NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension, hg. v. Bade, Claudia/Skowronski, Lars/Viebig, Michael (= Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien 68). V & R unipress, Göttingen 2015. 288 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Während in der politischen Diskussion um die NS-Militärjustiz mittlerweile weitgehend Ruhe eingekehrt ist - bis 2009 wurden sowohl in Deutschland als auch in Österreich entsprechende Gesetze zur umfassenden Rehabilitierung der Opfer umgesetzt, seit wenigen Monaten würdigt darüber hinaus ein an prominenter Stelle errichtetes Denkmal im Zentrum Wiens die österreichischen Wehrmachtdeserteure - , hat das Interesse an der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas erfreulicher Weise weiter zugenommen. Von 2010 bis 2012 wurde am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden e. V. unter dem Titel „Lebensläufe und Spruchpraxis von Wehrmachtrichtern“ ein Forschungsprojekt betrieben, das nicht nur die beiden Elemente auf empirischer Basis in einer kollektivbiographischen Untersuchung zusammenführte, sondern auch eine Datenbank mit Angaben zu über 2000 (von insgesamt geschätzten 3000 tätigen) Wehrmachtrichtern formierte, die in Bälde am genannten Institut sowie im Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau zur wissenschaftlichen Nutzung bereitgestellt werden soll. Jenen, die sich im In- und Ausland um die Aufklärung der gegenständlichen Thematik bemühen, bot das Projekt darüber hinaus die Gelegenheit zur Skizzierung des Forschungsstandes; zu diesem Zweck wurde im Oktober 2011 in Zusammenarbeit mit dem DIZ Torgau und der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle/Saale ein zweieinhalbtägiges internationales Symposium „Deutsche Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg“ im Umweltzentrum Dresden abgehalten. Der daraus resultierende, vorliegende Sammelband versteht sich als Kundmacher einer aktuellen Forschungsbilanz ebenso wie als Anreger notwendiger weiterer Studien. Seine vielfältigen, inklusive der Einführung 15 Beiträge reden vor allem einer Europäisierung das Wort, indem sie aufzeigen, dass die Wehrmachtjustiz nicht nur, wie gemeinhin bekannt, streng gegen Wehrmachtangehörige vorging, sondern zugleich als Instrument der Besatzungsherrschaft weitreichende Kompetenzen gegenüber der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern wahrnahm.

 

Einer orientierenden, den Perspektivenwechsel über die Jahrzehnte darstellenden Einleitung der Mitherausgeberin Claudia Bade folgt zunächst ein Abschnitt, der in drei Beiträgen Grundlagenthemen  erörtert. Am informativsten im Sinne eines allgemeinen Verständnisses von Funktion und Wirksamwerden der NS-Militärjustiz sind dabei wohl die Ausführungen des Juristen Peter Kalmbach (Bremen) einzuschätzen, der hier Elemente seiner Studie „Wehrmachtjustiz“ (2012; vgl. dazu die Besprechung des Rezensenten in: JoJZG 8 [2014], S. 27ff.) komprimiert präsentiert, insbesondere die allgemeinen (Kriegsstrafverfahrensordnung und Kriegssonderstrafrechtsverordnung) und besonderen, lokal gültigen Rechtsvorschriften für das Agieren der Militärgerichte erläutert und die Zurückdrängung ihrer Befugnisse im ost- und südosteuropäischen Raum in der Konkurrenz mit exekutiv tätigen Akteuren aufzeigt. Michael Viebig (Halle/Saale) macht auf im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag verwahrte, wichtige Aktenbestände des ehemaligen Reichskriegsgerichts (RKG) aufmerksam, während Maria Fritsche (Trondheim), inspiriert von Ansätzen Thomas Kühnes („Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert“, 2006), geschlechtsspezifisch angelegte Muster männlichen Verhaltens bei Urteilenden wie Verurteilten ortet.

 

Der zweite Abschnitt untersucht in fünf Beiträgen die „Deutsche Militärjustiz in Europa als Element der Besatzungspolitik“ und damit ein zentrales Anliegen des Bandes. Der Bogen der Betrachtung spannt sich zunächst von Osten nach Westen, dann von Süden nach Norden und macht unterschiedliche Akzentuierungen im Amtshandeln der Gerichte sichtbar. Ryszard Kaczmarek (Kattowitz) berichtet über den Umgang der deutschen Gerichte mit den in der Deutschen Volksliste (DVL) erfassten, wehrpflichtigen fahnenflüchtigen Oberschlesiern, „Polen in Wehrmachtuniform“. Ihm folgen Ausführungen Christoph Brülls (Lüttich) über das Wirken der Wehrmachtjustiz in Belgien, Gaël Eismanns (Caen) zu Frankreich, Kerstin von Lingens (Heidelberg) zu Italien und Magnus Kochs (Hamburg), der eine Projektskizze zu Norwegen vorstellt. „Alle Autorinnen und Autoren gehen in ihren Beiträgen auch darauf ein, was mit den europäischen Opfern der NS-Militärjustiz geschah, wenn sie nicht nur der Militärjustiz der Besatzer überantwortet wurden, sondern auch dem Strafvollzug. Sie berichten, in welche Zuchthäuser und Gefängnisse sie verbracht wurden, ob sie in ihrer Heimat verblieben oder ihre Strafe im Deutschen Reich verbüßen mussten“ (S. 18).

 

Wie sich Wehrmachtjustiz und Strafvollzug in der Praxis darstellten, analysieren die sechs recht heterogenen Beiträge des abschließenden dritten Abschnitts. Kerstin Theis (Passau) stellt die Aufgaben und den Alltag der Ersatzheer-Gerichte dar. Diese bemühten sich vor allem um die Aufrechterhaltung des Ansehens der Wehrmacht und agierten „keineswegs willkürlich, sondern rückgekoppelt an die bestehenden Rechtsnormen und Verordnungen sowie innerhalb der personal, situativ und lokal geprägten Kontexte, die ein Bündel an Faktoren für den Ausgang eines Verfahrens bedeuteten“ (S. 180). Die vorhandenen Handlungsspielräume der Wehrmachtrichter, die auch in Claudia Bades (Neuengamme) kleiner Studie zum Gericht des Kommandanten von Groß-Paris sichtbar werden, versucht Albrecht Kirschner (Marburg) auszumessen, während Detlef Garbe (Neuengamme) die Verfahren des von Kriegsbeginn bis zum September 1944 exklusiv zuständigen Reichskriegsgerichts gegen Zeugen Jehovas und andere religiös motivierte Kriegsdienstverweigerer in den Fokus seiner Betrachtung stellt. Ein trauriges Kapitel in der Geschichte des Strafvollzugs bilden die inferioren Lebens- und Gesundheitsbedingungen in den Feldstrafgefangenenabteilungen der Wehrmacht, wo, wie Peter Steinkamp (Ulm) anhand zeitgenössischer medizinischer Berichte zeigt, Gefangene Hungers verstarben. Die Vorgänge in den Feldstraflagern waren nach dem Krieg Gegenstand gerichtlicher Ermittlungen in Ost- und Westdeutschland mit einem entsprechenden Aktenanfall; Lars Skowronski (Landsberg bei Halle/Saale) plädiert dafür, diesen wichtigen und aussagekräftigen Sekundärquellen in Ergänzung der Primärüberlieferung die angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

 

Das breite Spektrum der hier sichtbar werdenden methodischen wie inhaltlichen Ansätze lässt erahnen, dass die genaue Erforschung der NS-Militärjustiz noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Claudia Bade benennt als wesentliche Desiderate „Arbeiten zur theoretischen Verortung der Wehrmachtjustiz und den ihr zugeschriebenen Funktionen, zur Tätigkeit und Spruchpraxis der NS-Militärjustiz in anderen als den hier beschriebenen Ländern, zu verschiedenen Akteursgruppen und weiteren Formationen des Strafvollzugs – oder auch eine stärker vergleichende Forschung, die sich mit der Spruchpraxis und der institutionellen Verortung anderer Kriegsgerichtsbarkeiten in anderen Ländern oder zu anderen Zeiten beschäftigt“ (S. 21). Gerade Letzteres hat auch der Rezensent schon mehrfach moniert und sieht sich, was den vorliegenden Sammelband mit seiner Ankündigung einer europäischen Dimension im Untertitel angeht, leider wieder enttäuscht. Die Internationalisierung der Fragestellung beschränkt sich nämlich ausschließlich auf die Analyse der Spielarten der Wehrmachtjustiz auf unterschiedlichen Territorien und führt damit lediglich zu einem differenzierten inneren Verständnis der Institution. Die für die Bestimmung ihres Wesens unerlässliche Frage nach ihrer Spezifik aber lässt sich adäquat nur in komparativer Betrachtung beispielsweise der parallel existierenden Militärrechtsordnungen anderer kriegführender Mächte des Zweiten Weltkriegs stellen. Warum dies nicht in einem einzigen Beitrag dieses mit einem Literatur-, einem Abkürzungs- und einem Autorenverzeichnis ausgestatteten Sammelbandes geschieht, ist nicht wirklich zu verstehen.

 

Kapfenberg                                                  Werner Augustinovic