Oestmann, Peter, Wege zur Rechtsgeschichte – Gerichtsbarkeit und Verfahren (= UTB für Wissenschaft 4295). Böhlau, Wien 2015. 374 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Sowie seit der Antike viele Wege nach Rom führen sollen, so sollen anscheinend künftig auch mehrere neue Wege zur Rechtsgeschichte leiten. Nach dem kurzen Vorwort des Verfassers beschreitet das vorliegende Buch „Wege zur Rechtsgeschichte“ und wird hier ein zentraler Ausschnitt aus der deutschen und europäischen Vergangenheit als eigenes Kurzlehrbuch angeboten. Damit ist zugleich Raum eröffnet, um die Grundzüge der Gerichtsgeschichte und Prozessgeschichte für studentische Leser auf insgesamt 374 Seiten eingehend zu erklären.

 

Nach dem zuletzt auch in der Diskussion um die juristische Ausbildung insgesamt hervorgetretenen Verfasser überschütten rechtshistorische Lehrbücher die Studenten mit Fakten, Fakten und abermals Fakten. Je knapper dabei bemessen der Platz, desto weniger Möglichkeiten verbleiben (angeblich), die großen Linien zu zeichnen, was sicher als erheblicher Mangel auch einer knappen Darstellung einzuordnen ist, oder Einzelheiten zu entfalten, wofür aber der durchschnittliche Student der Rechtswissenschaft gar keine Zeit haben dürfte. Wie Hagelschauer prasseln auf den Leser Namen, Jahreszahlen, Orte und Fachbegriffe nieder.

 

Warum man dies alles wissen muss, was wirklich wichtig ist und was nur schmückendes Beiwerk darstellt, bleibt („in rechtshistorischen Lehrbüchern oftmals“) ungesagt. „Bildung soll gern Selbstzweck sein, fürwahr, aber der Lehrer braucht nicht alle Kleinigkeiten zu vermitteln, nur weil er sie selbst gerade kennt“, was vermutlich auch für Gerichtsbarkeit und Verfahren gelten könnte. Wer sich klarmacht, welche Geschichte er erzählen will, kann sich auf wesentliche Punkte beschränken (und einen Weg in einen Teil der Rechtsgeschichte auf 372 Seiten vorzeichnen).

 

Gemessen an der 1845 von dem 27jährigen Privatdozenten Otto Mejer vorgetragenen Unterscheidung zwischen Kompendium oder Kurzlehrbuch und Vorlesung auf dem Katheder, liegt nach dem Verfasser sein Grundriss näher an der aufgeheizten Vorlesung als am abgeklärten Lehrbuch. „Der Text bekennt Farbe und ist um deutliche Wertungen nicht Verlegen“. „Vor allem fehlt Vieles … und an allen Ecken und Enden bleiben Fragen und Lücken“, die in einigen Jahren hoffentlich ein Handbuch zur Geschichte der Rechtsdurchsetzung schließen kann.

 

Für den Augenblick will der Verfasser (nur) eine Handreichung an interessierte Leser bieten. „Sie soll dem modernen aufmerksamen Juristen anhand einiger Einblicke die Bedeutung der rechthistorischen Tradition für Gegenwart (!) vor >Augen führen“. Ob aus Sehschlitzen  mit der Zeit ein Gesamtbild entstehe, bleibe jedem selbst überlassen, doch habe ihm selbst der Zwang, den roten Faden festzuzurren und sich (auf 374 Seiten) nie in das Auswabernde zu verlieren, jederzeit Freude und Schwung bereitet, was man hoffentlich dem Buch anmerke.

 

In der anschließenden Hinführung zum Thema weist der Verfasser darauf hin, dass neben der Gesetzgebung und der Regierung die Rechtsprechung die dritte Säule der Staatsgewalt bilde. Auf dieser Grundlage formuliert er seine drei großen Leitfragen, die das Kurzlehrbuch schlank halten sollen. Welche Rolle spielt die Staatsgewalt  für die Rechtsdurchsetzung in verschiedenen Zeiten bzw. wie sah die jeweilige Gerichtsverfassung aus, welche Gerichte gab es und welche Personen waren dort tätig bzw. was waren die Prozessmaximen des jeweiligen Verfahrensrechts und welche Möglichkeiten bestanden, gerichtliche Entscheidungen anzugreifen?

 

Je stärker dabei die Darstellung den Leitfragen trotz weiterer Verfeinerungen folge, desto deutlicher träten ganze Bereiche der Rechtsgeschichte in den Hintergrund. Die Rechtswissenschaft spiele eher eine untergeordnete Rolle wie auch über längere Phasen auch die normative Rechtsquelle. Das Lehrbuch (oder Kurzlehrbuch?) werfe Schlaglichter auf die Geschichte der Rechtspraxis und biete (auch) damit nur einen Ausschnitt aus einer allgemeinen Rechtsgeschichte, wobei insoweit Vollständigkeit nicht angestrebt, sondern weitere Quellenlektüre im Selbststudium angeraten sei.

 

In Bezug auf den Forschungsstand gibt es für den Verfasser ein Lehrbuch zur Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts bisher nicht, geschweige denn eine umfassende Gesamtdarstellung.  Eine echte Zäsur gegenüber den Werken zur deutschen Rechtsgeschichte Brunners, Schröders oder Künßbergs biete Karl Kroeschells 1972 begründete dreibändige Rechtsgeschichte, in der zahreiche abgedruckte Quellen zum Selbststudium anregten, freilich kaum mit dem Text des Lehrbuchs verknüpft seien. Hinter diesen Stand dürften neuere Darstellungen nicht zurückfallen, doch seien die knapperen und oft nur skizzenhaften Schilderungen Kroeschells durch deutlich andere Schwerpunktsetzungen, umfassendere Einbindung der Quellen und stärker ausdrückliche Vergleiche zwischen den Epochen zu optimieren.

 

Bei dem Gang der Darstellung wiederholt der Verfasser die Ansicht Otto Mejers, dass auf dem Katheder der Professor frei von der Leber weg seine Meinung verkünden dürfe, im Lehrbuch aber auf strenge und unpersönliche Sachlichkeit beschränkt sei. Dieser vielleicht bereits damals unrichtigen Mahnung folge das vorliegende Buch nicht. Auch im (vorliegenden Kurz-)Lehrbuch würden Stoffauswahl, Gliederung und Darstellungsweise als höchstpersönliche subjektive Entscheidungen des Verfassers angesehen, der seine eigenen Vorlieben zu einer angeblich objektiven Geschichtsdarstellung erhebe, was aus Gründen der Ehrlichkeit von vornherein offenzulegen sei.

 

Die anschließende, das römische Recht und damit auch wohl seinen Staat (zuständigkeitshalber) bewusst ausschließende Darstellung unterscheidet nach der Einleitung drei Abschnitte. Sie betreffen auf den Seiten 29ff. die Zeit vor dem staatlichen Gewaltmonopol, auf den Seiten 153ff. die 1495 beginnende Zeit des staatlichen Gewaltmonopols und auf den Seiten 283ff. fragend und kurz die Zeit nach dem staatlichen Gewaltmonopol. Im Ergebnis erweist sich für den Verfasser bei seinem Zugang Recht nicht als eine überzeitliche anthropologische Konstante, sondern als vom Menschen in der Zeit abänderlich.

 

Dementsprechend bietet das (Kurz-)Lehrbuch für den Verfasser „trotz seines eher knappen Umfangs eine Erzählung, vielleicht sogar eine so genannte große Erzählung, wie man derart subjektive Verlaufsdeutungen  inzwischen nenne“. Die Gesamtanlage wie die Verknüpfung der Einzelheiten beruhten auf bewusster Konstruktion. Mehr könne eine Geschichtswissenschaft nicht leisten, die sich nicht auf die bloße Zusammenballung von Fakten beschränken möchte.

 

Abgerundet wird dieser neue Weg zur Rechtsgeschichte durch umfangreiche Literaturangaben und drei Register der Personen, Orte und Sachen. Möge er viele interessierte Gefährten finden. Möge er durch weitere Wege anderer Autoren auch ein umfassenderes Bild von Rechtsgeschichte für jedermann mit ausreichendem Interesse, genügender Muße und hinlänglicher Kraft eröffnen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler