Neu, Tim, Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509-1655) (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne 93). Böhlau, Köln 2013. 581 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Verfassung ist als Wort seit dem 14. Jahrhundert belegt und bezeichnet zunächst nur das in eine bestimmte Gestalt Bringen und das in eine bestimmte Gestalt Gebrachte. Dies betrifft in der frühen Neuzeit vor allem auch den allgemeinen Zustand des seit dem ausgehenden Spätmittelalter (wieder) entstehenden Staates. Für ihn geht die Verfassungsgeschichtsforschung überwiegend von einer zunächst nur materiellen Verfassung im Gegensatz zu der mit der Virginia Bill of Rights von 1776 sichtbaren und danach fast durchweg durchgesetzten formellen Verfassung aus.

 

Einen Teilaspekt dieser Entwicklung behandelt die vorliegende, an dem Sonderforschungsbereich 496 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution) entstandene, von Barbara Stollberg-Rilinger angestoßene und anregend-kritisch begleitete, im Dezember 2011 an der philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommene, für den Druck geringfügig überarbeitete Dissertation des seit 1999 in Bonn und Münster in Geschichte, Philosophie und Erziehungswissenschaft ausgebildeten, seit 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Münster promovierenden Verfassers, der 2014 für seine Leistung den Forschungspreis des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und altertumsvereine erhielt. Sie gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in fünf Abschnitte. Sie betreffen die Geschichte und Theorie der landständischen Verfassung, die Frage nach der landständischen Verfassung im 16 Jahrhundert im Anschluss an Einungen, das Entstehen einer Verfassung zwischen 1590 und 1623, die Verfassung in der Krise zwischen 1623 und 1655 sowie eine abschließende Zusammenfassung.

 

Im Ergebnis kann der Verfasser auf einer sehr breiten Quellen- und Literaturgrundlage die bisherige Ansicht, dass die landständische Verfassung Hessens in einem allmählichen Vorgang seit dem Spätmittelalter entstanden sei, in Frage stellen und ihre eher rasche Entstehung in den Jahrzehnten um 1600 wahrscheinlich machen. Während es 1592 bei dem Regierungsantritt Landgrafs Moritz noch keine landständische Verfassung Hessen-Kassels (im Sinne des Strukturtypus) gab, stellte sie 1623 einen wesentlichen politischen Faktor dar. Allerdings wurde diese kreative Diskontinuität (Verfassungswandel) nach dem ansprechenden Ergebnis des Verfassers im allgemeinen Verständnis zwecks leichterer Akzeptanz „mittels Heuchelei“ in einen längerfristigen Kontinuitätsvorgang allmählicherer Entwicklung politischer Kultur eingedeutet.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler