Nagel, Anne C[hristine], Johannes Popitz (1884-1945). Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler. Eine Biographie. Böhlau, Köln 2015. 251 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Unter den Oppositionellen, die das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 in den Strudel des Untergangs riss, befand sich auch der Jurist, Finanzexperte und Gelehrte Johannes Popitz, der als Staatssekretär, Reichskommissar und Minister maßgeblich die Fiskalpolitik zunächst der Weimarer Republik, dann des Dritten Reiches sowohl in Preußen als auch auf Reichsebene bestimmt hat. Die vorliegende Biographie liefert keine zwingende Erklärung, was den ansonsten so vorsichtigen und klugen Mann letztlich dazu bewogen hat, im August 1943 zu versuchen, ausgerechnet den Reichsführer-SS Heinrich Himmler, von dessen Sondierungen einer geheimen Kontaktaufnahme mit den Westalliierten er Kenntnis erlangt hatte, in einem persönlichen Gespräch für die Staatsstreichpläne des nationalkonservativen Widerstands zu gewinnen. In einem Katz-und-Maus-Spiel ließ Himmler ihn zappeln, um dann noch am Abend nach dem Attentat zuzuschlagen: Popitz wurde verhaftet, angeklagt und musste sich am 3. Oktober vor dem Volksgerichtshof unter Roland Freisler verantworten. Das Todesurteil gegen ihn wurde am 2. Februar 1945 durch den Strang vollstreckt, mit ihm starben sein Mitverschwörer, der langjährige Oberbürgermeister von Leipzig, Carl Friedrich Goerdeler, und der katholische Geistliche Alfred Delp.
Lange Zeit war jedenfalls nicht abzusehen, dass der strebsame Jurist, der nach dem frühen Tod des Vaters 1892 von seinem Großvater mütterlicherseits, dem sozialen Aufsteiger und Landgerichtspräsidenten Moritz Rudolph, der nebenbei als „älteste(r) Jurist Deutschlands mit 98 Jahren ein biblisches Alter“ (S. 198, Anm. 31) erreichen sollte, in Dessau zu Fleiß und Pflichtbewusstsein erzogen worden war, auf derartige Abwege geraten würde. Mit einem erstklassigen Reifeprüfungszeugnis versehen, aber für den Heeresdienst wegen seiner filigranen Konstitution nicht tauglich, betrieb er ab 1903 seine breit angelegten juristischen und ökonomischen Studien in Lausanne, Leipzig, Berlin und Halle bei Kapazitäten wie Vilfredo Pareto, Rudolph Sohm, Franz von Liszt, Otto von Gierke, Rudolf Stammler sowie dem „Kathedersozialisten“ Adolph Wagner, 1907 erfolgte in Halle die Promotion summa cum laude. Kurz nach Kriegsbeginn trat Johannes Popitz im August 1914 in das preußische Innenministerium ein, wo er bald sein „ausgeprägtes Talent zum Krisenmanagement“ beweisen konnte und 1918 „für sein Engagement […] das Eiserne Kreuz am weißen Bande“ (S. 46) erhielt. Ab 1917 zusätzlich im Reichsschatzamt eingesetzt, wurde der fähige und wendige Beamte nach Kriegsende und Familiengründung in der stets klammen Weimarer Republik als gefragter Steuerexperte in die Dienste des Reichsfinanzministeriums übernommen, wo er weder sich noch seine Untergebenen schonte: Er „hatte seine Leute im Griff und nahm sie, wenn es ihm opportun erschien, über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus in die Pflicht“ (S. 59). 1925 rückte er dort „zum zweiten Staatssekretär auf, um […] anderthalb Jahre später allein in dieser Funktion zu amtieren. Die zweite große Finanzreform 1925/1926 trug seine Handschrift“ (S. 61). Als „Staatssekretär von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (S. 15) verstand er es, „mit Ministern ganz unterschiedlicher Couleur virtuos umzugehen“ und sich kraft seiner Kompetenz „einen ungewöhnlich großen Freiraum zu verschaffen“, sodass er vielen lange als „die eigentliche Ministeriumsspitze“ (S. 76) galt, bis er nach Querelen um den Young-Plan und mit Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht im Dezember 1929 gleichsam kalkuliert aus seinem Amt schied. Zusätzlich hatte er schon im Herbst 1919 für zwei Jahre die Leitung der Fachgruppe Steuerwesen der Berliner Handelshochschule übernommen, und 1922 hatte ihn die Friedrich-Wilhelms-Universität vornehmlich für seinen umfangreichen, erstklassigen Kommentar zum Umsatzsteuergesetz mit der Berufung zum Honorarprofessor an die Juristische Fakultät gewürdigt. Wie Friedrich Meinecke hat auch Johannes Popitz so oberflächlich den Weg „vom Herzensmonarchisten zum Vernunftrepublikaner“ vollzogen (S. 61).
Allerdings sollte sich zeigen, dass der im Kaiserreich sozialisierte Finanzfachmann in seinem tiefsten Inneren weiterhin einem autoritären Herrschaftsverständnis verbunden blieb. Nach Reichskanzler von Papens „Preußenschlag“ erfolgte sein politisches Comeback im Herbst 1932 als Reichskommissar für die preußischen Finanzen und Reichsminister ohne Portefeuille. Auch Hermann Göring, der starke Mann der Nationalsozialisten in Preußen, lernte „den ungedienten, aber eben blitzgescheiten Juristen“ schätzen: „Göring und Popitz stiegen gemeinsam auf im Dritten Reich, am 11. April [1933] wurde der eine zum Preußischen Ministerpräsidenten ernannt, zehn Tage später der andere zum Preußischen Finanzminister. […] Der Finanzminister war zeitweilig der Stellvertreter des Ministerpräsidenten und damit der zweite Mann in Preußen. Popitz stand beruflich im Zenit. […] Beim autoritären Umbau des preußischen Staates zogen Göring und Popitz an einem Strang“ (S. 116ff.). Zur Säuberung der Beamtenschaft mit Hilfe des Berufsbeamtengesetzes forderte Popitz etwa gar besonders radikal die Möglichkeit, „jeden Beamten ohne Angabe von Gründen in den Ruhestand versetzen“ zu können (S. 125), hielt aber auf der anderen Seite - da zwar „ausgeprägter Antikommunist“ (S.143), aber kein Antisemit (vgl. S. 107f.) - „die Behandlung der Juden für einen kapitalen Fehler“, wenngleich er selbst „nur im Einzelfall helfen“ konnte (S. 128). Die schockierenden Ereignisse der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 („Reichskristallnacht“) und die klar auf Krieg gerichtete Außenpolitik des Regimes mögen wohl die vordringlichsten Gründe gewesen sein, die einen Mann, der „bis weit in die 1930er Jahre hinein das ‚Dritte Reich‘ bejahte“ (S. 144) und der noch 1937 mit dem Goldenen Parteiabzeichen der NSDAP bedacht worden war, in die Kreise des nationalkonservativen Widerstands um den Diplomaten Ulrich von Hassell und weitere namhafte Mitstreiter führten. Ein „Kernproblem“ dieser Bewegung war allerdings, dass „viele mit dem Regime (unzufrieden) waren […], aber die wenigsten […] die Tatkraft und den notwendigen Mut auf(brachten), sich direkt gegen den Nationalsozialismus aufzulehnen“ (S. 158). Auch Johannes Popitz „ließ in seinem Eifer für das Staatswohl nicht nach, Sabotage im Amt war keine Option für ihn“ (S. 161). Dieser Mangel an Aktionsbereitschaft mag, neben den antiquierten autoritären, undemokratischen Ordnungsvorstellungen der Proponenten dieses heterogenen Zirkels, dazu geführt haben, dass ihr Beitrag zum Widerstand trotz ihrer Opfer im Vergleich mit den zur Tat geschrittenen Offizieren des 20. Juli 1944 weniger öffentliche Anerkennung erfahren hat und Popitz, wie die Verfasserin treffend bemerkt, „als Figur im deutschen Widerstand eher blaß geblieben“ ist (S. 15).
Das juristische Interesse bedient die Arbeit mit ihren Ausführungen zu den beruflichen und wissenschaftlichen Leistungen des Johannes Popitz ebenso wie mit der Darstellung der Freundschaft des grundsoliden preußischen Beamten mit dem so schillernden wie umstrittenen Staatsrechtslehrer Carl Schmitt. Einige Passagen vermitteln einen anschaulichen Einblick in die ökonomischen Rahmenbedingungen einer juristischen Karriere als Staatsbeamter in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg. Der preußische Staat sorgte „für eine exklusive Auswahl seiner höheren Beamten“, indem er selbst Kandidaten, die, wie Popitz, ihr Studium „mit Auszeichnung“ abgeschlossen hatten, zwang, ihre „Vermögensverhältnisse offen(zu)legen und nach(zu)weisen, daß er über genügend große Mittel verfüge, ‚für die Dauer von fünf Jahren hindurch standesgemäß leben zu können, oder die schriftliche Erklärung eines Dritten beibringe‘, wonach dieser den Unterhalt bestreiten würde“ (S. 35). Seinen Referendaren zahlte der Staat zunächst „keinerlei Vergütung“ (S. 36), erst die Absolvierung der anspruchsvollen Prüfung für Höhere Verwaltungsbeamte und die Ernennung zum Regierungsassessor eröffneten den Zugang zu einem geregelten, später beachtlichen Einkommen. „Das preußische Königreich hielt auf seine höhere Beamtenschaft, belohnte deren Sachkenntnis und Loyalität großzügig und hob sie damit sichtbar über die anderen Gesellschaftsklassen hinaus. Ein Arbeiter in Berlin hatte zu dieser Zeit nicht einmal ein Siebtel solch eines Beamtenbezugs im Jahr und stand […] in Hinblick auf die Versorgung bei Krankheit und im Alter unvergleichlich schlechter als ein Staatsdiener“ (S. 41). Das Wirken des Johannes Popitz im Rahmen von Hans Franks Akademie für Deutsches Recht, wo er immerhin dem Präsidium angehörte und den Vorsitz im Ausschuss für den rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Nachwuchs innehatte, findet leider in der zu besprechenden Arbeit keinerlei Berücksichtigung.
Dass das vorliegende Lebensbild aus der Feder Anne Christine Nagels geflossen ist, ist kein Zufall, verlieh sie doch ihrer Vorliebe für dieses Genre schon in ihrer Promotionsschrift von 1995, einer politischen Biographie des linksliberalen evangelischen Theologen Martin Rade, Ausdruck. 2003 mit einer Aufsehen erregenden Arbeit zur bundesdeutschen Mediävistik nach 1945 habilitiert, hat die Verfasserin zuletzt am zeitgeschichtlichen Lehrstuhl des Historischen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu Johannes Popitz betreut, dessen Ergebnisse sich im vorliegenden Band manifestieren. Die nur durch wenige Flüchtigkeitsfehler beeinträchtigte Studie, die auf drei Vierteln des Druckraums einen systemkonformen und auf einem Viertel einen systemkritischen Protagonisten zeigt, kann insgesamt für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, das bisher nur Insidern bekannte, aber in seiner Disziplin eindrucksvolle Leben und Werk von Johannes Popitz in einer auch dem Laien verständlichen Sprache vor dem Hintergrund der ökonomischen und fiskalischen Herausforderungen des Wilhelminischen Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches nachvollziehbar entwickelt und zugleich ein relevantes Stück Geschichte der nationalkonservativen Opposition gegen den Nationalsozialismus erarbeitet zu haben.
Kapfenberg Werner Augustinovic