wissenschaftliche Niveau ihrer älteren Kollegen erreichten, „liegt jedoch bereits außerhalb des Betrachtungsfelds der vorliegenden Monographie“. Anscheinend haben die Verfasser gewisse Zweifel.

 

Im Ergebnis vertreten die Verfasser nach Erwähnung des Stufenbaus der Rechtsordnung Adolf J. Merkls, der Lehre vom Wegfall der Geschäftsgundlage Oskar Piskos und der Lehre Alfred Verdroß‘ vom ius cogens die Ansicht, dass die Universität Wien stolz sein kann auf die Leistungen der Fakultät zwischen 1918 und 1938. Dies enthebe sie nicht von der Erinnerung auch an Schattenseiten (Othmar Spann, Alexander Hold-Ferneck). Wer immer ihre interessanten Darlegungen zu Kenntnis nimmt, wird sich auch wegen der wertvollen zahlreichen Kurzbiographien ein eigenes Bild von den vielfältigen  Geschehnissen einer bunten und schwierigen, sehr allgemeinmenschliche Züge offenbarenden Zeit, die eine vollkommene Einordnung in die größeren Abläufe durchaus verdient, machen können.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler